Als Seuchen noch das Beten lehrten
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Wenn im Mittelalter und in früher Neuzeit eine Seuche über die Menschen kam, hieß es: Das ist eine Strafe Gottes. Irrational aus heutiger Sicht, aber zwangsläufig und damals sogar manchmal auch heilsam, sagt Medizinhistorikerin Martina King.
Kirsten Dietrich: Aids ist das Thema dieser Sendung, 40 Jahre nach der ersten Diagnostizierung dieser Krankheit. Ich möchte jetzt gerne noch einen Gedanken aufgreifen und vertiefen, der im Laufe der Sendung immer wieder mal angeklungen ist, immer dann nämlich, wenn von Aids als Strafe für ein sündiges Leben die Rede war, als Strafe Gottes gar.
Was steckt dahinter, wenn Krankheiten als Strafe Gottes verstanden werden? Dazu möchte ich jetzt einen Blick in die Medizingeschichte werfen – von Pest bis COVID-19 sozusagen –, und meine Gesprächspartnerin dafür ist die Literaturwissenschaftlerin, Medizinhistorikerin und Medizinerin Martina King. Sie lehrt Medical Humanities an der Universität Fribourg in der Schweiz. Schön, dass Sie Zeit haben, Frau King!
Martina King: Guten Tag!
Dietrich: Aids wurde am Anfang als "Lustseuche" beschrieben, die Krankheit ganz eng mit gelebter Homosexualität verknüpft. Da macht eigentlich schon die Wortwahl klar, dass hier Krankheit und Schuld beziehungsweise Sünde verbunden werden, oder?
King: Klar. Aber da gibt’s natürlich immer Vorläufer. Wenn so etwas gesagt wird und dann auch von einer Gesellschaft oder Kultur akzeptiert wird – ist ja wahnsinnig belastet, "Lustseuche" zu sagen –, dann kann man davon ausgehen, dass das nicht das erste Mal ist, dass so eine Vokabel fällt, und in dem Fall ist das Modell die Syphilis.
Dietrich: Die Syphilis, die eben auch eine Geschlechtskrankheit ist oder auf jeden Fall durch Sexualität übertragen wird.
King: Genau, und das ist jetzt die klassisch sexuell übertragbare Krankheit, die eine lange, lange Geschichte hat, bis ins Jahr 1496 zurückgeht und die sozusagen der Klassiker der Lustseuche ist: mal moralisiert, mal entmoralisiert, aber die ganz lange Zeit, vor allem im 19. Jahrhundert, dazu diente, auch Frauen sehr stark zu kulpabilisieren, Prostituierte zu kulpabilisieren. Und ich denke, dass das im Falle von Aids nur deshalb so gut geklappt hat, Lustseuche zu sagen, um damit eine Minorität zu stigmatisieren, weil es eben einfach so etwas wie ein eingelernter kultureller Habitus ist. Man hatte es ein bisschen vergessen, aber es ist im kulturellen Gedächtnis verankert.
Erst mit der Säkularisierung sind andere Deutungen möglich
Dietrich: Sie forschen ja dazu, wie Ansteckungen und Infektionen sich im Laufe der Geschichte kulturell ausgedrückt haben und wahrgenommen wurden. Bei der Frage nach der Schuld würde ich gerne anfangen und danach fragen, ob es eigentlich sündige und nicht sündige Seuchen gibt. Also nach welchen Kriterien entscheidet sich, ob Menschen bei einer ansteckenden, alle betreffenden Krankheit mit ihrem Verhalten verantwortlich gemacht werden oder nicht?
King: Ich glaube, das entscheidet sich nicht an der Krankheit, sondern das entscheidet sich an der Gesellschaft und vor allem eigentlich historisch. Sie müssen grundsätzlich unterscheiden zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften. Vormoderne Gesellschaften hatten aufgrund ihrer Strukturen, aufgrund auch ihres Wissensbegriffs und ihrer grundsätzlichen sozialen und theologischen Autorität beziehungsweise der – ich rede jetzt von vormodernen europäischen Staaten – noch nicht erfolgten Trennung von Staat und Kirche letzten Endes gar keine andere Möglichkeit, als eine Seuche oder eine epidemische Welle als Strafe Gottes zu deuten.
Wenn da die Pest anrollt und es stirbt mal eben ein Viertel der europäischen Bevölkerung, dann hat man ja einen ganz hohen Deutungsbedarf. Es gibt eigentlich keine Kriterien, welche Krankheit eine solche Deutung einlädt, sondern es gibt das Kriterium vormoderner Staat, der ein theologisches Weltbild hat und keinerlei Wissenschaft in modernem Sinn – das ist auch gar nicht möglich. Eine religiöse Deutung: Eine Epidemie oder Seuche ist Strafe Gottes, weil die Menschen sündig sind, weil die Menschen ohnehin sozusagen der Erbsünde anheimgefallen sind – eine andere Deutung ist schlicht unmöglich, alternativlos.
Wir leben ja in den letzten, sagen wir, 500 Jahren in einem Prozess der irreversiblen Säkularisierung. Je weiter die Säkularisierung fortschreitet, die Trennung von Staat und Kirche vollzogen wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass dann Seuchen noch einem vollkommen religiösen Deutungsmuster unterworfen werden. Es ist einfach eine Frage des geschichtlichen Prozesses, den man in dem Fall wirklich unter der Lupe der Säkularisierung anschauen muss.
Es gab keine Heilung
Dietrich: Das heißt, der Rückgang von religiöser Weltdeutung ist entscheidender dafür, wie eine Krankheit oder ob eine Krankheit als Strafe Gottes wahrgenommen wird, als die Frage danach, ob diese Krankheit heilbar ist oder nicht.
King: Ja, absolut, würde ich schon sagen. Und die beiden Dinge gehen ja ziemlich Hand in Hand. Man muss sich, glaube ich, auch klarmachen, dass das, was im Mittelalter, in der frühen Neuzeit und in der späteren frühen Neuzeit, also bis in die Aufklärung, bis ins 19. Jahrhundert, als Seuche wahrgenommen wird, grundsätzlich und unter keinen Umständen heilbar ist – keine der großen Seuchen. Damit meine ich, dass diese Erkrankungen ihre volle Letalität entfalten, die zwischen 20 Prozent bei Pocken und 100 Prozent bei Lungenpest liegt. Wir reden immer von tödlichen Erkrankungen.
Was die Ärzte machen, ist – muss man leider so sagen – vollkommen irrelevant. Allenfalls Quarantänemaßnahmen wirken. Je weiter die Pestwellen fortschreiten, desto klarer ist dann schon, dass Quarantäne ein sinnvolles Instrument ist. Und wenn Quarantänemaßnahmen gerade bei fliegenden Infektionen sinnvoll eingesetzt werden, dann sieht man schon, dass man damit die Ansteckung eindämmen kann. Aber heilbar, also von Heilbarkeit kann man nicht sprechen. Heilbarkeit setzt mit den Antibiotika ein, das ist nach dem Zweiten Weltkrieg. Und wie wir jetzt gerade erleben, ist es mit den viralen Seuchen ohnehin nicht so weit her mit der Heilbarkeit.
Pogrome als Reaktionen auf die Pest
Dietrich: Was bedeutet das denn für den Umgang mit einer Epidemie, die man nicht heilen kann, also wo auch das Sich-der-Gottheit-Zuwenden eigentlich gar keinen Erfolg haben kann? Was bedeutet das dann, wenn diese Seuche wahrgenommen worden ist als etwas, was mit Göttlichem in Verbindung steht – hat das den Umgang damit erleichtert oder hat das einen sinnvollen Umgang blockiert?
King: Das ist eine schwierige, berechtigte, komplexe Frage, die man dann historisch adaptieren muss, weil man sich fragen muss, was ist denn ein sinnvoller Umgang. Aus heutiger Sicht ist sinnvoll natürlich die Erkenntnis von Ansteckung und Quarantäne und Infektionsvermeidung. Sinnvoll kann aber zum Beispiel auch die Integration von Gesellschaften sein. Die Pest ist da ein gutes Beispiel, denn die Pest konnte natürlich nur religiös gedeutet werden. Und da gibt es sowohl den nicht sinnvollen Umgang als auch eine große Integrationskraft. Der nicht sinnvolle Umgang ist das, was heute kulturell meist gewusst wird: Die religiöse Deutung führte zu massiven Judenpogromen und ganz schrecklichen Dingen. Das nur so zu sehen, ist aber eine Verkürzung, da die Judenpogrome vom Klerus ausgingen und im Grunde genommen schon vorher angedacht waren. Das hatte komplexe sozialpolitische Hintergründe, Hungersnöte, man brauchte einen Sündenbock, und da kam die Pest gerade recht. Und das sind natürlich ganz, ganz furchtbare Auswüchse, es ist aber gar nicht der Kern der religiösen Pestdeutung.
Die religiöse Pestdeutung ist eigentlich eine organisierte Frömmigkeit, die wahnsinnige Ausmaße annimmt. Man hatte auch wirklich gar keine andere Möglichkeit – ganze Dörfer werden ausradiert und so – und da gibt es im 15., 16., 17. Jahrhundert diese Wellen von erst mal kollektiven Gebeten, Massenprozessionen, Litaneien, und dann, wenn die jeweilige Pestwelle vorbei ist, große Dankesgottesdienste, die richtige Freudenfeiern waren. Wenn ich Ebola-Bilder sehe, zum Beispiel aus dem Jahr 2014, als die Epidemie vorbei war und die Leute jubelnd auf die Straße gingen und sich weiße Gesichter angemalt haben, die ihren Stammesvorstellungen entsprechen, dann sind das sehr ähnliche Bilder. Es ist auch religiös überformt und auch ein jubelnder Dankgottesdienst – so muss man sich das nach den Pestwellen vorstellen. Ich denke, die Integration dieser sehr, sehr brutalen Gesellschaften durch Pest ist etwas, was man nicht unterschätzen darf.
Die verklärte Krankheit Tuberkulose
Dietrich: Das ist tatsächlich wahrscheinlich eine Form der Deutung, die heute schwerer fällt. Dass man keine Wahl hat, als eine Krankheit als Strafe Gottes zu verstehen, das leuchtet jedem ein, mit dem Gedanken: Die Menschen früher wussten es einfach nicht besser. Gibt es eigentlich auch das Gegenteil, dass man eine Krankheit direkt ohne diesen Strafaspekt so verstanden hat, dass sie einen vielleicht näher zu Gott führt?
King: Da gibt es schon ein historisches Phänomen. Mir ist wirklich wichtig, dass man sich klarmacht: Das sind einfach unterschiedliche Epochen. Die Pest, das ist wirklich die Krankheit des Mittelalters und der frühen Neuzeit, und es sind einfach verheerende Lebensumstände, die wir uns nicht mehr vorstellen können. Bei Syphilis, als sie zum ersten Mal auftaucht, ist es ganz genauso. Die Krankheit, die man am ehesten mit dem Gegenteil in Verbindung bringen könnte, ist eine, die eine ganz andere Couleur hat und eigentlich auch sehr viel später erst eine Rolle spielt, nämlich im 19. Jahrhundert, das ist die Tuberkulose.
Die Tuberkulose ist auch deswegen geeignet, stilisiert zu werden, weil sie zumindest vor dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht in großen Seuchenzügen über die vormodernen oder frühmodernen Gesellschaften hinwegzieht, sondern doch eher eine Einzelkrankheit ist. Obwohl sie ansteckend ist und sich natürlich im späten 19. Jahrhundert dann in der Industrialisierung, in den Elendsvierteln auch massenhaft ausbreitet – dann wird es auch anders gedeutet –, aber sie gewinnt eine gewisse demoskopische Bedeutung schon, sagen wir Ende des 18. Jahrhunderts. Und da fällt auf, dass eine ganze Reihe Hoffnungsträger im intellektuellen Feld, sehr jung an Tuberkulose sterben. Als sich gerade der Dichtungsbetrieb zu formieren beginnt, stirbt Novalis, stirbt in England Keats, später Shelley, alle sterben an Tuberkulose. Da entsteht ein großer Deutungsbedarf, weil man natürlich seine Dichter nicht so gerne mit 25 irgendwie dahinschwinden sieht.
Und die Tuberkulose ist nicht hässlich. Keiner hat Pusteln auf der Haut, sondern die Betroffenen werden immer dünner, immer blasser, und am Ende haben sie allenfalls einen Faden Blut im Mundwinkel, zumindest werden sie so dargestellt. Das heißt, sie haben keinerlei äußerliche Ekelstigmata wie diese klassischen mittelalterlichen Seuchen. Und das Ergebnis ist, dass man das Schwinden der Schwindsucht, das Schwinden des Körperlichen verknüpft mit einer erhöhten geistigen Sensibilität – was tatsächlich wissenschaftlich nicht beweisbar ist. Das ist eine Fiktion, ein Mythos, der sich durchs ganze 19. Jahrhundert, selbst durch die wissenschaftlichen Publikationen zieht, da sind wir ganz nah an der Kunstreligion.
Dietrich: Krankheiten als Strafe Gottes, vielleicht ganz gut, dass diese Deutung heute nicht mehr ganz so leicht über die Lippen geht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.