Bücher & Alben
Friedrich von Borries: "Das Fest der Folgenlosigkeit"
Suhrkamp Nova, Berlin 2021
270 Seiten, 16,95 Euro
Friedrich von Borries: "RLF Das richtige Leben im falschen."
Suhrkamp Nova, Berlin 2016
252 Seiten, 14 Euro
Kenichi & The Sun: "White Fire"
Berlin, 9. Oktober 2020
22 Euro
Corona war wie ein Sprung von der Klippe
55:49 Minuten
Raus aus dem Lockdown, rein ins Hamsterrad? Was sich jetzt ändern muss und wie Theater, Kunst und das Nichtstun dabei helfen können: Dazu haben Katharina Grosse, Thorleifur Arnarsson, Friedrich von Borries und Katrin Hahner Ideen gesammelt.
"Der Sprung in die Unvorstellbarkeit ist wie ein Sprung von der Klippe", sagt die Malerin Katharina Grosse. "Deshalb fällt uns das ja auch so schwer in etwas hineinzuspringen, wo wir unsere Bewegungsfähigkeit noch nicht kennen, orientierungslos zu sein, das Gefühl zu haben, keinen Sinn mehr zu sehen."
Diesen Zustand, den die Coronakrise bei vielen von uns ausgelöst hat, kennt Grosse aus ihrem künstlerischen Prozess. Die Kunst könne Realitäten vermessen, die wir uns mit anderen Methoden nicht vorstellen könnten. "Gerade deshalb ist es so wichtig, was wir tun."
Auch der Opern- und Theaterregisseur Thorleifur Arnarsson spürt seit dem Lockdown eine besondere Dringlichkeit zur Veränderung der Gesellschaft. Das Theater spiele in dieser Transformation eine zentrale Rolle:
"Indem wir uns diese Geschichten erzählen, kommen wir in einer Weise zusammen, wie es in unserer individualistischen Gesellschaft sonst kaum möglich ist."
Mit dem Scheitern umgehen
Für den Architekten und Romanautor Friedrich von Borries ist das Scheitern und auch das Annehmen des Scheiterns eine Kernkompetenz in einer Transformationsgesellschaft:
"Wir müssen damit umgehen lernen, dass vieles, was wir ausprobieren, auch nicht klappt. Das ist manchmal ja auch gut so. Das darf aber kein Grund sein, zu sagen, dann lassen wir alles so wie es ist."
Die mentalen Zustände nach dem Lockdown
Das gilt auch auf persönlicher Ebene, wie die Musikerin und Künstlerin Katrin Hahner berichtet: Sie entdeckte nach einer tiefen Transformation neue Facetten in sich, die ihr Werk schillernder und bunter machten als zuvor.
Hier berichten die vier, was sich jetzt ändern muss, damit wir nicht wieder im Hamsterrad landen.
Katharina Grosse wundern die Fragen nach den mentalen Zuständen nach dem Lockdown nicht:
"Plötzlich ist etwas aus den Fugen geraten und immerhin im ersten Moment, in den ersten Monaten kommen wir überein, dass wir etwas ändern müssen. Das ist bei allen anderen großen krisenhaften Fragen nicht so gewesen. Die Veränderung der klimatischen Bedingungen oder wie wir mit unseren Ressourcen gehen, haben keine solche Übereinkunft hergestellt."
Kunst als Möglichkeitsraum
Kunst habe nicht nur in den Zwischenräumen, in denen Gesellschaften sich veränderten, sondern immer die wichtige Rolle, Möglichkeitsräume aufzuzeigen, wie Realität auch sein könnte.
"Ich glaube, es wird noch zu wenig erkannt, was durch unsere Arbeiten angestoßen werden könnte. Wir könnten ja auch unsere Perspektive vollkommen vertauschen und sagen sagen, die Realität ist das, was wir (Künstler*innen) zeigen und nicht das, was der Straßenbauer vermessen kann."
Grosse verstehe ihre Arbeiten als Anstöße, denen man nicht ausweichen könne. Darin sei auch eine gewisse Aggressivität enthalten, um besonders nah an etwas heranzukommen: "Mich interessieren Zustände, nicht die Geschichten, die sie auslösen."
"Damals hat man mir gesagt, ich solle lieber nicht malen."
"Widerstand ist ein wichtiger Spielball in meinem Denken", sagt Grosse, die zu einer Zeit anfing zu malen, als Malen regelrecht verpönt war, erst recht für Frauen. "Damals hat man mir gesagt, ich solle lieber nicht malen. Wenn ich etwas erreichen wolle, müsse ich in jüngere Bereiche wie Performance oder Video gehen." Das habe sie nie verstanden.
"Es ist in allen Bereich der Gesellschaft so, dass die Stimme, die wir haben, nicht hörbar ist, weil sie nicht den Regel der männlichen Welt entspricht", sagt Grosse.
Die Gesellschaft im Ungleichgewicht
Es gebe eine große Bewegung und eine große Kraft marginalisierten Stimmen aus allen Bereichen mehr Gehör zu verschaffen. "Aber es ist absolut unerkannt, welche Konsequenzen es hätte, wenn wir viel viel schneller und beweglicher mit dieser Forderung umgehen würden. Das geht viel zu langsam. Vor allem in Deutschland. Das ist ein ganz, ganz großes Defizit unseres sehr gebildeten und finanziell wohl ausgestatteten Landes diesen Wunsch zu überhören."
Die Notwendigkeit dieses Ungleichgewicht auszugleichen, würde jeder in jeder anderen Situation verstehen, meint Grosse: "Wenn wir vier Räder haben und eins ist platt, würde man sagen: Das Auto eiert und es sofort in die Werkstatt zur Reparatur bringen. Dieselbe Situation haben wir in unserer Gesellschaft. Aber da wird es eben nicht getan. Da sind die Widerstände unheimlich groß. Das ist wie, als würde man einen Stürmer nicht einsetzen. Das versteht auch jeder, dass das nicht geht."
Dabei wäre die Vielstimmigkeit und Facettenreichtum der Möglichkeiten unheimlich bereichernd für alle, geschlechterunspezifisch. "Wenn die Öffnung hin zu einer wechselnden Hierarchie und einer sich immer neu verteilenden Funktionalität bei uns möglich wäre, dann könnten wir auch besser mit diesen Geschlechterrollen umgehen."
"Weggucken ist keine Option"
Der Opern- und Theaterregisseur Thorleifur Arnarsson stand während der Pandemie unmittelbar neben einem ausbrechenden Vulkan. Das habe ihm vor Augen geführt, wie dünn die Schale unserer Zivilisation sei.
Solche Erlebnisse setzten die globale Klimakatastrophe in einen anderen Kontext: "Das Weggucken ist keine Option. Wenn wir nicht handeln, dann ist die Natur, die wie behaupten zu kontrollieren, einfach mächtiger."
Vielleicht gerade weil Arnarsson aus Island, dem jüngstem Land der Erde, komme, habe er eine direktere Verbindung zu den alten Stoffen. Für die Volksbühne, wo er ein 2019 Schauspieldirektor ist, hat er gerade die "Orestie" und die "Odyssee" auf die Bühne gebracht.
Im Theater erlebt sich der moderne Mensch vierdimensional
"Das ist wie eine archaische Menschenschau und der unmittelbare Vergleich mit dem modernen Mensch, der nach fast 2500 Jahren noch immer mit den gleichen Problemen zu tun hat. In dem ritualistischen Rahmen des Theaters, in der Einheit von Ort und Zeit kann man sich vierdimensional erleben. Und wenn es gut geht, kann man sich selbst in einem modernen Kontext nochmal neu begegnen", sagt Arnarsson.
"Die Bedeutungsschichten, die sich über die Jahre auf diese alten Texte gelegt haben, sind unsere zivilisatorischen Landkarte. In den verschiedenen Lesarten können wir sehen, wo die Wahrheit war und wo wir uns angelogen haben."
Eine dieser Lügen sei, wie die Gewalt an Frauen nicht nur toleriert werde, sondern unsere ganze Gesellschaft zusammen halte. Deshalb habe er in seiner jüngsten Inszenierung für die Volksbühne oben auf der Bühne die antike "Orestie" und unter der Bühne ein Video-Loop des zeitgenössischen Ehedramas "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" von Edward Albee gezeigt.
Patriarchat und Genie-Gedanke
Das Patriarchat sei ein Jahrhunderte altes Machtsystem, das man genauso in unserer Interpretation von alten Stoffen finde, wie in unserem alltäglichen Umgang wie in den Machtstrukturen selbst.
"Das nehme ich sehr ernst: Wie ich als Mann, der historisch eine ganz klare Machtposition hat, diese Macht definiere und ausübe, ist wahrscheinlich das allerwichtigste."
Nur in Deutschland ist das Regiefach mit diesem Genie-Gedanke verbunden. Damit sei die Macht gleich klar verteilt und werde leider häufig missbraucht. Deutschland sei, was die Gleichberechtigung angehe sehr hinterher, besonders im Vergleich zu Skandinavien.
"Die Katastrophe ist immer ein Vorläufer neuer Erkenntnis"
Die Arbeit am Theater sei zwar immer mit einer tiefsinnigen Seelenreibung verbunden. Schließlich sei das Theater als Ersatz für Menschenopfer entstanden. Nun stellten Menschen ihre Geschichten und Schicksale zur Verfügung, um daran exemplarisch etwas zu zeigen.
"Aber zwischen Gewaltausüben und intensiv proben, zwischen spielerischen und menschlichen Grenzen, kann man sehr wohl leicht unterscheiden. Wenn man diese offenen, kooperativen Räume als Grundvoraussetzung sieht, dann ist es Aufgabe als Regisseur dafür zu sorgen, dass die Menschen sich wohlfühlen."
Auch wenn seine Arbeit entweder ein großer Erfolg oder eine "Voll-Katastrophe" werde, sehe er sich nicht als Sisyphos, der auf ewig den immer gleichen Fels den Hügel hinauf rolle: "Ich bin von Grund auf ein optimistischer Mensch. Meine Erfahrung ist: Katastrophe ist immer ein Vorläufer von neuer Erkenntnis."
Theater ist die Sauerstofffabrik des Geistes
"Ich glaube an das Theater", sagt Arnarsson. Während des Lockdowns sei das Loch des Theaters eine Metapher für das fehlende Zusammensein allgemein gewesen.
"Das Theater ist wie eine Sauerstofffabrik für unseren Geist. Genauso wie wir nicht sehen, wie die Bäumen C02 zu Sauerstoff umwandeln. Aber das ist der Grund warum wir auf diesem Planeten überhaupt Leben haben. Ohne die Photosynthese sähe es hier auf dem Planeten ziemlich düster aus. Und ohne die ritualistischen Räume des Theaters, wäre auch unser Geist ziemlich düster."
Zurück ins Hamsterrad wolle Arnarsson selbst auf keinen Fall. "Gerade für jemanden wie mich, der die letzten 15 Jahre eigentlich konstant unterwegs war, war es erstaunlich festzustellen, was passiert, wenn der Mensch neben dem Künstler Platz bekommt."
Die Arbeit am Theater und die ständige Auseinandersetzung mit Tod und Leben bringe eine existentielle Reibung mit. Er wisse nicht, ob er das auf ewig aushalte. Der Lockdown habe ihm geholfen, einfach mal Zeit zu Hause und in der Natur zu verbringen, mit dem Sohn oder dem Hund. Das habe er sehr genossen.
Abschied vom Produktivitätsdogma
Das Nichtstun propagiert auch Friedrich von Borries in seiner Ausstellung "Die Schule der Folgenlosigkeit" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.
Wie Tino Sehgal, der in der ersten "Kreativ bleiben"-Sendung erzählte, dass er ganz gern in Warteschlangen stehe, kenne es zwar auch Borries gut, dass Ideen und auch Einblicke gerade dann kämen, wenn man es am wenigsten erwarte. "Ich würde das jedoch vom Produktivitätsdogma lösen wollen. Man muss sich davon befreien, dass man mit allem, was man tut, auch etwas erreicht und einen Erfolg hat. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Aber genau deshalb müssen wir das auch lernen", findet Borries.
"Ich bin sicher über viele Strecken meines Lebens ein glücklicher Mensch. Aber wie viele andere Menschen auch, falle auch ich in tiefe Löcher, in denen ich traurig, verzweifelt und auch sehr allein bin. Aber ich habe gelernt, das als Teil von mir und meiner Persönlichkeit anzunehmen."
Die Kunst, vom Scheitern nicht frustriert zu werden
Als Reaktion auf diese Erfahrung sei auch die Ausstellung "Die Schule der Folgenlosigkeit", die dazugehörige App, der Film "Die Kunst der Folgenlosigkeit" und der Roman "Das Fest der Folgenlosigkeit" entstanden.
"Erschöpfung, Verausgabung, das Scheitern gehört zu jeder künstlerischen Handlung dazu. Und es ist genau die Kunst, nicht darüber frustriert zu sein."
Zentral, um den gesellschaftlichen Wandel tatsächlich zu erreichen, sei gemeinsame Freude, das Feiern, das Durchdrehen, auch mal die Besinnung zu verlieren.
"Ein Problem, an dem unsere Gesellschaft heute krank ist, dass wir für alle Fragestellungen fast nur intellektuelle, wissenschaftliche, technische Lösungen entwickeln. Ich glaube, dass man Menschen viel eher von einem ökologischen Leben überzeugt, wenn sie das als etwas Schönes, etwas Freudvolles erleben."
Was wir aus dem Lockdown mitnehmen sollten
Für die Umbruchszeit, in der wir uns jetzt nach dem Lockdown befinden, empfiehlt er, sich genau zu überlegen, welche positiven Entwicklungen, die der Lockdown gebracht habe, man beibehalten wolle.
Für die einen sei das mehr Homeoffice oder Spaziergänge in der Natur, für andere sei das, den Kontakt zu Menschen, die man während des Lockdowns nicht vermisst hätte, auch nicht wieder aufzunehmen.