Kraftwerk

Damals extrem futurisch, heute Allgemeingut

Kraftwerk bei ihrem Konzert in der Neuen Nationalgalerie Berlin
Kraftwerk bei ihrem Konzert in der Neuen Nationalgalerie Berlin © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Uwe Schütte im Gespräch mit Oliver Schwesig |
Kraftwerk sind Elektro-Pioniere, Kunst-Visionäre, Legende – und und und. Ein Sammelband vereinigt Dutzende von Beiträgen, die dem Phänomen auf den Grund gehen. Herausgeber Uwe Schütte sagt, Kraftwerk sei "ganz stark in der Selbstmythologisierung".
Quasi am Reißbrett hat Kraftwerk ein Band-Kunstwerk geschaffen, das bis heute einmalig ist. Kraftwerk hat maßgeblich die Popularmusik geprägt; das ganze Genre des Techno beispielweise ist ohne Kraftwerk undenkbar.
Dutzendfach wurden sie schon analysiert zwischen Buchdeckeln, und trotzdem ist der Kosmos von Kraftwerk so vielfältig und voll, dass man immer wieder Neues entdecken kann. Zum Beispiel bei der Lektüre des neuen Bandes "Mensch Maschinen Musik: Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk", den der Kulturwissenschaftler Uwe Schütte herausgegeben hat. Darin versammelt sind Dutzende Artikel von Musikern, Journalisten und Wissenschaftlern, die dem Phänomen Kraftwerk auf den Grund gehen.

Einfach, aber ambivalent

Einer der Begriffe, die in dem Buch immer wieder auftaucht, ist das Ambivalenzprinzip. Die Optik der Cover, der Videos und die Musik – alles immer einfach und klar erfassbar. Trotzdem ist alles mehrdeutig und die Band selbst hat ja auch nie Sachen konkret erklärt.
"Das genau macht auch den Reiz aus und auch für mich das Interesse, mich nicht nur im Fan-Sinne mit der Band zu beschäftigen, sondern durch zwei Konferenzen der ganzen Sache etwas wissenschaftlicher auf den Grund zu gehen", sagte Herausgeber Uwe Schütte. Was Kraftwerk definitiv gelungen sei:
"Mit ihrer Musik, die sie ja 'industrielle Volksmusik' genannt haben, und das war ja in der Tat ein ganz neues Konzept, eine ganz neue Idee für die 68er-Generation, einen Neuanfang zu setzen, nicht nur musikalisch, sondern auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur."

Was war der Retro-Futurismus?

Zum Begriff des für Kraftwerk zentralen "Retro-Futurismus" erläuterte Schütte:
"Wenn man Anfang der 70er-Jahre eine andere und selbstverständlich bessere Zukunft für Deutschland sich vorstellen wollte, entwerfen wollte, musste man zurückgreifen – eben nicht auf die Nazizeit – auf die 20er-Jahre, den Expressionismus, Fritz Langs 'Metropolis', das Bauhaus als Form einer Gesamtkunstwerkbewegung ... Aus diesen Quellen haben Kraftwerk ihr Kunstprinzip gespeist und sich Ideen gesucht, um dann tatsächlich mit futuristischen Mitteln – mit Computern, mit Maschinen, mit elektronischen Musikinstrumenten – eine Musik zu machen, die damals extrem futurisch klang und die heute zum Allgemeingut geworden ist."
Der Umgang mit dieser Art von Musikinstrumenten sei völlig neu gewesen:
"Man musste da eben auch tatsächlich basteln, experimentieren, rumfummeln. Man hat die Maschinen auch selber laufen lassen: 'Mal gucken, was dabei rauskommt.' Natürlich gehört so eine Aussage auch zur Selbstmythologisierung, auch da sind Kraftwerk natürlich ganz stark. Die Band sagt entweder gar nichts Konkretes oder sie äußert ein paar irreführenden Bemerkungen, um sich nicht in die Karten schauen zu lassen."

Das eigene Werk kuratieren

In den 80er-Jahren habe Kraftwerk das Problem gehabt, dass die Zukunft, die sie musikalisch beschworen hatten, tatsächlich zur Gegenwart wurde. Als in England und überall auf der Welt sich die elektronische Musik durchgesetzt und in unerwartete Verzweigungen ausgeweitet habe – "da war es dann sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, noch als Avantgarde, als Vorreiter der Bewegung zu agieren."
Deswegen habe es, meint Uwe Schütte, von Kraftwerk eine Art Kehrtwende vom Futurismus zurück zum Retro gegeben:
"Man hat sich seit den frühen 90ern hauptsächlich damit beschäftigt, das eigene Werk zu kuratieren und aber mit den allerneuesten technischen Möglichkeiten neu zu spielen."

Uwe Schütte (Herausgeber): Mensch Maschinen Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk
C.W. Leske Verlag, Düsseldorf 2018
366 Seiten, 24,90 Euro

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