Vom Bahnhof zum Gesellschaftsexperiment
11:04 Minuten
Vor fast zehn Jahren entstand in einem früheren Wuppertaler Bahnhof die "Utopiastadt". Das Kulturprojekt sollte das Viertel wiederbeleben. Inzwischen ruft es republikweit Interesse hervor - was auch die von einem Negativimage geplagte Stadt schätzt.
Im Wuppertaler Norden erhebt sich auf einem Hügel ein altes Backsteingebäude: Der ehemalige Bahnhof Wuppertal-Mirke. Lange stand er leer, doch an einem Sommertag wie im Bilderbuch erlebt er so viel Trubel wie zu seinen Glanzzeiten.
Züge fahren hier schon lange nicht mehr. Stattdessen spielen Kinder im Sand, Fahrradfahrer radeln vorbei, Cafébesucher schlürfen ihren Cappuccino oder sitzen in Liegestühlen in der Sonne. So auch ein älteres Ehepaar.
"Ich fühle mich wohl hier, muss ich ehrlich sagen. Und die Leute sind alle hilfsbereit." Helga und Hans Kernche sind beide weit über 80. Dass sie hier hauptsächlich auf junge Leute treffen, gefällt den beiden ganz besonders.
"Früher habe ich auf Wuppertal geschimpft"
"Das hat wirklich gefehlt. Jetzt ist es eine wunderschöne, offene, berühmte Stadt. Früher hab ich immer über Wuppertal geschimpft, hier ist nichts los. Hier wird sehr viel geboten. Die Menschen sind hier alle zufrieden und glücklich. Das habe ich schon gemerkt. Die kommen alle gerne wieder."
Hier, das ist ein Ort, der schon längst über Wuppertal hinaus bekannt ist. Ein Ort, an dem Utopien wahr werden sollen. Die "Utopiastadt".
Während die Besucher Sonne und Freizeit genießen, wird auf der anderen Seite des Geländes gearbeitet. Auf einem Hubwagen liegen große, schwere Bühnenelemente von einem Konzert am Vorabend. Nun sollen sie wieder eingelagert werden – in einem Seitenflügel des alten Bahnhofs. Der Raum ist vollgestellt mit Utensilien aller Art: Couches, Stühle, Metallstangen.
"Das war der Wartesaal erster Klasse. Das war der schickste. Und ist im Moment Wuppertals schönster Lagerraum."
Die Decke des Wartesaals ist mit dunklem Holz verkleidet, sogar ein kunstvoll gestaltetes Rundfenster ist noch erhalten geblieben. Wuppertal war einst bekannt für seine Textilindustrie. Hier und da lässt sich der alte Reichtum der Stadt noch erkennen, vor allem an den Gebäuden der Gründerzeit wie dem Mirker Bahnhof, der im späten 20. Jahrhundert stillgelegt wurde. Er verfiel zusehends, bis 2011 eine Gruppe junger Leute hierher kam, um mit einem Kulturprojekt das Viertel wiederzubeleben.
David Becher – Brille, Dreitagebart und immer für einen Scherz zu haben – war von Anfang an dabei.
"Als ich 2006 in die Straße gezogen bin, war hier nichts. Ich habe von meinem Arbeitszimmer auf eine Tankstellenbrache und eine Bahnhofsbrache geschaut und dahinter wucherten ehemalige Gleise zu. Es hat sich wirklich fundamental geändert. Ich saß in meinem Arbeitszimmer und habe gedacht: Geil, das machen die alles nur für mich. Hab ich nachgefragt, stimmte gar nicht. Die hätten das auch ohne mich gemacht. Dann hat mich das an meinem Idealismus gepackt."
Urban Gardening, Repair-Café, Co-Working
David Becher stieg in die Gruppe der jungen Aktiven ein – und ist bis heute dort geblieben. Seit ein paar Jahren ist er Vorstandsvorsitzender des Fördervereins Utopiastadt. Trotzdem braucht er viele Worte, um zu erklären, was die Utopiastadt eigentlich ist. Unter ihrem Dach versammeln sich so unterschiedliche Initiativen wie eine Urban-Gardening-Gruppe, eine Nähwerkstatt, ein Repair-Café, ein Co-Working-Space. All die Ideen also, die in den vergangenen Jahren in ganz Deutschland aus dem Boden sprießen. Hier sind sie unter einem Dach versammelt und haben ein gemeinsames Ziel.
Sie wollen das Zusammenleben im Quartier verbessern. Dabei beschäftigen sie sich ganz nebenbei mit den großen Fragen der Gesellschaft, meint David Becher.
"Da haben wir jetzt die Gartenfläche, da haben wir die Tomaten angepflanzt. Wer darf die denn jetzt ernten? Nur die, die zur Gartengruppe gehören? Wie definiert ist das? Wann gehört man wirklich zur Gartengruppe? Oder alle Utopisten? Dann wird es noch viel schwieriger. Wer ist das denn jetzt? Oder alle, die vorbeikommen? Und dann sitzt man da und überlegt. Irgendwie werden sie immer geerntet und gegessen, die Tomaten. Und hinterher weiß keiner so ganz genau. Und drei aus dem Garten sind ganz frustriert, weil sie nicht mitgekriegt haben, wer sie geerntet hat. Dafür hat die Grillgruppe vom Fahrradverleih einen Tomatensalat zum Würstchen gehabt. Muss man da formal werden? Muss man da ein Namensschild an die Tomatenpflanze machen, damit klar ist, die hat der Klaus gepflanzt und da dürfen nur Klaus und Klaus' Freunde ernten?"
Weil es hier auf solche Fragen keine klaren Antworten geben kann, sondern alles immer neu ausgehandelt werden muss, nennt sich Utopiastadt auch einen "andauernden Gesellschaftskongress". Das Sprechen miteinander hört nie auf, und was heute richtig ist, kann morgen falsch sein.
Politik und Wissenschaft stürzen sich auf die Utopiastadt – obwohl hier nur, wie David Becher es formuliert, "über die Tomatenfrage" diskutiert wird. Die Universität Wuppertal untersucht zum Beispiel, wie es gelingen kann, dass unterschiedliche Initiativen gemeinsam Flächen nutzen. Immer mal wieder schaut ein Lokalpolitiker vorbei. In gesellschaftlich angespannten Zeiten sind die heilfroh über Ideen, wie unterschiedliche Menschen an einen Tisch gebracht werden können.
Bewusster Verzicht auf Zäune und strenge Regeln
Dass das nicht immer reibungslos abläuft, davon kann Johannes Schmidt ein Lied singen. Der 25-Jährige kümmert sich um die praktischen Abläufe auf dem Gelände – zum Beispiel auf der großen Spiel- und Liegewiese gegenüber vom alten Bahnhofsgebäude.
"Die Fläche gehört uns, aber gefühlt hat sich das Quartier diese Fläche erobert. Wenn hier Paletten stehen, dann werden hier direkt Möbel draus gebaut oder irgendwelche Hütten. Oder BMX-Fahrer bauen sich da einen Parcours draus. Aber die Paletten bleiben nie so stehen, wie wir sie hinstellen. Wenn man einen Schritt zurückgeht, dann ist das schön zu betrachten. Und im Alltag ist es ganz oft nervenaufreibend, weil man alle zwei Wochen immer die gleiche Palette anpackt und wieder dahin stellt, wo man denkt, da sollte sie stehen."
Die "Utopisten" verzichten bewusst auf Zäune oder strenge Regeln. Bisher funktioniert das gut: Seit Jahren finanzieren sie sich selbst, ohne Zuschuss von der Stadt, und renovieren auch große Teile des alten Bahnhofs in Eigenregie.
Eine wichtige Einnahmequelle ist die Gastronomie. Auch manche Veranstaltungen spülen Geld in die Kasse – zum Beispiel zwei Musik-Festivals, die im Sommer hier stattfinden. Johannes Schmidt und sein Kollege Niklas Brandau sind schon mitten in den Vorbereitungen.
"Der Jesschen hat schon angefangen, den Haufen wegzufahren. Ich werde nachher noch mit dem Hof Vorberg telefonieren, ob die ein Mulchgerät haben."
Neuerdings steht auf dem Gelände der Utopisten ein riesiges gelb-blaues Zirkuszelt. Von einem echten Zirkus zu einem Freundschaftspreis verkauft, ist es mit seinen fast 14 Metern Höhe ein Blickfang.
"Das haben wir komplett selbst aufgebaut mit Jugendlichen aus der Feuerwache. Hat einen Tag gedauert. War auch ein cooles Event, so ein Zirkuszelt aufbauen. Macht man nicht alle Tage und ist erstaunlich einfach."
Im Zelt sollen nun größere Veranstaltungen stattfinden, die im Bahnhofsgebäude keinen Platz hätten. Doch verwaltungsrechtlich ist das gar nicht so einfach. Denn ein Zirkuszelt gilt als fliegender Bau und darf eigentlich nur drei Monate an einem Ort stehen. Damit die Utopisten es nicht bald wieder abbauen müssen, suchen sie nun fieberhaft mit Stadtverwaltung und Ordnungsamt nach einer Lösung.
Stadt Wuppertal schätzt überregional ausstrahlendes Projekt
Im Rathaus der Stadt Wuppertal ist man heilfroh über die Utopiastadt. Denn lange schrumpften in Wuppertal Wirtschaft und Einwohnerzahl gleichermaßen. Heute ist die Lage zwar etwas besser, aber die Stadt hat noch immer mit Schuldenbergen aus alten Zeiten und einem negativen Image zu kämpfen. Da kommt ein kreatives Projekt, das weit über die Region hinausstrahlt, gerade recht. Oberbürgermeister Andreas Mucke (SPD) unterstützt, wo er kann.
"Da braucht man Offenheit dafür. Ich habe immer gesagt: Ich mache die Türen auf für gute Ideen und dann müssen wir die guten Ideen entsprechend nach vorne bringen. Da hilft nichts, die klassische Verwaltungsmentalität, Wagenburg, und dann streng nach Regularien vorgehen. Denn bei solchen Projekten wie Utopiastadt muss man auch mal schräge Gedanken zulassen. Da muss man auch mal damit umgehen können, dass die anders ticken als die üblichen Projektträger. Oder auch aufgrund der basisdemokratischen Strukturen ein bisschen länger brauchen. Und wenn man das respektiert und akzeptiert, dann läuft das auch. Aber das muss man erst mal beherzigen."
Während in Utopiastadt draußen der Biergartenbetrieb weitergeht, sitzt Christian Hampe in einem ruhigen Büroraum im ersten Stock des Bahnhofgebäudes, vor ihm ein Geländeplan. Die Utopiastadt ist, wenn man so will, sein Werk. Gemeinsam mit einer Mitstreiterin kam der studierte Kommunikationsdesigner vor fast zehn Jahren auf die Idee, im alten Mirker Bahnhof eine Begegnungsstätte zu schaffen.
"Es ist ja nicht so, als gäbe es da draußen keine Menschen, die Bock haben zu helfen und ein Stück beizutragen zum Gelingen unserer Gesellschaft. Aber denen fehlen oft die Ressourcen und Rahmenbedingungen, der Ort, um anzukommen und anzupacken."
In wenigen Stunden bricht der 38-jährige Geschäftsführer zu einem Kongress in Dresden auf, wo er über kommunale Entwicklung sprechen soll. Regelmäßig laden ihn Initiativen ein, die von der Utopiastadt lernen wollen. Selbst bei der "Heimatkonferenz des neuen Heimatministeriums in Nordrhein-Westfalen saßen die Utopisten schon mit auf dem Podium. Überall will man wissen, wie sie konkret funktionieren kann, die Gesellschaft der Zukunft.
"Jetzt vor kurzem war ein kleiner Junge da, neun oder zehn, er meinte, er möchte gerne ein Jugendzentrum. Er möchte gerne ein autonomes Jugendzentrum bauen. Wo soll der hingehen? Und jetzt sind wir gerade dabei zu schauen, okay, wie kann man da denn mal so ein kleines autonomes Jugendzentrum von Kindern, wie kann man dafür die Rahmenbedingungen schaffen."
Die Utopiastadt erweitert sich
Die Reise der Utopisten ist noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Erst Anfang des Jahres kaufte die Utopiastadt, mittlerweile eine gemeinnützige GmbH, 11.000 Quadratmeter ehemalige Bahnfläche dazu. Mehr als das Doppelte an Fläche soll im Laufe des Jahres dazukommen – der Utopiastadt-Campus. Was auf diesen Flächen passieren soll, entscheiden Utopisten, Quartiersbewohner und die Nachbarschaft gemeinschaftlich.
In zwei Jahren findet mit dem "Solar Decathlon Europe" ein international renommierter Wettbewerb für nachhaltige Architektur auf dem Gelände statt. Mehrere tausend Besucher werden erwartet. Der Bund hat dafür zwölf Millionen Euro Förderung versprochen. Aus der kleinen Idee, die die Utopisten einmal hatten, ist mittlerweile ein ziemlich großes Vorhaben geworden.
"Wenn das funktioniert, wenn ein paar Freaks es schaffen, den Bahnhof acht Jahre zu betreiben ohne städtische Förderung, ohne dass die Stadt oder das Land die Rechnungen bezahlt. Wenn sie es schaffen, Aurelis tausende von Quadratmetern abzukaufen. Dann können wir alles schaffen, dann kriegen wir das hin. Und sich nicht mehr erschlagen lassen, dass Sachen halt nicht funktionieren."
Und Utopist Hampe legt noch eins drauf: "Auch die Rettung dieser Welt kriegen wir schon noch hin. Aber man muss es halt machen. Und das wirkt an manchen Stellen unrealistisch und es wirkt schwierig und es ist vielleicht nur eine Utopie, aber man kann ja schon mal loslaufen. Und für mich ist Utopiastadt ein Ort, wo man das machen kann. Wo man anfangen kann, loszulaufen."