Hier ist Jorinde Voigts Serie über die Beethoven-Sontaten dokumentiert.
"Angst darf nicht krank machen"
55:53 Minuten
Im Lockdown-Loop ist die Welt still geworden. Wie bleiben Künstlerinnen und Künstler trotzdem in Resonanz? Die Künstlerinnen Katrin Hahner und Jorinde Voigt, der Dirigent Cornelius Meister und die Autorin Urike Draesner berichten.
"Angst darf ja sein. Die ist ja nicht grundlos da und auch berechtigt. Aber sie darf nicht krank machen. Es geht darum, jeden Tag die Balance zwischen Angst und Freude zu finden", sagt Jorinde Voigt. Die Künstlerin ist nicht die einzige, die der tiefen Verunsicherung der Krise ein Gerüst aus Freude und lauter Musik entgegensetzt.
Auch die Schriftstellerin Ulrike Draesner bekämpft die Erstarrung des Lockdowns, in dem sie sich jeden Tag eine Freude macht: "Dank Corona habe ich plötzlich Dinge getan, vor denen ich früher Angst hatte, von denen ich aber immer geträumt habe. Zum Beispiel einen Fallschirmsprung. Da schnallt man sich einen anderen Menschen auf den Rücken und saust durch vollkommen virenfreie Luft."
Gegen die Erstarrung des Lockdowns
Dem Pianisten und Dirigenten Cornelius Meister ist das Soundbad unter dem Flügel eine Zuflucht, so wie er es aus seiner Kindheit kennt. Dank der Künstlerin Marina Abramovic haben er und die Musikerinnen und Musiker des Stuttgarter Opernhauses außergewöhnliche Momente der Resonanz erlebt, die viele zu Tränen gerührt haben. Und die Musikerin und Künstlerin Katrin Hahner fand über die Besinnung auf ihre innere Stimme eine tiefe Verbindung zu ihrem Publikum. Hier berichten sie, was ihnen jetzt hilft, kreativ und empfänglich zu bleiben.
"Ich habe gemerkt, dass mir an der Schreibwurzel etwas fehlt", sagt Ulrike Draesner über die lange Zeit des Lockdowns, den sie als mangelndes Mitschwingen mit der Welt und sich selbst erlebt habe.
Fremder Geistes- und Emotionsraum
Nicht nur liege Resonanz am Grunde ihrer Anfänge als Schriftstellerin. Als Kleinkind habe sie als Übersetzerin ihrer sprachlich beeinträchtigten Schwester neue, außersprachliche Formen der Kommunikation erlernt. Und anders als Kurt Schwitters, dem Protagonisten ihres jüngsten Romans, habe sich ihr literarisches Schreiben erst über den fremden Geistes- und Emotionsraum des Englischen entwickelt. Zu normalen Zeiten habe sie früh morgens im Stimmenraum des Café erst zu sich und dann in ihr Schreiben gefunden.
Draesner sagt, die Reaktionen des Publikums seien ihr auch Gradmesser für die Dichte und Spannung ihrer Texte. Zwar seien die Lesungen als direkte Resonanzerfahrungen mit dem Publikum durch digitale Veranstaltungen ersetzt worden. "Aber danach klatscht man so zurück in den stummen, leeren Raum der eigenen Wohnung. Wo sonst Gespräche am Rande stattfinden, umgeben von warmen Körpermenschen stattfänden, ist jetzt einfach nichts."
"Resonanzverweigerung ist ein Herrschaftsinstrument", sagt sie. Das sei ihr beim Schreiben des Schwittersromans und in Erinnerung an die eigene Weigerung, als Grundschulind zu sprechen, nochmals klar geworden. "Resonanz setzt einen Freiheitsraum voraus, der erlaubt, dass sich das Aufgenommene mit dem Eigenen mischt und neue Formen findet."
"Pausen sind unerträglich, so lange sie andauern"
Deshalb habe Schwitters trotz all der Verluste mit einer solchen Dringlichkeit an seiner künstlerischen Vision gearbeitet, wenn er schon als Schriftsteller im englischen Exil verstummte. "Er wollte die Nazis und ihre Schergen mit ihrer Vision von entarteter Kunst nicht gewinnen lassen."
Mangelnde Resonanz kenne sie als Phasen der Erstarrung und der tiefen Verwandlung, die man auch Krisen nenne, sagt die 59-Jährige. Oder als Liebeskummer. "Was dann hilft sind Pausen, das Zurücktreten, sich Herauslösen aus Situationen. Pausen sind unerträglich, so lange sie andauern. Aber wenn die Zeit vergeht und man lange genug wartet, ist da manchmal eine Tür, die da vorher nicht war."
Das habe sie in einer Lebenskrise mit Anfang 30 am eigenen Leib erfahren. Damals habe sie ein Jahr lang nicht schreiben können und nicht gewusst, was sie tun solle. Als sie lange genug gewartet und sich aus einer Beziehung gelöst habe, habe sich ihr Schreiben komplett verwandelt. "Manchmal muss alles durch einen Nullpunkt gehen, damit es weitergeht."
Warten auf Resonanz
Das lange Warten auf der Suche nach Resonanz kennt die Berliner Künstlerin Jorinde Voigt gut – zuletzt von einer Auftragsarbeit über die 32 Beethoven-Sonaten für das Luminato-Festival in Toronto: "Neun Monate habe ich probiert und gewartet, bis ich den richtigen Punkt finde, der auch meiner ist." Dabei habe sie in ihrer Kindheit viel Beethoven gehört und auch selbst gespielt. "Es geht ja nicht um Illustration, sondern darum, dass sich aus der Bezugnahme auf den Urtext etwas komplett Neues, Eigenes ergibt." Das sei ja Resonanz im eigentlichen Sinne.
Voigt fand etwas, das in der Konzeptkunst lange keine Berechtigung gehabt habe, weil der Resonanzraum gefehlt habe. "Es gab keine Worte dafür, während die heutige Generation nur noch davon spricht, andauernd:" Die innere Welt. "Das war es, was mich schon als Kind an Beethoven berührt hatte: das enorme emotionale Spektrum, was nichts vermeidet. Da kommt alles Schwierige drin vor, genauso wie alles Weite und Schöne."
Musik hören, Bilder sehen
Für sie gebe es nichts, was nur die Musik ausdrücken könne, sagt Voigt. Wenn sie Musik höre, sehe sie Bilder, eine Form der Synästhesie, die sie unter anderem in Papierarbeiten übersetzt, die sie Partituren nennt.
Der Lockdown habe sie tief verunsichert und erschöpft, weil sie fürchtete, ihr Atelier zu verlieren und wieder ganz von vorne anfangen zu müssen. Den stetigen Strom an Sorgen und Gedanken abzuschalten, gelang ihr mit einem lang bewährten Mittel: Während der Arbeit laut Musik hören. "Das ist der Moment, wo ich nur noch die Melodie höre und nur noch darauf sensorisch reagiere. Der Song trägt mich. Das konditioniert mich, bewusst gut drauf zu sein oder auf eine Ebene zu kommen, wo an dem Tag in dem Moment alles in Ordnung ist und ich in Frieden meine Arbeit machen kann."
Trotzdem sehnt Voigt die Zeit nach dem Lockdown herbei. Sie freut sich auf große Feste und angstfreie Begegnungen mit Menschen in einem Raum, das Eintauchen in Atmosphären. Eine ganz besondere Resonanzerfahrung für eine Künstlerin, die von sich selbst sagt, dass sie "alles sehr intensiv erlebe."
Begegnungen, die zu Tränen rühren
Wie tief Begegnungen auch in diesen resonanzarmen Zeiten werden können, erlebte der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister gerade zu Beginn des Lockdowns. Als erstmals alle Opernhäusern schließen mussten, hatten Musikerinnen und Musiker aus seinem Orchtester die Idee, Marina Abramovics Performance "The artist is present" zu Eins-zu-Eins-Konzerten an ungewöhnlichen Orten im Stadtraum umzuwandeln: Eine Musikerin oder Musiker und eine Zuhörerin oder Zuhörer schauen sich eine Minute lang in die Augen und dann spielten die Orchester-Mitglieder ein Stück, das genau zur Stimmung der beiden in diesem Moment passt.
"Ich kenne alle Varianten der musikalischen Begegnung von null oder zwei bis zu tausenden von Zuschauern bei einer Fernsehübertragung wie der Eurovision. Aber das waren außergewöhnliche Erlebnisse", erinnert sich Meister. "Die Welt war stumm geworden. Für viele Menschen, die kein Instrument zu Hause haben, war das die erste Chance, überhaupt wieder live Musik zu erleben. Das hat viele zu Tränen gerührt."
Dass Resonanz und Klang heilen können, sei nicht nur eine fernöstliche Weisheit über die Wirkung von Mantren, ist Meister überzeugt. "Das ist heutzutage ja sogar wissenschaftlich erwiesen. Die Musiktherapie hat dazu viel beigetragen. Auch in der europäischen Antike wusste man, dass bestimmte Akkorde wie die Quinte in ihrer mathematischen Beschaffenheit etwas mit dem Kosmos zu tun haben."
Geborgenheit unterm Flügel
Dass Resonanz außersprachliche Gefühle wie Geborgenheit, Zugehörigkeit oder sogar Liebe vermitteln können, erlebte Meister schon als Kind am eigenen Leib. Damals lag er unter dem Flügel, während seine Mutter Klavierunterricht gab.
Auf Youtube halten die Musikerinnen und Musiker der Staatsoper Stuttgart unter #opertrotzcorona die Verbindung zum Publikum aufrecht. Hier spielt Cornelius Meister Variationen zum Figaro-Thema:
Der Mut auf die innere Stimme zu hören
Die Künstlerin Katrin Hahner, als Musikerin bekannt als Kenichi & The Sun, berichtet von einer ganz besonderen Resonanzerfahrung auf einer Tour. "Ich stand auf der Bühne und der Raum war komplett unruhig. Ich habe dann einfach die Augen geschlossen und irgendwann stieg da eine Songzeile von Emmylou Harris auf: ‚I went to the river but the river was dry / I fell to my knees an I looked to the sky / I looked to the sky and the spring rain fell / I saw the water from a deeper well.‘"
"Das habe ich dann so mantraartig gesungen. Erst leise, dann immer lauter. Und als ich die Augen wieder aufmachte, war das Publikum komplett konzentriert und ready für das Konzert, das eigentlich schon angefangen hatte." So habe sie seither immer ihre Konzerte begonnen, sagt Hahner.
In Momenten, die einen tief verunsicherten, sei das einzige, was helfe, "mit sich selbst in Resonanz zu gehen, genau hin zu hören, was jetzt angesagt ist und den Mut zu finden, dem dann auch nachzugeben", schlussfolgert sie.
Kenichi & The Sun: "White Fire",
recordJet, 22 Euro
Ulrike Draesner: "Schwitters"
Penguin Verlag, München 2020
470 Seiten, 25 Euro