Martin Tschechne ist Journalist und promovierter Psychologe. Er lebt in Hamburg.
Kein Attest mehr für den Spontan-Schnupfen?

Ob sie tatsächlich krank sind, müssen Arbeitnehmer spätestens zum dritten Tag mit einem ärztlichen Attest belegen. Um die Hausärzte zu entlasten, wollen Wissenschaftler diese Frist aber verlängern - auf bis zu ein Jahr. Ein Vorschlag, über den sich unser Autor Martin Tschechne nur wundern kann.
Das Leben ist hart, und Arbeit ist kein Wellness-Programm. Ein Bürohochhaus, eine zugige Werkhalle, die deprimierenden Flure einer Behörde, vielleicht gar Publikumsverkehr, verschnupfte Kollegen: Im Durchschnitt rund 14 Tage pro Jahr liegen deutsche Arbeitnehmer auf der Nase. Das war schon mal schlimmer. Besonders die so sorglosen 80er-Jahre müssen eine gesundheitlich extrem gefährliche Zeit gewesen sein. Dann aber änderten sich die Befindlichkeiten. Der Wettbewerb wurde global, ein schärferer Wind wehte, das Gesundheitsbewusstsein wuchs – und die Krankenstände gingen zurück. Merkwürdig nur ist die Entwicklung in jüngerer Zeit: Die Zahl der Arbeitslosen sinkt, die der Krankmeldungen zieht wieder an.
Wie ist solch ein Befund zu interpretieren? Bedeutet er vielleicht, dass Menschen weniger häufig krank werden, wenn hinter ihnen die Arbeitssuchenden Schlange stehen? Und bedeutet er umgekehrt, dass mit einem Rückgang der Sorge um den Arbeitsplatz auch eine Schwächung des Immunsystems einhergeht? So im Sinne von: je sicherer der Job desto größer die Gefahr einer wochenendnahen Spontanverschnupfung. Oder einer kleinen Infektion in Magen und Darm, die das Verlassen der eigenen vier Wände nun ganz und gar unmöglich macht – was jeder Arbeitgeber und jeder Kollege unmittelbar einsieht.
Wer trägt Sorge um Wohlergehen und Arbeitskraft?
Zugegeben: Es ist gemein, den mannigfachen und stets aus äußerst komplexen Parametern zusammengefügten Statistiken mit den laienhaften Erklärungen aus der Küchenpsychologie beikommen zu wollen. Immer treffen Spott und Verdächtigungen auch die Falschen. Die Fleißigen, die Verlässlichen, die Guten, die im Interesse einer Aufgabe oder aus Solidarität mit den Kollegen zur Arbeit kommen, wenn sie eigentlich besser das Bett hüten sollten. Und ist es nicht sehr gut denkbar, dass gerade Menschen, die um ihren Arbeitsplatz fürchten, gern alle Warnzeichen in den Wind schlagen – und dass sie genau damit ihre körperliche und psychische Gesundheit erst richtig und auf Dauer gefährden? Das ist das Kreuz mit der Statistik: Sie wirft unterschiedliche Fälle und Perspektiven in einen Topf und bildet aus allem den Mittelwert.
Das sollte bedenken, wer über den jüngsten Vorschlag einer Studiengruppe der Universität Magdeburg nachdenkt: Arbeitnehmer, so schlagen es die Mediziner dort vor, sollten nicht schon nach einem oder, wie es sich eingebürgert hat, nach drei Tagen Fehlzeit aufgerufen sein, ihrem Arbeitgeber ein ärztliches Attest vorzulegen. Die Bescheinigung einer echten gegenüber einer nur vorgetäuschten Erkrankung käme auch nach einer Woche noch rechtzeitig. Denkbar wäre auch eine noch längere Phase der eigenverantwortlichen Sorge um Wohlergehen und Arbeitskraft. Ein Jahr vielleicht. In Norwegen, so argumentiert die Studiengruppe, hätte man sehr gute Erfahrungen damit gemacht.
Das Motiv hinter der Magdeburger Studie
Nun stoßen Vergleiche zu Norwegen schnell an ihre Grenzen. Allein, was die Entfernungen betrifft – zumal im hohen Norden des Landes – wäre es schon eine arge Zumutung, sich wegen jeder Unregelmäßigkeit in der Verdauung auf den Weg machen zu müssen. Weniger als fünfmal im Jahr behelligt ein Norweger im Durchschnitt seinen Arzt. Bei uns entfallen auf einen Bundesbürger im Schnitt über 17 Praxis-Besuche.
Genau da liegt das Motiv der Magdeburger Studie. Ihre Autoren wollen dem Ärztemangel begegnen, indem sie niedergelassene Kollegen von einem Wust aus routinierten Lappalien befreien: Erkältung – Halstablette – Bescheinigung, Erkältung – Halstablette – Bescheinigung. Das kostet Zeit und Nerven, verlängert die Wartezeiten für wirklich ernste Fälle, und am Ende werden die gestressten Ärzte noch selber krank. Dann geben sie den Schwarzen Peter schon lieber weiter an die Personalabteilung.