Kreativ aktiv sein

Wie Jugendliche selbstbestimmten Sport treiben

Zwei Jugendliche üben in Berlin Parkour an Metallröhren. Beim Parkour muss der Traceur Hindernisse im urbanen Umfeld der Stadt überwinden.
Zwei Jugendliche üben in Berlin Parkour an Metallröhren. Bei der Sportart werden Hindernisse im urbanen Umfeld der Stadt überwunden. © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Von Silvia Plahl |
Wie spielt man Fußball mit fünf Jungen und zwei Mädchen? Tischtennis ohne Schläger? Crossboccia? Der sogenannte informelle Sport erzeugt nicht nur neue Trends und Spaß an der Bewegung, er gleicht auch Geschlechter und Unterschiedlichkeiten aus.
Ein kleiner Platz hinter einem Jugendtreff, ein Basketballkorb vor einer hohen Steinmauer. Drei Jugendliche und zwei Erwachsene spielen Basketball-Poker.
"Das haben wir entwickelt für das Event 'Schlag den King', das war sehr witzig, es gibt nämlich einen hier, der nannte sich der King: 'Ich kann alles gegen alle besser.' Dann haben wir ein paar Spiele entwickelt und haben in einem Tag den King geschlagen."
Basketball mit Zahlen-Poker erhöht die Gewinnchancen. Für jeden Spieler. Deswegen macht auch Fabian mit. Er ist 11 Jahre alt, der Jüngste hier und wohnt um die Ecke.
"Mir macht's hier sehr Spaß, weil man hier Sachen ausleihen kann und dass die Leute von GoBox auch meistens mitspielen. Hab ich GoBox gesehen. Dann bin ich mal hier zum GoBox gekommen."
Im Frühjahr 2014 wurde sie eröffnet, die so genannte GoBox in Wuppertal-Arrenberg. Die GoBox ist ein gelb bemalter Bauwagen, der hinter einem Jugendzentrum steht. Daneben ein Spielplatz und eine kleine Freifläche. Fabian sagt, er komme meist viermal in der Woche hierher und bleibe dann bis sieben, acht oder neun Uhr abends. An vier Tagen in der Woche ist hier ganz offiziell was los. Die GoBox lädt Jugendliche dazu ein, in ihrer Freizeit gemeinsam Sport zu treiben, sie lockt mit coolen Gleichgesinnten, die "Just for fun" zusammen kommen und sich selbstbestimmt draußen miteinander bewegen.
Das Ministerium möchte einen Beleg haben
"Hi, grüß dich. Alles gut?"
"Fußball haben wir grad gespielt."
"Habt ihr den GoBoxFußball?"
"Nein."
"Den such ich nämlich eigentlich."
"Das letzte Mal war der noch draußen, vor zwei Wochen..."
Philipp, 15 Jahre alt, steigt die steilen Stufen hoch in den Bauwagen zu Britta Herlitz.
"Hier unterschreiben? Hier die Liste ist voll. Komplett? Also wir haben jetzt immer so 'ne Liste. Guck mal , hier ist doch noch was frei..."
Philipp trägt sich in eine Besucherliste ein – der Nachweis für den Geldgeber. Das Bundesbildungsministerium möchte einen Beleg dafür haben, dass die Jugendlichen dieses kostenlose Angebot tatsächlich nutzen. Es sind an manchen Tagen bis zu 30 oder 40 Mädchen und Jungen zwischen elf und 17 Jahren. Sieben so genannte Teamerinnen und Teamer begleiten sie. Auch Philipp ist fast immer hier, wenn die Wuppertaler GoBox auf hat.
"Man kann hier Fußball spielen, Basketball spielen, Frisbee spielen, Volleyball spielen, ja. Federball auch. Außerdem helfen die auch bei Schulaufgaben oder so."
Im Bauwagen kann man sich mit anderen unterhalten oder ausruhen. Auch das gefällt dem 15-Jährigen. Das Wichtigste aber ist für Philipp:
"Du hast keine Regeln. Du hast gar keine Regeln. Du kannst machen, was du willst. Das Einzige ist: Erstens leise sein, zweitens niemand schlagen oder sonst was, verletzen. Und drittens: Immer ein Spiel zu fünft spielen. Außer wenn die jetzt ein Massenspiel spielen wie Volleyball oder Basketball, da kann's auch zu siebt oder acht sein."
"Sie wollen eben nicht dieses Organisierte haben"
"Niemand wird zu irgendwas gezwungen. Niemand muss an 'nem bestimmten Tag irgendwo sein. Das macht es einerseits leicht, andererseits macht's das auch schwierig. Weil wir auch einfach gemerkt haben – ja Absprachen, das funktioniert in der Regel eher weniger gut. Aber man darf's ihnen nicht übel nehmen, denn die meinen's nicht böse, sondern die haben's vielleicht nicht anders gelernt. Oder wollen in irgendeiner Weise eben nicht dieses Organisierte haben."
Teamerin Britta Herlitz war Eisschnellläuferin, Hochleistungssportlerin und studiert nun Sport auf Lehramt. Das Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen im Zentrum von Wuppertal versteht sie als gute Vorbereitung auf den Schulalltag.
"Hier sind tatsächlich viele Kinder anzutreffen, die es nicht so ganz einfach haben, sag ich jetzt mal. Der Sport fließt da ja so rein. Sport ist das Mittel, um an die Kinder vielleicht auch so ein bisschen ran zu kommen. Und der Nebeneffekt ist dann, dass die Kinder und dass die Jugendlichen dann vielleicht auch neue Sportarten kennenlernen."
Die taffe und offenherzige Sportlerin kramt mit dem Kollegen Tim Bindel im Bauwagen in den Kisten unter den Sitzbänken. Die so genannten Crossboccia-Bälle für das Bocciaspielen auf Bäumen oder von Garagen herab liegen darin, und Bälle für das Trendspiel "Headis" – Tischtennis ohne Schläger.
Inzwischen zur Trendsportart geworden: "Headis". Ähnlich wie Tischtennis wird sich bei "Headis" ein weicher Plastikball zugespielt - statt eines Schlägers kommt der eigene Kopf zum Einsatz.
Inzwischen zur Trendsportart geworden: "Headis". Ähnlich wie Tischtennis wird sich bei "Headis" ein weicher Plastikball zugespielt - statt eines Schlägers kommt der eigene Kopf zum Einsatz.© picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Vom gemeinsamen Longboardbauen erzählen die Betreuer, vom Snowboardfahren mit den Jugendlichen im Winter. Aber auch davon, dass manche im Bauwagen zum ersten Mal einen Federball in der Hand hatten. Die GoBox in Wuppertal ist eine Einladung an Kinder und Jugendliche, informellen Sport zu treiben. So der Fachausdruck. Sport, der außerhalb von Schule und Verein stattfindet.
Ein Sport, der, garantiert freiwillig ist und Spaß machen soll, der laufend neue Gruppen zusammen bringt – und oft zu neuen Spielarten oder neuen Absprachen und Regeln führt. Dass dabei alle nur gewinnen können, steht für Tim Bindel außer Frage. Der habilitierte Sportwissenschaftler ist Hauptinitiator der GoBox und Förderer des informellen Sports.
"Man kann es als ein Phänomen der Kindheit sehen. Spielen, explorieren, da könnte man sagen, geht das im Grunde los. Man kann es als ein Jugendthema deuten. Das wurde in der Sportwissenschaft vor allem mit Blick auf Trendsport, Szenen gemacht. Skaten, Streetball. Es ist aber auch, das zeigen Statistiken, sehr stark ein Erwachsenenthema. Im späten Jugendalter, im frühen Erwachsenenalter distanziert man sich eben vom Sportverein."
Mit 16 ist die Hälfte außerhalb der klassischen Institutionen unterwegs
Bis zum frühen Jugendalter, das zeigen Erhebungen, steigt die Vereinsmitgliedschaft an. Am stärksten sind die 12- bis 15-Jährigen vertreten. In dieser Zeit sind bis zu 50 Prozent der Jugendlichen im Verein aktiv. Danach aber verändert sich das Verhältnis.
"Das nimmt drastisch ab. Karrieren lassen sich nicht mehr weiter denken, und dann gibt es ganz klassische Ausstiege."
Mit 16 ist die Hälfte der sportlich Aktiven dann bereits außerhalb der klassischen Institutionen unterwegs. Viele wandern mittlerweile in den kommerziellen Sport ab und werden Mitglied in Fitnessstudios oder anderen Clubs. Viele andere jedoch machen selbstbestimmt weiter. Man sieht sie beim Skateboarden im Park und beim Erklettern von Mauern an der Straßenecke, aber auch beim selbst organisierten Laufen, Schwimmen und Radfahren. Davon profitiert die Jugend, findet Tim Bindel:
"Gemeinsam Fußball spielen oder mit 'ner Gruppe von Freundinnen Inlineskaten zu gehen. Das muss man erstmal organisieren. Also für das Individuum sehe ich da ein ganz starkes Bildungspotential. Handlungsfähigkeit. Das zu können. Also ich kann im Grunde die Welt selbst bespielen und brauch dazu niemanden, kann's mir selbst organisieren."
Tim Bindel ist Akademischer Rat an der Universität Wuppertal und lehrt gern innovative Methoden in der Sportdidaktik. In einem Seminar gab er den Studierenden die Aufgabe, Jugendliche zu filmen, die ihren Sport informell ausführen. Bindel zeigt eines der Videos.
"Hallo, ich bin der Usan, bin 19 Jahre alt, und das ist mein Freund Öskan, mit dem ich Parkour ausübe – Ja und diese Studenten, die haben sich dem Sport Parkour angenommen. Der in Wuppertal übrigens relativ populär ist. Jetzt kommt so ne Musiksequenz, aber da kann man mal sehen: Das zeigt auch so ein bisschen was über den Wuppertaler Stadtraum, was da so alles möglich ist. Viele Treppen, viele Geländer, wo ein normaler Fußgänger also den graden Weg über die Treppen geht, da nehmen die so genannten Traceure eben den direkten Weg die Geländer hoch und wieder runter. Und vermischen das zum Teil auch mit Artistik. Wie man jetzt zum Beispiel sieht...Jetzt macht er da nen Salto rückwärts:"
Usan erklärt in dem Video: "Da ist zum Beispiel eine Stange – und man kann mit der Stange tanzen oder spielen – und man braucht dafür kein Geld."
"Also die sprechen da schon ganz wichtige Kriterien des informellen Sports an. Also die Flexibilität, man kann sich seinen Raum im Grunde selbst aussuchen. Dann sagt er, es kostet nichts. Häufig muss bezahlt werden! Es ist kreativ. Man spielt mit der Stange, man spielt mit Wellen, man spielt mit dem Wind, man spielt mit der Stadt. Und das ist eben auch was Wichtiges für Kinder und Jugendliche, eben irgendwas vorzufinden, was nicht schon vorgegeben ist. Ich kann die Sportart umdeuten. Solche Räume finden Jugendliche nicht mehr, nicht häufig vor."
Offiziell geschaffener Freiraum
Einen Freiraum offiziell zu schaffen, ist eigentlich ein Paradox. Die Wuppertaler GoBox will Anregungen geben, Gelegenheiten initiieren, mit den Jugendlichen die freiwillige Beteiligung üben. Sie mit einem ständig wechselnden Miteinander konfrontieren. Sie körperlich herausfordern. Gabriel Ginos, 17 Jahre alt, ist Gymnasiast. Er war hier von Beginn an regelmäßig dabei und bietet den anderen GoBox-Jugendlichen nun die Grundlagen für Fitness und Kampfsport an. Sport, sagt der durchtrainierte junge Mann, heißt für ihn: Alles Mögliche auszuprobieren.
"Fallschirmspringen oder Klettern oder Parkour auch. Generell Akrobatik. Und generell alles, was so im Extremsportbereich ist. Ich bin eher der Typ, wenn ich was lernen, will, dann will ich es allein herausfinden. Und dann mit meiner eigenen Erfahrung den Leuten es zu zeigen. Weil ich glaube, wenn man das alleine herausfindet, hat man auch seine eigene Art dazu. Selbstständiger, selbstbewusster auch und zeigst auch den Leuten deine andere Erfahrung halt."
Vor allem die Trendsportart Parkour veranschaulicht die Faszination, die Motivation, das Knifflige und das Ästhetische am informellen Sport. Auf möglichst kurzem Weg ohne Hilfsmittel möglichst elegant auf die eigene Weise von A nach B zu gelangen und dabei Mauern, Treppen oder gar Hauswände nicht als Hindernis, sondern als Weg zu begreifen – diese Art der individuellen sportlichen Fortbewegung ist mittlerweile in vielen Städten regelrecht beliebt geworden. Gabriel beschreibt den Reiz mit "Action, Körperphysik und Körperbeherrschung"
"Man bekommt eine Intelligenz, ohne es zu merken. Weil man lernt Körpergewicht und generell, was die Körperanatomie angeht, ohne es mitzubekommen. Man muss ja denken, damit man auf eine Wand rauf klettert, muss man denken halt die Geschwindigkeit, die Höhe, man muss ich sag mal messen, aber die Leute, die es einfach so machen aus Leidenschaft, die lernen irgendwas Neues, ohne es mitzubekommen."
Diese Erfahrung von Freiheit und Autonomie möchte Gabriel den Jüngeren vermitteln.
"Die haben zwar Lust, aber die haben noch nicht das Selbstbewusstsein. Aber mit der Zeit, wo man sich so besser kennenlernt und so Beziehungen aufbaut, dann haben alle eigentlich sozusagen den Mut und probieren Sachen aus. Das Coole ist, wir machen auch so Spiele oder Aktionen, wo Teamfähigkeit verlangt ist. Und dazu bringen wir halt die Leute, dass sie mit anderen Menschen zusammen was machen, zusammen denken und viele Menschen in einem Kopf haben."
Ein Montagnachmittag auf dem Flugfeld des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof. Seit seiner Schließung im Jahr 2010 hat sich die 3,4 Millionen Quadratmeter große Freifläche mitten in der Hauptstadt zu einer großen Sport- und Spielstätte unter freiem Himmel entwickelt. Auf den Wiesen wird gekickt oder die neue Mannschaftssportart Jugger gespielt, ein Ballspiel mit Schlägern, den so genannten Pompfen. Zwischen einigen Bäumen sind Slacklines, lange Bänder, zum Balancieren gespannt. Auf dem ehemaligen Taxiway rund um das Gelände und auf den Start- und Landebahnen tummeln sich Waveboarder, Kiteskater, Segwayfahrer und Spaziergänger, die nebenher Drachen steigen lassen. Eine junge Frau sagt, sie finde das ziemlich cool.
"Jogger, Inliner, Radfahrer, Spaziergänger. Manchmal treffen wir uns mit Freunden, dann treffen wir uns hier zum Inliner fahren, auch einfach so, für zwei, drei Stunden mal unter der Woche."
Das Tempelhofer Feld gezielt als Übungsort gewählt
Heute ist die 19-Jährige allerdings zum Inliner-Training gekommen. Sie ist Eiskunstläuferin. Ihre Trainerin Judith Klingler hat das Tempelhofer Feld gezielt als Übungsort gewählt.
"Hier fühlt man sich sehr frei. Und ich bin selbst Leistungssportler gewesen und hab halt diesen Sport so sehr eng gelernt. Und mir ist wichtig, dass die Menschen Sport halt kennenlernen, was er sonst noch alles bietet. Hier kommt einer vorbei, und man kann den fragen: Darf ich mal dein Kite probieren? Und dann hat man plötzlich die Möglichkeit, sich selbst auszuprobieren und über die Grenzen hinaus zu gehen. Das geht nicht, wenn man nur in seinen eigenen Kategorien denkt. Super bereichernd, weil man ja seine eigenen Grenzen überschreitet. Und das geht hier. Das geht sonst an keinem Ort in Berlin."
Für Jung und Alt: Auf dem alten Flughafen Tempelhof ist viel Platz für Sportler.
Für Jung und Alt: Auf dem alten Flughafen Tempelhof ist viel Platz für Sportler.© picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
50 Meter weiter spielen junge Afghanen und Pakistani mit Tennisbällen Cricket. Sie kommen zweimal die Woche hierher, sagt Asif Syed. Und sie haben neugierige Zuschauer.
"Jeden Tag wir haben sehr besser, Leute kommt, Sprache: Was ist das? Warum we are spielen hier? Was ist das Game - Name? Leute sagen, das ist Baseball. Wir sagen: nee, das ist Cricket. Was ist Cricket? Was ist rule? Was ist spielen? We are glücklich here to spiel."
Ein "Sport für Alle" soll ermöglicht werden, so lautet die erklärte politische Strategie des Deutschen Olympischen Sportbundes. Der Berliner Sportsoziologe Sebastian Braun skizziert die Bandbreite:
"Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, damit diese Bevölkerungsgruppen auch aktiv an unterschiedlichen Sportsettings teilnehmen. Das ist dann aber eben nicht mehr nur noch ein bestimmter normierter Sport mit einem bestimmten Regelwerk unter bestimmten Konstellationen, wo Verbesserung von Leistungsfähigkeit, Training und der Wettkampf am Ende im Mittelpunkt steht. Sondern wo vielfältigste Variationen möglich sind."
Deutschland hat eine ausgeprägte Tradition des Vereinswesens, und bis in die 1970er-Jahre wurden traditionelle Sportarten mit Regelwerk wie Fußball, Handball oder Leichtathletik auf Sportplätzen, auf Laufbahnen und in entsprechend ausgestatteten Sporthallen betrieben. Dann kamen neue Wellen auf – Gesundheitssport, Abenteuersport, der Fitnessboom – und die Sportkultur veränderte sich.
"Und mit einer enormen Expansion der Sportbeteiligung im so genannten informellen Raum. Denken Sie an Plätze in den Städten, in denen Ballspiele stattfinden. Denken Sie aber auch an die ganze Laufbewegung."
Allerdings ist genau diese Expansion bis heute kaum wissenschaftlich untersucht.
"Wir wissen sehr wenig über den informellen Sektor"
"Wir haben 'ne recht gute Organisationsforschung, die sich sehr stark mit Vereinen beschäftigt. Wir haben eben eine sportpädagogische Forschung auch, die sich sehr intensiv mit Schulsport beschäftigt. Wir haben ein reges Interesse an den kommerziellen Sportanbietern. Wir wissen sehr, sehr wenig noch über den so genannten informellen Sektor oder informelle Sphäre."
So bleibt der informelle Sport ein Phänomen. Sebastian Braun lehrt an der Berliner Humboldt-Universität. Am Institut für Sportsoziologie befasst er sich mit der Frage, ob und wie ein gesellschaftlicher Wandel auch die Bereiche Sport und Bewegung verändert. Oder umgekehrt. Das Informelle und Spontane sei da auf jeden Fall ein Indikator.
"Ich würd sogar die Inszenierung dieser Gruppen, die ja dann im öffentlichen Raum aktiv sind, selbst als eine Form des bürgerschaftlichen Engagements begreifen. Man tut sich zusammen und zeigt sich selbst wie auch dem Gegenüber, dass man ein gewisses Interesse verfolgt."
Braun stellt fest: Vor allem Jugendliche und erstaunlicherweise auch die Senioren zeigen sich derzeit gern öffentlich aktiv. Darauf müssten Kommunen eigentlich reagieren.
"Brauchen wir da überhaupt noch die normierten Fußballplätze mit Laufbahn außenrum? Oder gibt es vielleicht schon Regionen, wo wir uns eher mit der Frage beschäftigen müssen, dass man Bewegungs-Arrangements schafft, die Tag und Nacht geöffnet sind, wo jeder ein Stück weit seine Sportaktivitäten ausüben kann."
Walkende Seniorinnen und Senioren brauchen einen Wald oder zumindest naturnahe Parkanlagen. Für BMX-Radler sind sichere Rampen ein Muss. Wird beim Sport an alle gedacht, weisen Multifunktionshallen in die Zukunft oder Schwimmbäder, die nicht nur die 50-Meter-Bahn im Zentrum haben, sondern mehrere modern gestaltete Becken. Für Aqua-Fitness, Aqua-Zumba, Aqua-Yoga und neue Ideen.
"Wir nutzen den Sport, um soziale Arbeit zu leisten. Sportorientierte Jugendarbeit. Darum geht's."
Im gemeinsamen Sport steckt grundsätzlich ein gemeinschaftlicher Wert: Miteinander agieren, voneinander lernen. Rahmenbedingungen schaffen, Regeln aufstellen, Grenzen setzen. Hier leisten Schulen, Vereine und vor allem offene Sportanlagen einen Beitrag zur Integration, zum Ausgleich gesellschaftlicher Schieflagen. 1993, wenige Jahre nach dem Mauerfall, gründete der Berliner Senat zusammen mit der Landessportjugend 40 über die gesamte Stadt verteilte so genannte Sportjugendclubs.
Der Sportpädagoge Hartmut Block leitet seither den Schul- und Sportjugendclub Marzahn. Das soziale Sportangebot in dem östlichen Berliner Bezirk ist in einer ehemaligen Schulspeisung untergebracht. Nebenan gibt es auch heute noch eine Grundschule und eine Sporthalle. Den großen früheren Essensraum stützen ein paar rote Säulen. Auf dem grauen Steinboden stehen drei Billardtische, zwei Tischtennisplatten und zwei Kickertische. Rechts reihen sich plüschige Sofaecken aneinander, die freien Wände sind mit bunten Schriftzügen des Sportjugendclubs SJCM besprüht. Hier waren Profisprayer mit den Jugendlichen am Werk.
Im Raum fliegen deutsche und fremdsprachige Wortfetzen herum. Türkische, serbische, libanesische, moldavische Kinder und Jugendliche kommen neugierig herein, sagt der Sportlehrer Hartmut Block. Wenn sie dann Billard oder Tischtennis spielen möchten, brauchen sie einen Schläger oder einen Queue.
"Einen kleinen Bildungsauftrag erfüllt"
"Dann ist es so, dass die jungen Leute ein Pfand abgeben müssen. Und das erste Wort eigentlich, was sie bei uns lernen, ist "Pfand". Also dann haben wir schon mal einen kleinen Bildungsauftrag erfüllt . Es ist wirklich so! Weil sie wissen in der Regel nicht, was ein Pfand ist! Aber wenn sie merken, sie bekommen dafür was und wenn sie's wieder abgeben, kriegen sie ihren Schlüssel oder irgendwas wieder zurück, dann hat's funktioniert und sie haben was gelernt."
Es folgen "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen". Worte und Gepflogenheiten helfen, sich hier einzufinden , der Sport tut sein Übriges hinzu.
"Zum Beispiel im Fitnessbereich. Wenn jetzt ein junger Mann beim Bankdrücken sich übernommen hat. Ich sag mal so: Das Gewicht ist zu schwer, er kriegt's Gewicht nicht rausgedrückt. Und ein anderer junger Mann geht hinzu und hilft ihm, dass er die Übung zu Ende bekommt, dann ist da ne sehr soziale Komponente drinne."
Die ehemalige Küche ist heute ein Fitnessraum. 75 Quadratmeter voll gestellt mit Trainingsgeräten. Orlando, weißes T-Shirt, dunkle Brille, erklärt
"Gibt's Bankdrücken, Diagonalbankdrücken, es gibt's ein Laufband, was gibt's hier noch? Ein Fahrrad gibt es hier, Beinpresse, Butterflygerät, genau. Kostenlos ist es nicht, aber sehr billig."
Drei Euro im Monat bezahlen die Schüler und können dann täglich von 14 bis 20 Uhr hier trainieren. Heute sind es fünf junge Männer. 15 passen in den Raum.Vor der Spiegelwand mühen sich Alex, Dag und Chali beim Bankdrücken ab. Sie stammen aus Osteuropa und wohnen im Flüchtlingsheim. Alex, 15 Jahre alt, lebt seit zwei Jahren in Berlin. Er geht zur Schule und weiß in seiner Freizeit oftmals nicht mit sich anzufangen.
"Immer zocken und so Langeweile. Zuhause. Ist besser Sport zu machen. Macht mehr Spaß. Man fühlt sich geil, also wie soll ich sagen. Wenn man viel Muskeln trainiert hat und so alles. Jetzt muss ich anfangen, Entschuldigung."
"27 Nationen trainieren hier oder spielen hier"
Ein 41-jähriger Mann erzählt, er sei hier drinnen groß geworden. Deswegen komme er nach wie vor, um den Jungen zu helfen. Damit sie nicht gewalttätig werden, sagt er.
"Geht ja darum, wenn die hier trainieren und wat wees icke und in sagen wir mal vier Wochen hier raus gehen und wirklich ein bisschen Muckis haben. Dass die nicht draußen dann ne Scheibe spielen. Hier wird vom ersten Tag an der Vorname benutzt und allet so wat. Und: 27 Nationen trainieren hier oder spielen hier. Also das ist Wahnsinn."
Bis zu 100 Kinder und Jugendliche tummeln sich hier jeden Tag im Sportjugendclub Marzahn. Es gibt auch Beachvolleyball und feste Kurse für Judo und Fußball. Draußen am Kletterturm sind heute acht Mädchen und Jungen. Klettern darf immer nur einer. Thomas, 18 Jahre alt, sitzt mit freiem Oberkörper vor dem Acht-Meter-Block und sichert Stammkletterer wie Neulinge. Das ist manchmal nicht einfach.
"Das unterschätzen auch die meisten hier. Die denken, ich würde nicht arbeiten, es ist halt Verantwortung, die man hier hat."
"Es macht Spaß! Also und eigentlich trainiert man hier alles, Beine, Arme, Bauch. Ich find, Sport kann auch Spaß machen, man muss halt nur suchen, was genau man machen möchte, was einem Spaß macht, für was man sich interessiert. Und das sollte man dann auch machen."
Sagt die 13-jährige Virginia. Was Freiraum hat, entsteht von selbst. Ohne Zwang und Erwartungsdruck kann Informeller Sport viel Potential freilegen: Selbstbestimmung und Autonomie, und auch Leistung und Gestaltungskraft – in Fitness und Gesundheit, aber auch im zivilen generationsübergreifenden Miteinander. Das ganz Eigene wird immer wieder neu erforscht, ganz neu erzeugt und aufs Neue ausprobiert. Allem voran muss Informeller Sport aber eines erfüllen: Er muss sinnfrei sein.