Literatur
Julia Voss: "Hilma af Klint. Die Menschheit in Erstaunen versetzen"
Fischer, Frankfurt 2020, 600 Seiten, 25 Euro
Die Ausstellung
"In Abwesenheit" von Alicja Kwade Berlinische Galerie, 18.9.21 – 4.4.22
"Nur das Abstrakte kann das Unerklärliche fassen"
54:08 Minuten
Wer sich nicht wundert, stirbt. Für Albert Einstein war das Staunen die Quelle von Wissenschaft und Kunst. Künstlerin Alicja Kwade und Autorin Julia Voss erzählen, was sie in Erstaunen versetzt. Und warum der Mensch ein abstraktes Webmuster ist.
"Was am Ende von uns Menschen bleibt, sind doch Artefakte", sagt die Künstlerin Alicja Kwade. Keiner werde sich mehr an Landesgrenzen erinnern, aber an die Kunst schon. "Ich finde wirklich atemberaubend, dass man je näher man hinguckt, doch wieder bei der abstrakten Kunst landet." Was sie neulich extrem erstaunt habe, sei die Atomanordnung innerhalb der 24 Elemente, aus denen jeder Mensch bestehe: "Die sehen nämlich aus wie perfekte abstrakte Webmuster. Das ist es dann im Wesentlichen, was wir auch sind.
"Die Kunstwissenschaftlerin Julia Voss hat über die Beschäftigung mit der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint das Staunen wieder gelernt: "Ihre Kunst ermutigt uns, in den kleinen Dingen die ganze Welt zu erkennen."
Das Staunen, die Erkenntnis, dass die Dinge auch ganz anders sein könnten, hält nicht nur lebendig, sondern befeuert auch die Kreativität. So wie Albert Einstein sagt: "Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen."
Hilma af Klint - Pionierin der abstrakten Kunst
In dieser Sendung locken Alicja Kwade und die Kunsthistorikerin Julia Voss uns auf geheimnisvolle Abwege in einen ganz erstaunlichen Kosmos: Es geht um wahre Wissenschaft, wahre Geister, Planeten, Nebensonnen, den Erfinder und Geisterbeschwörer Nicola Tesla, den Entfesslungskünstler Houdini, um die wahre Kunst und die Abstraktion, die eigentlich eine Frau erfunden hat. Nämlich die schwedische Künstlerin Hilma af Klint.
Alicja Kwade erzählt, wie sie während des Lockdowns lernte, die Zeit festzuhalten und in ihrer neuen Ausstellung in der Berlinischen Galerie gleichzeitig abwesend und präsenter ist als je zuvor. Julia Voss berichtet, wie Hilma af Klint in einem Kreis aus Frauen, Geistern und Stimmen die abstrakten Gemälde "geschickt" bekam, die die Kunstgeschichte veränderten.
"Es gibt immer wieder kleine Dinge, die mich in Erstaunen versetzen. Man muss sich aber einen Augenblick nehmen, der einem das ermöglicht", sagt Alicja Kwade. "Zum Beispiel hatte ich für meine Ausstellung in der Berlinischen Galerie die Chance, meine DNA auslesen zu lassen. Da habe ich festgestellt, dass über 99 Prozent aller Menschen genau gleich sind. Das ist doch erstaunlich! Vor allem, weil wir uns ja trotzdem so was darauf einbilden, wer wir sind."
Trotz ihrer sehr rationalen Sicht auf die Welt habe sie sich schon immer sehr für Menschen interessiert, die sich in Zwischenräumen der sogenannten Realität bewegten, sagt Kwade. Eine Zeitlang habe sie sich für den Entfesslungskünstler Houdini interessiert und für den Erfinder und Physiker Nikola Tesla, der am Ende sogar mit Geistern gesprochen haben soll. In einer Arbeit versuchte Kwade in Teslas Gehirn zu steigen, indem sie seine Handschrift kopierte, bis sie so schreiben konnte wie er. "Das war wie auf dünnem Eis. Irgendwann glaubt man ja das, was man schreibt, als hätte man es selbst gedacht."
Die Lust, sich manchmal wegzubeamen
Sie glaube zwar nicht an Geister wie ihre Künstlerkollegin Hilma af Klint. "Aber ich interessiere mich für dieses Void, diesen leeren Zwischenraum. Das ist wie eine Membran, und da wirft man etwas dagegen - Philosophie, Naturwissenschaft oder Kunst und schaut was zurück kommt. Ich bin überzeugt, dass das Abstrakte das einzige ist, was so etwas Unerklärliches, Mehrdimensionales hat. Und wir Menschen bestehen zu 99 Prozent aus Leere. Das lässt einen doch Erschaudern."
Mit ihrer Installation auf dem Dachgarten des Metropolitan Museum in New York versuchte Kwade "auf diesen fünf Millionen Jahren Menschheitsgeschichte" die menschliche Weltsicht als geozentrische Wesen nachzuvollziehen.
"Trotz meiner geliebten Ratio muss ich mich immer mal wieder ganz weit wegbeamen. Das geht sicher allen Menschen so, die Kunst machen", glaubt Kwade. Der Song "Starman" von David Bowie sei perfekt dafür, weil er so eine Euphorie habe und auch inhaltlich genau den Kern treffe: "Es gibt diesen Starman, er will uns etwas sagen, aber es würde unser Gehirn sprengen."
Hilma af Klint und ihre Haltung zur Welt hätten ihr auch während der Pandemie sehr geholfen, berichtet die Kunsthistorikerin Julia Voss. Im Lockdown im März habe sie angefangen, mit dem Erwachen der Natur auch die Pflanzenwelt zu studieren, genauso wie Hilma af Klint es im Frühjahr nach dem Ersten Weltkrieg tat und in ihrem Tagebuch festhielt.
Spiritualität kommt ohne Mittler uas
Voss, die selbst zunächst eher skeptisch Spiritualität gegenüber war, habe gelernt Hilma af Klint zu verstehen, als sie Isabel Allendes "Geisterhaus" wieder gelesen habe. "Da gibt es auch Geister und eine Frau hat grüne Haare und das ist ganz normal. Die leben alle ganz selbstverständlich mit den anderen Frauen zusammen und arbeiten, kümmern sich um ihre Kinder und stellen etwas auf die Beine. Warum soll man das trennen?"
Auch wenn Hilma af Klint Kontakt zu Geistern gehabt habe, sei sie eine sehr weltzugewandte Frau mit enormer naturwissenschaftlicher Bildung gewesen. "Sie hat telefoniert, ist ins Kino gegangen, sie hat mit Frauen zusammengelebt, mit denen sie auch Liebes- und sexuelle Beziehungen hatte. Und es gab viele gebrochenen Herzen. Und meistens war es Hilma, die die Herzen gebrochen hat. Aber ihr war auch sehr bewusst, dass ihre Art zu leben nur möglich ist, wenn man nicht darauf setzt, dass die Zeitgenossen das abnicken." Zu dieser Zeit seien Menschen, die solche Erfahrungen machten, schnell in Einrichtungen gelandet. "Es ist ihrer Familie zu verdanken, dass Hilma af Klint das nicht passiert ist."
Einen musikalischen Gruß an einen Künstler, dem dieses Glück nicht zuteil wurde, schickt Voss an Vincent van Gogh mit "Vincent (starry starry night)" von Don McLean. Der schönste Satz des Lieds sei für sie: "This world was not made for someone as beautiful as you." Diese Welt war nicht für jemanden gemacht, der so schön ist wie Du. Das könne genauso für Hilma af Klint gelten, findet Voss.
Der Dokumentarfilm "Beyond the Visible" von Halina Dyrschka zeichnet das Leben und die Bedeutung von Hilma af Klint für die Kunstgeschichte nach.
Für Voss sei es eine Erkenntnis gewesen, dass Spiritualität ganz ohne Mittler zu einer geistigen Zwischenwelt auskomme: "Da gibt es keinen Priester, keine Dogmen, keine Hierarchie." Hilma af Klint gehe es darum, etwas in Bewegung zu setzen und das Unsichtbare zu kartografieren, so wie ihre Vorfahren als Seefahrer das Meer vermessen hätten.
Ein neues Abenteuer wagen
Bei der Entscheidung, das Abenteuer zu wagen, den Job als Kunstchefin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufzugeben und sich ganz der Erforschung des Lebens einer unbekannten Künstlerin zu widmen, habe ihr Hilma selbst geholfen:
"Auch Hilma hat mit Mitte 40 ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt und angefangen abstrakt zu malen. Da dachte ich, wenn sie sich so etwas traut, dann muss ich mich auch mal etwas trauen."
Wie Hilma af Klint empfing auch Katrin Hahner Aufträge für ihre künstlerischen Arbeiten von Stimmen aus einer Zwischenwelt. Für ihre Portale drängten sie ihre guten Geistern sogar dazu, die für sie neue Technik des Siebdruck zu lernen. Mit Corona habe sich auch der Titel der Bilder geändert. Jetzt hießen sie als Gegenpol "Euphoria."
Ein Song, der das Geheimnisvolle des Staunens perfekt illustriere, sei für Hahner "Holy Elixir" von Kae Tempest.
Die ganze Playlist zur Sendung haben wir für Sie auf Spotify zusammengestellt.