Krankheit

Lieben heißt Pflegen

Ein Rollstuhl steht in einer Grünanlage.
Ein Rollstuhl steht in einer Grünanlage. © picture alliance / dpa / Karl-Heinz Spremberg
Von Fredy Gareis |
Pflege ist Frauensache? Nicht ganz. Inzwischen pflegen 1,5 Millionen Männer die eigene Frau oder Mutter. Ingo Dahmer lebt gemeinsam mit Frau und Kindern in Dortmund. Mit gerade mal 38 Jahren erlitt seine Frau einen schweren Schlaganfall.
Um acht Uhr morgens befestigt Ingo den Karabiner des Deckenkrans an der Tragematte, die unter seiner Frau liegt, betätigt den Schalter und sieht zu wie der Kran Christine langsam aber stetig aus dem Rollstuhl hebt und hinüber zum Bett trägt.
Vorsichtig lässt er seine Frau ab, lässt sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Und bleibt auch am Bett stehen, als die Physiotherapeutin Steffi wenig später versucht Christines Spastiken zu lockern.
Ingos kräftige Hand nimmt die verkrampfte von Christine und streichelt sie. Dabei blickt er ihr liebevoll in die Augen.
An der Wand hängen die Bilder aus vergangenen Zeiten – sie zeigen Christine Dahmer lächelnd im Kreis ihrer Kinder, spazierend und eisessend.
Das war vor fünf Jahren, kurz vor Christines 38. Geburtstag. Bis dahin waren die Dahmers eine ganz normale Familie mit vier Kindern, inklusive klassischer Rollenteilung. Dann, von einer Sekunde auf die andere, war plötzlich alles anders.
Kimberly, die alle nur Kimi nennen, steht im Türrahmen und schaut bei der Therapie zu. Zum Zeitpunkt des Schlaganfalls war sie neun Jahre alt.
"Wir lagen im Bett und Jona war ja erst zwei und meine Mama, die hatte ja auch Pflegekinder und die hatte im Schrank so ein Reisebett und meine kleine Schwester brauchte ja immer so ein Schnuffeltuch und ich habe mich mit dem Gesicht zur Wand gelegt und mit dem Rücken zur Tür und wollte schon mal schlafen und dann habe ich nur noch einen Knall gehört - aber habe gedacht, dass meine Mama nur das Schnuffeltuch für meine Schwester aus dem Schrank holen wollte und die Tür ein bisschen geknallt hat oder das Reisebett beim runterstellen, aber dann habe ich nur noch gehört wie Papa nach hinten gerannt gekommen ist und meinte mein Bruder soll den Krankenwagen rufen."
Nur noch minimales Bewusstsein
Seitdem liegt die heute 44-jährige im Wachkoma. Durch den Schlaganfall wurde ihr Gehirn so stark beschädigt, dass man nur noch von einem minimalen Bewusstsein sprechen kann.
Christine nimmt Dinge um sich herum wahr. Das weiß und spürt auch Steffi, die sich freut, dass ihre Patientin zum Ende der Behandlung immer lockerer wird. Nebenbei erzählt Ingo, wie er die ersten Wochen erlebt hat. Jene Zeit, in der es nur darum ging, irgendwie zu funktionieren. Die Kinder hat er damals erstmal zur Tante gebracht, sie sahen ihre Mutter erst nach zwei Monaten wieder.
"Klar waren die ersten Wochen natürlich, als Christine im Krankenhaus lag, als es um Leben und Tod ging, als die Nachricht kam sie wird ein Schwerstpflegefall bleiben und so weiter, das war natürlich eine Katastrophe und da hab ich mit Sicherheit stundenlang geheult und gemacht und getan und wusste gar nicht, wie mir passiert und wie es weiter gehen soll und es kommt aber irgendwann der Punkt wo man da raus ist."
Nach mehreren Schädeloperationen kommt Christine in eine Rehaklinik im Sauerland. Und Ingo muss entscheiden, wie es danach weitergeht.
"Und dann stand für mich die Frage im Raum was nach der Reha? Ich hatte mir da schon vorher Gedanken gemacht und für mich war eigentlich sowieso klar, dass sie nach Hause kommt, ich wusste damals einfach noch nicht, wie das alles von statten gehen soll und wie wir das hinkriegen."
"Weil die meisten mir das nicht zugetraut haben"
Ingo arbeitet damals als Radio- und Fernsehtechniker. Haushalt und Kinder sind das Terrain seiner Frau. Ein Pflegeheim für seine schwerstbehinderte Frau wäre sicher die einfachere Lösung, aber für Ingo auf keinen Fall die beste. Mit dieser Meinung steht er anfangs ziemlich allein da.
"Klar, auch der gesamte Freundes und Bekanntenkreis hat sich natürlich auch Gedanken gemacht, auch Familie und als die alle gehört haben, dass ich meine Frau nach Hause holen will, um sie zu pflegen, haben natürlich viele die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil natürlich die meisten mich nur als Nichthausmann, arbeitender Familienvater kannten und mir das wahrscheinlich auch nicht zugetraut haben."
Pflege zu Hause ist immer noch eine Frauendomäne. Auch wenn sich das langsam ändert, immer mehr Männer in Deutschland ihre Frau oder ihre Mutter pflegen. Die meisten von ihnen sind aber im Rentenalter. Fälle, wie der von Ingo, sind eher selten. Die Bereitschaft und der Wille, den Job für die Pflege aufzugeben und in die vermeintlich schwächere Rolle eines Pflegenden zu schlüpfen, sind eher gering.
Steffi, Christines Physiotherapeutin, kommt nun schon seit über zwei Jahren zu den Dahmers. Sie bemerkt jede noch so kleine Veränderung in Christines Zustand, und bekommt naturgemäß auch mit, wie Ingo mit seiner neuen Rolle klarkommt:
"Also der meistert das wirklich sehr gut, der probiert alles rauszuholen, was man rausholen kann, sag ich mal für seine Frau, muss ich echt sagen. Na, warum lachst du jetzt? Guck mal hast du gesehen? Stimmt das nicht? Klar stimmt das!"
Alles auf den Kopf gestellt
In der Küche läuft die Kaffeemaschine auf Hochtouren; Ingos 25-jährige Tochter Janine, die mit ihren beiden Kindern zu Besuch ist, stellt Brötchen auf den Tisch, Aufschnitt und Käse.
Ingo fährt seine Frau im Rollstuhl ins Wohnzimmer und wendet ihn, damit Christine in Richtung Esstisch blickt. Aus der Küche holt er dann eine Flasche mit Sondenkost und verbindet sie mit einem Schlauch, der in Christines Magen führt.
Dreimal 500 Kalorien bekommt Christine am Tag. Ingo sagt, sie mache zwar Fortschritte, für feste Nahrung aber langt es bei weitem noch nicht. Bei den vielen OPs wurden Christine auch die Zähne entfernt. Bald aber soll sie neue bekommen.
Die Erwachsenen schmieren sich Brötchen, belegen sie mit Wurst und Käse – Janines Kinder krabbeln am Rollstuhl auf Christine hinauf, kuscheln sich an sie, geben ihr Küsschen auf die Wange. Ein Lächeln lässt sich auf ihrem Gesicht dabei nicht erkennen, aber aus ihrem immer leicht geöffneten Mund dringt ein leises, zufriedenes Stöhnen.
An der Wand gegenüber hängt ein überlebensgroßes Porträt von Christine, aufgenommen kurz vor ihrem 38. Geburtstag, kurz vor dem Schlaganfall. Es zeigt eine Frau in weißer Bluse mit wallenden Korkenzieherlocken und einem strahlenden Lachen.
Janine legt ihr Brötchen zur Seite und erinnert sich, wie aus ihrer strahlenden, alles stemmenden Mutter plötzlich ein Pflegefall und damit alles zu Hause auf den Kopf gestellt wurde.
"Seit ich denken kann ist Papa morgens zur Arbeit gefahren und abends wiedergekommen, am Wochenende war er halt da und Mama hat immer alles gemacht was Kinder und Haushalt angeht, das war so die typische Rollenverteilung, das hat auch super geklappt und dann ja, dann musste Papa von heute auf morgen, zu dem Zeitpunkt noch drei Kinder, da war mein Bruder auch noch zu Hause, ja Mama im Krankenhaus, den Haushalt, er musste ja auf einmal alles machen und ich habe am Anfang ihm oft gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann, dass er das schafft."
Nimmt für die Pflege die Arbeitslosigkeit in Kauf
Ingos eigene Tochter ist skeptisch, dass er es schafft. Trotzdem sagt er sich: Ich mach das jetzt einfach. Und nimmt für die Pflege seiner Frau die Arbeitslosigkeit in Kauf. Von dieser Entscheidung wird ihm selbst noch auf dem Amt abgeraten.
"Für mich war der Schritt allgemein sehr schwer, Hartz IV zu beantragen, weil ich jemand war, der immer gearbeitet hat auch jemand war, der auf die anderen, die faul zu Hause sitzen und Hartz IV beziehen, geschimpft hat. Dass ich jetzt selbst in so einer Situation war, war eine schwierige Angelegenheit, dazu kommt dann das auf der ARGE das die Leute da nicht so sind wie man sie gerne hätte, also der erste Sachbearbeiter, dem ich begegnet bin hat mir gesagt, ich könnte doch meine Frau ins Pflegeheim geben, dann könnte ich wieder arbeiten gehen."
Es ist viel, was da auf den jungen Familienvater einstürzt. Den Entschluss hat er zwar schnell gefasst, doch wie soll das in der Praxis alles funktionieren? Wie soll er die Pflege finanzieren? Wie sich anständig um die Kinder kümmern, um seine Frau, und dann noch um sich selbst?
Am Anfang sind da noch die ganzen Versprechen von Freunden, immer da zu sein und zu helfen. Doch die, sagt auch Steffi, die jetzt in der Tür steht, um sich zu verabschieden – werden mit der Zeit immer leiser.
"Da gehen auch Freundschaften daran kaputt. Und das finde ich einfach sehr schade, man kennt die Frau wie sie war früher und jetzt ist es noch die gleiche Person, aber sie kann sich nicht äußern, sie kann sich nicht artikulieren, aber sie ist immer noch die gleiche Person, sie kriegt vieles mit, also wenn wir uns was erzählen, fängt sie an zu lachen, sie weiß genau Bescheid, wie jetzt gerade, dann fängt sie an zu schmunzeln, und sie kriegt alles mit und ich finde es schade, das welche sich einfach wegwenden und sagen: mach ich nicht mehr, interessiert mich nicht mehr."
Nachdem Ingo Steffi verabschiedet hat, bespricht er mit Janine, welche Einkäufe noch zu erledigen sind, wer was braucht.
Freizeit gibt es damals für ihn nicht
Als Christine damals endlich aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, ist Ingo auf sich allein gestellt. Lediglich eine Hilfe geht ihm zur Hand, drei Stunden am Freitag. In diesen drei Stunden muss er alles erledigen, was in der Woche liegen geblieben ist. Freizeit gibt es damals für ihn nicht, die Pflege ist ein 24-Stunden Job.
In dieser Zeit stößt er oft an seine Grenzen – nur sein Pragmatismus hält ihn über Wasser.
"Es ist jetzt so, ich habe doch nur zwei Möglichkeiten, entweder ich sehe das positiv und mache das Beste draus aus der Situation oder ich steck den Kopf in den Sand und geh daran zu Grunde."
Ingos Blick schwenkt jetzt zu Christine. Man muss nur wollen, sagt er, dann bekommt man auch so eine Situation in den Griff. Sein am Anfang vielleicht etwas naives Vorgehen – fünf Jahre nach dem Schlaganfall hat es sich als das Beste für alle erwiesen.
"Ich denke, das ist das Wichtigste, um normal wieder am Leben teilzunehmen, dass man im Rollstuhl sitzt und da ist, wo das Geschehen ist, wo die anderen auch sind, wenn die Kinder jetzt vormittags in der Schule sind und ich bin am Kochen, dann nehme ich sie mit in die Küche und da kann sie da ein bisschen zugucken."
Und wieder ist da dieser liebevolle Blick, der lange auf seiner Frau ruht. Er nimmt ihre Hand und drückt sie. Und bespricht nebenbei mit seiner Tochter die Termine der nächsten Tage und Wochen. Ein Urlaub im Sauerland steht an, und dann Christines große Zahn-OP.
Ständig kommt oder geht jemand, die Kaffeemaschine läuft ununterbrochen, es wird gewitzelt und gelacht. Janine sagt, so war das schon immer, früher war der Esstisch von Christine der Treffpunkt für alle Verwandten und Nachbarn. Wieso sollte es also jetzt nicht auch so sein?
Doch diese Art der selbstbestimmten Pflege kostet Geld, sehr viel Geld sogar. Darüber spricht Ingo immer wieder mit Susanne Hornberger von der Firma Proroba. Beide sitzen wenig später mit einem Kaffee am Esstisch. Christine, um die es geht, ist auch dabei.
Wie ein kleiner Betrieb
Susanne Hornberger berät Ingo bei Anträgen und der Berechnung des persönlichen Budgets. Dieses erlaubt Schwerstbehinderten sich wie ein kleiner Betrieb aufzustellen und selbstständig Betreuer oder Pfleger anzustellen. Ingo kann sich von dem Geld nicht selbst bezahlen, aber die fünf Hilfen, die er mittlerweile hat und mit denen er das Leben im Haushalt und die Pflege seiner Frau organisiert.
Träger sind unter anderen die Kranken-, die Pflegekassen und die Sozialhilfeträger. Die Anträge sind kompliziert, deswegen ist Beratung und Hilfe so wichtig. 10,5 Stunden Assistenz täglich wurden der Familie Dahmer bewilligt, das entspricht etwa 5000 Euro. Das Geld fließt auf ein Extrakonto und geht als Lohn direkt an die Assistenten. Was nicht verbraucht wird, muss zurückgezahlt werden.
Hätte Ingo 2008, nachdem er drei Jahre lang die Pflege seiner Frau alleine geschmissen hat, nicht durch Zufall von dieser Regelung erfahren, wer weiß, ob sein sozialer Abstieg nicht vorbestimmt gewesen wäre. Nach Abzug von Miete, Strom und Versicherungen bleiben ihm und seiner Familie heute gerade mal 800 Euro zum Leben.
Am nächsten Tag packt Ingo die kleine Notfalltasche, zieht seiner Frau Schuhe an und Jacke über und fährt sie sie über die Rampe des Balkons raus zu seinem Chrysler Voyager. Er öffnet das Heck und schiebt seine Frau auf die Ladefläche. Er will nichts auslassen, nur weil seine Frau im Wachkoma liegt.
"Also ich habe Christine in unter fünf Minuten am Auto befestigt und kann los fahren, dadurch kann man natürlich viel mehr machen, da kann man schon sagen, komm nur zum Einkaufen, kommste mit, zack rein ins Auto und weg."
Dabei ist der Einkauf noch der kürzeste Trip. Familie Dahmer war schon in Berlin, an die Nordsee, im letzten Jahr sogar am Balaton in Ungarn. Auf den Urlaubsbildern strahlen die Kinder und Christine sitzt mit Hilfe einer speziellen Vorrichtung im Pool.
Heute fährt ihr Mann sie zur Therapie. Regelmäßig sieht er dabei im Rückspiegel nach seiner Frau, die hat den Kopf zur Seite geneigt und blickt aus dem Fenster. Christine scheint zu beobachten, wie die Wiesen und Felder draußen vorbeifliegen.
"Männer sind besser organisiert als Frauen"
Über den Kunststoffboden schiebt Ingo wenig später den Rollstuhl in das Behandlungszimmer, Christines Therapeutin Katharina ist noch nicht da. Er zieht seiner Frau die Jacke aus, dann beugt er sich hinunter, greift mit einem Arm unter ihre Beine, mit dem anderen hinter ihren Rücken und hebt sie aus dem Rollstuhl. Vorsichtig trägt er sie rüber zum Behandlungstisch, legt sie ab und streicht ihr die Haare aus dem Gesicht.
Die Therapeutin betritt das Zimmer, begrüßt die Beiden wie alte Freunde und beginnt damit, Christines Arm- und Nackenmuskeln zu entspannen. Schließlich arbeitet sie mit Christine daran, immer wieder den Mund zu schließen, was ihr letztlich dabei helfen soll, endlich etwas anderes als die tägliche Sondenkost zu sich zu nehmen.
Ingo hebt seine Frau immer selbst aus dem Rollstuhl. Daran kann auch die Therapeutin nichts ändern. Das sei halt so ein klassischer Unterschied zwischen Männern und Frauen bei der Pflege, sagt sie. Und nicht der einzige.
"Aus meiner Sicht könnten sich manche Frauen, die ihren Ehemann oder ihren Partner pflegen von den Männern eine Scheibe abschneiden, Männer sind - meine ich - besser organisiert als Frauen und in vielen Sachen gelassener, was bei Frauen wiederum mehr Richtung Aufopferung geht, bis die wirklich nicht mehr können."
Während Katharina die steifen Muskeln von Christine knetet und massiert, witzelt sie mit Ingo über Strafzettel, die immer noch an Christine gehen, da der Wagen auf ihren Namen zugelassen ist. Christine gibt dazu einen Laut von sich, den Ingo als Lachen interpretiert.
"So eine Pflegesituation ist immer ein Spiegel dessen, was früher in der Beziehung abgelaufen ist, wenn die Beziehung früher schon gut war, dann ist die Pflege hinterher für beide Seiten relativ leicht gegenüber dem, wenn die Beziehung vorher nicht stimmte."
An die Situation zu Hause gewöhnt
Wieder zu Hause hat Ingo nur kurz Zeit, um seine Frau an den Esstisch zu schieben, dann muss er sich um das Essen für seine beiden Kinder Jona und Kimi kümmern. Ruckzuck schon stehen Tortellini mit Sahnesauce auf dem Tisch, auf die sich die die kleine Jona und die 14-jährige Kimberly stürzen. Ihre Mutter blickt auf die Szene am Tisch. Ab und zu stöhnt sie leise. Vor allem, als Jona ihr einen Witz erzählt – immer denselben.
"Ein Auge und ein Fuß sitzen auf einer Wiese. Das Auge sagt, ich gehe. Der Fuß sagt, das will ich sehen. Weil ein Auge ja gar keine Füße hat und der Fuß ist ja ein Fuß."
Mittlerweile haben sich alle Familienmitglieder an die Situation zu Hause gewöhnt, sagen sie. Dennoch passiert es den Kindern gelegentlich, dass sie ihre Mutter, wie sie einmal war, vermissen.
"Ja, damals war es leichter, morgens vor der Schule, Mama hat dir schon das Brot geschmiert, dann bist du nachmittags mit ihr einkaufen gegangen und das ist auch so was ich am meisten vermissen, und da habe ich auch noch heute viel mit zu kämpfen, dass ich auch abends manchmal im Bett liege und manchmal weine, weil das halt nicht mehr so ist, aber am Anfang war das ganz schlimm, aber mittlerweile gehts...besser."
Nach dem Mittagessen. Ingo legt Christine auf das Bett im Pflegezimmer, zieht ihr die Hose aus und wechselt ihr die Windel. Währenddessen tanzt die 8-jährie Jona um ihn herum und beschwert sich über Papas Modegeschmack.
Nachdem die Hosenfrage geklärt und die Route zur Eisdiele und zurück festgelegt ist, schiebt Ingo seine Frau aus der Wohnung, und direkt in die Einkaufsstraße von Dortmund-Wickede. Hier sind die Dahmers kurz nach Christines Schlaganfall hingezogen. Anfangs, erzählt Ingo, wussten ihre neuen Nachbarn nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten und haben oft die Straßenseite gewechselt. Das, so Ingo, tun sie heute nicht mehr.
Selbsthilfeforum in der Nachbarschaft
Obwohl es mild ist, bläst ein heftiger Wind durch die Straßen und Ingo zieht den Reißverschluss von Christines Jacke bis unters Kinn zu.
Auf ihrem Spaziergang kommen die drei vorbei an einem alten Bauernhof. So etwas könnte er sich gut als Alterssitz vorstellen. Alles schön ebenerdig, am besten noch an der Ostsee. Nur: Als Hartz IV Empfänger nahezu unmöglich.
Über einen kleinen Fußweg erreichen Ingo, Christine und Jona einen Spielplatz eingerahmt von vierstöckigen Häusern. Hier in einem der Dachgeschosse wohnten die Dahmers früher, hier erlitt Christine ihren Schlaganfall.
Jona rennt sofort mit ihrem Eis in der Hand zu der Schaukel; ihr Vater erinnert sich daran, wie er unmittelbar nach dem Schlaganfall seiner Frau immer wieder unbewusst den Parkplatz vor der alten Wohnung angesteuert hat.
Um ein Ventil für seine Gedanken, seine Fragen und Probleme zu finden, schließt er sich einem Selbsthilfeforum an. Dabei stellt er fest, dass er nicht allein ist. In unmittelbarer Nachbarschaft trifft er einen Freund aus Schulzeiten wieder, dessen Frau das gleiche widerfahren ist. Nun gehen sie ab und zu ein Bier trinken, tauschen sich aus.
"Oft geht es bei uns mehr um technische Sachen, wie kann man den Rollstuhl bisschen besser frisieren, was weiß ich, äh das ist vielleicht ein Thema was Männer öfter ansprechen oder auch mal den Rollstuhl umbauen, damit er besser ins Auto passt oder irgendwelche Hilfsmittel anpassen, was bei Frauen vielleicht nicht unbedingt so ist."
Wieder zuhause schiebt Ingo Christine vor den Fernseher, eine Tierdoku läuft. Ingo sagt, er könne an ihrer Mimik ganz gut deuten, was Christine gefällt und schätzt, dass seine Trefferquote bei 90 Prozent liegt.
"Wir sind jetzt 26 Jahre verheiratet und wir haben eigentlich von 26 Jahren 25,9 Jahre ne gute Beziehung gehabt, das ist natürlich tiefe Liebe, die in der Zeit auch gewachsen ist, das kann auch so ein Schicksalsschlag auch nichts dran ändern, und das sich im normalen Alltag und im Leben was geändert hat ist klar, aber von der Beziehung her würde ich sagen, hat sich nichts geändert."
Außer die Sache mit dem Sex. Auch mit diesem Thema geht Ingo ganz pragmatisch um.
"Da muss man drauf verzichten dann, das war mir natürlich von vornherein klar, aber ich muss natürlich sagen, situationsbedingt hat sich auch das Bedürfnis geändert, das ist vorher sicher anders gewesen, es ist nicht mehr so, das Verlangen da, wie das früher war, und deswegen fällt es mir überhaupt nicht schwer darauf zu verzichten."
"Hat sich auch meine ganze Denkweise geändert"
Kuscheln hilft, sagt Ingo. Er und Christine schlafen im gleichen Bett. So, sagt er, kann ich meine Frau auch beruhigen, wenn sie nachts von Spastiken geplagt wird.
Am späten Nachmittag ist es plötzlich ungewohnt ruhig in der Wohnung, die Kinder sind beschäftigt, keine Besuche stehen an. Momente wie diese hat Ingo schätzen gelernt.
"Durch diese ganze Situation mit dem Schlaganfall und diese ganze Geschichte hat sich natürlich auch meine ganze Denkweise geändert, was auch das Leben angeht, den Sinn des Lebens. Man kann viele Dinge viel besser genießen was man vorher nicht konnte, es sind Dinge wichtig, die vorher nicht wichtig waren, es ändert sich sehr viel. Ich war immer einer der sehr viel Action brauchte, der viel gearbeitet hat, heute kann ich auch einfach mal auf dem Balkon sitzen und ganz entspannt in die Gegend gucken und das genießen."
In der Ecke des Wohnzimmers stehen ein paar Gitarren. Ingo spielt nur noch selten, aber wenn, dann für seine Frau. Tears in Heaven von Eric Clapton oder Wish you were here von Pink Floyd. Das passt eigentlich ganz gut, sagt Ingo, doch jetzt gerade will er nicht spielen. Stattdessen holt er ein Hochzeitsfoto aus dem Regal, es zeigt ihn und Christine mit gerade mal 18 Jahren, Ingo damals noch mit Vokuhila. Tja, sagt er und zuckt mit den Schultern, so war das. Er weiß, dass diese Zeit nicht wiederkommen wird. Er weiß, dass er nur nach vorne schauen kann. Er träumt davon mit seiner Frau nach San Francisco zu fahren, als verspätete Silberhochzeitsreise.
"Wir sind heute auch nicht unglücklicher als früher. Das Leben ist anders, aber auch nicht unbedingt schlechter. Und das ist das was viele Leute immer meinen wenn sie in Pflegesituation kommen oder solche Leute kennenlernen, es ist jemand pflegebedürftig und jetzt ist das Leben vorbei. So ist es aber nicht. Wenn man sich ein bisschen aufrafft und bisschen was macht, kann man auch so ein glückliches Leben führen."
Ingo Dahmer sagt diesen Satz auf der Couch, er sitzt neben seiner Frau, er hält ihre Hand und schaut ihr dabei in die Augen.
(Eine Wiederholung der Reportage vom 21. April 2014)
Fredy Gareis: "Während meiner Recherche hatte ich mehrmals Tränen in den Augen. Aber nicht nur, weil hier ein Schicksal so hart zugeschlagen
Fredy Gareis
Fredy Gareis© privat
hatte, sondern auch, weil es mich tief berührt hat, mit wieviel Pragmatismus und vor allem Liebe der Familienvater Ingo diese Situation meistert."