„Begegnungen sind das Einzige, was bleibt“
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Lockdown lähmt. Nicht nur den Geist, sondern die ganze Existenz. Wie motivieren sich Künstlerinnen und Künstler in Zeiten des Stillstands? Was können wir von ihnen lernen? Katrin Hahner, Doris Dörrie, Tino Sehgal und Jeppe Hein berichten, was hilft.
"Zu betrauern, was wir früher in der Zeit ohne Krise hatten, wäre jammerschade", sagt Doris Dörrie. "Denn dadurch verpassen wir nicht nur den Augenblick jetzt, sondern wir verpassen unser Leben." Die Regisseurin und Autorin ist nicht die Einzige, für die das Hier und Jetzt der Rettungsanker in der Krise ist.
Für Künstler Tino Sehgal sind "Momente, in denen sich die Seelen berühren und Energien austauschen" gar nicht so flüchtig, wie es immer heißt. "Erfahrungen sind möglicherweise das Einzige, was wir wirklich mitnehmen nach dem Tod", glaubt er.
Jeppe Hein, auch er ein Künstler, entdeckte in dem Moment, in dem er meinte zu sterben, wie der Atem sein Leben und seine Kunst retten kann. Auch die Musikerin und Künstlerin Katrin Hahner fand durch eine existenzielle Krise neue Inspiration für ihre Arbeit. Hier berichten die vier, was ihnen jetzt hilft, kreativ und lebendig bleiben.
Wer bin ich, wenn mir keiner zuschaut?
Doris Dörrie sagt, ihr helfe in der Krise – in dieser und all denen, die sie in ihrem Leben schon erlebt habe – das Schreiben: "Da fühle ich mich ganz da. Das ist mein Zuhause". Das sei nichts Abstraktes, Ephemeres, sondern sehr konkret, wenn man einmal anfange über sein Leben zu schreiben. Wie einfach das ist, hat Dörrie in ihrem Buch "Leben Schreiben Atmen" beschrieben, das vor der Corona-Pandemie erschien und viele Menschen inspiriert und ermutigt hat.
Im ersten Lockdown habe sie ein merkwürdiges Gespenstergefühl befallen, berichtet Dörrie, wenn sie nach Hause gekommen sei. Das erinnerte sie an ein Zen-Koan: Wer bin ich, wenn mir keiner zuschaut? "Mittlerweile habe ich gelernt, mit Gespenstern zu kommunizieren", erzählt die Autorin. Sie treffe die meisten Menschen nur noch über Zoom, auch ihre Vorlesungen halte sie so. Der virtuelle Austausch hinterlasse jedoch eine Leere, ein Luftballongefühl, weil er so körperlos sei.
Auch hier helfe Kreativität: "Das tägliche Schreiben verankert einen wieder im Leben. Man bekommt wieder Teppich unter die Füße und dieses Luftballongefühl, das so viele während des Lockdowns erleben, verschwindet etwas", berichtet Dörrie. "Die Umkehr von Konsum in Kreativität ist das Einzige, was hilft. Und wir konsumieren gerade extrem viel, obwohl die Geschäfte ja geschlossen sind. Wir sind geradezu überfressen von all dem Medienkonsum".
"Die Kreativität ist ein Zimmer, zu dem ich immer Zugang habe. Man muss nur die Tür öffnen. Und das ist im Grunde ganz einfach." Egal, ob man nun schreibe, meditiere, Kuchen backe oder sonst was übernehme. "Etwas mit aller Leidenschaft Kraft zu tun – das hilft!" Beim Schreiben sei nur wichtig, regelmäßig zu üben. "Das trainiert das, was ich den Schreibmuskel nenne."
Das Glück eines Burn-outs
"Der Burn-out war eine der wichtigsten Sachen in meinem Leben und eine der schönsten in gewissem Sinne", sagt der Künstler Jeppe Hein. "Ich hatte das Gespür für meinen Körper, eigentlich für mein Leben, komplett verloren. Ich bin in der Kunstwelt herumgereist und habe Liebe und Anerkennung außerhalb mir selbst gesucht." Bis sein Körper 2009 die Notbremse zog: Panikattacke. "Ich habe in den Spiegel geguckt und gefragt: Wer bin ich eigentlich? Wer ist der wahre Jeppe? Willst Du weiter Kunst machen? Oder willst Du ganz was anderes machen?"
Wie Joseph Beuys nach dem Flugzeugabsturz auf der Krim seine Materialien Fett und Filz fand, entdeckte Hein in dem Moment, in dem er glaubte zu sterben, seine neue Inspirationsquelle: den Atem. Nicht nur seine Kunst, sondern auch sein Leben hat sich dadurch radikal verändert.
Er gestand sich ein, dass er ein Mensch ist, der viel allein sein muss, um kreativ zu sein. Im großen Studio in Berlin-Mitte, einem Betrieb mit vielen Mitarbeitern und einigem Trubel, konnte er nicht mehr arbeiten. Erst in seinem Waldstudio im Grunewald fand er den Rückzugsort, von dem aus er Projekte für Museen in aller Welt entwickelt.
Die Erfahrung des Burn-outs hat ihn gut auf die jetzige Krise vorbereitet, obwohl es plötzlich noch mehr zu tun gab, weil Museen alles Mögliche ausprobieren wollten. Hier ein kleines Video, da ein Talk, hier Kunst am Bau. Und dann bekam Heins Frau während des Lockdowns noch ein viertes Kind, was mit neuen Unsicherheiten und Ängsten verbunden war. Auch hier habe der Atem geholfen. "Manchmal braucht es nicht viel, damit es einem wieder gut geht."
Seit dem ersten Lockdown führt Hein sein Kunstprojekt auf Instagram fort. Jeden Mittwochabend hält er für seine 30.000 Follower einen Atemworkshop und teilt Episoden aus seinem Leben. "Ich habe entdeckt, dass ich dieses Medium als kreative Erweiterung meiner künstlerischen Praxis nutzen kann."
Für die Hörerinnen und Hörer von Deutschlandfunk Kultur hat Jeppe Hein eine Kurzversion seiner Atemmeditation eingesprochen.
Folge der Freude, nicht dem Geld
Den lähmenden Zustand, sich künstlerisch kaum mehr lebendig zu fühlen, kennt auch Katrin Hahner gut. Die Künstlerin und Musikerin erzählt, wie sie sich mit ihrem sogenannten "Pleasure Workshop" aus einer kreativen Krise herauskatapulierte und als Kenichi & The Sun eine ganz neue Stimme fand.
Sie verbot sich alle Regeln, folgte nur noch ihrer Intuition und ließ locker, wenn sich irgendetwas schräg anfühlte. So entstand das experimentelle Album "White Fire". Wegen Corona musste das Release Konzert zweimal verschoben, aber stattdessen gab es viele kleine Online-Events. "Das war ganz wunderbar, denn so hatte ich viel direkteren Kontakt mit den Fans", sagt Hahner.
Vom Klischee der leidenden Künstlerin, des leidenden Künstlers hält sie gar nichts. Allen, die trotz widriger Umstände kreativ bleiben wollen, empfiehlt sie, nicht gegen Widerstände anzukämpfen, sondern nur der Begeisterung zu folgen. Und trotz aller nötigen Disziplin Pausen zu machen – gerade wenn es zu gut läuft.
Unsicherheit als Arbeitsgrundlage
Dem Künstler Tino Sehgal kommen oft gerade in den Pausen die besten Ideen. Im Zug, in der Warteschlange oder unter der Dusche. Weil er Flüge aus ökologischen Gründen ablehnt, haben er und sein Team vor Corona oft wochenlang auf einem Frachtschiff oder in der Transsibirischen Eisenbahn verbracht – auf dem Weg nach Brasilien oder Japan. "Das ist wie ein Retreat im Grunde."
Wie im Kloster sei es aber wichtig, sich eine Art Stundenplan zurechtzulegen. "Ich habe festgestellt, dass das die Lebenssäfte besser in Schwung hält." Sogar Proben war möglich: "Ich finde es ja spannender, wenn Bewegung im Körper stattfindet. Und das geht im Zug ja schon."
Die Unsicherheit, unter der viele jetzt im Lockdown leiden, ist für Sehgal Grundvoraussetzung künstlerischer Arbeit. "Als Künstler sind wir ja auch Handwerker. Wenn ich nicht genug Erfahrung in einem Bereich habe, sorge ich dafür, dass ich diese Erfahrungen mache. Das ist das, was wir jetzt als Gesellschaft leisten müssen."
Obwohl Sehgal quasi ein early adopter des Zoom-Probens ist – schon 2015 studierte er für die Yakohama-Biennale ein Stück über Skype ein – sagt er: "Je komplexer das Werk, desto unmöglicher ist es." Aber körperlos, wie Doris Dörrie sagt, findet Sehgal die Begegnung über Zoom und Videocall nicht. "Sie hinterlässt einen anders materiellen Eindruck der eigenen Erfahrung."
Man habe Migräne, die Augen täten weh vom Bildschirm. Aber man sei eben nicht hundert Prozent im Kontakt: "Wenn ich in der Begegnung bin, dann kommunizieren auch die Energien, wenn man will die Seelen, miteinander auf eine Art. Das ist es, was uns als grundlegend soziales Tier auch Energie gibt."
Erfahrungen sind das am wenigsten Flüchtige, was es gibt
Auch flüchtig seien Begegnungen im Grunde nicht. "Materie ist eigentlich sehr flüchtig. Auch ein Stein ist ja in ständiger Transformation. Es kommt nur auf die Zeitskala an, die man anlegt." Im Sinne eines menschlichen Lebens sei ein Stein sehr stabil, ein Stück Papier schon weniger und eine Orange gar nicht.
"Wir wissen sowohl aus älteren Traditionen als auch aus neuerer Forschung, über das, was bei einer Nahtoderfahrung passiert, dass die Erfahrungen das Einzige sind, was wir nach dem Tod wirklich mitnehmen. Insofern könnte man sagen, Erfahrungen sind das am wenigsten Flüchtige, was es gibt."
Sehgal, der sich selbst als Pressesprecher der Live-Begegnung bezeichnet, sieht Berührung als die wichtigste vorsprachliche Kommunikation für uns Menschen. "Die Sprache ist zu dem Zeitpunkt entstanden, als die Gruppierungen von Menschen zu groß wurden, dass man jeden Einzelnen entlausen konnte." Auch wenn er selbst im Lockdown keinen Mangel an Körperkontakt habe, weil er mit seiner Familie zusammenlebe, könne er es kaum erwarten, wieder auf eine Eröffnung oder ein Dinner zu gehen. "Dann treffen da diese ganzen Seelen aufeinander und schwingen miteinander. Wie unglaublich."
Album und Bücher
Kenichi & The Sun: "White Fire" Oktober 2020, 22 Euro
Doris Dörrie: "Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben"
Diogenes, Zürich 2019
288 Seiten, 18 Euro
Doris Dörrie: "Die Welt auf dem Teller. Inspirationen aus der Küche"
Diogenes, Zürich 2020
208 Seiten, 22 Euro
Finn Janning: "The happiness of burnout. The case of Jeppe Hein"
Walter König, London 2015
128 Seiten, 24,80 Euro
Finn Janning: "When life blooms. Breathing with Jeppe Hein"
Strandberg Publishing, Kopenhagen 2018
198 Seiten, Preis auf Anfrage