Die Spuren der Therapie
Die Diagnose Krebs bedeutet heute nicht mehr zwingend den Tod. Doch dass eine erfolgreiche Krebstherapie viele Jahre später krank machen kann, ist bisher kaum bekannt. Einige Ärzte setzen auf regelmäßige Nachsorge und wollen die Patienten besser informieren - unter anderem mit einer Medizin-App.
Ein Sprechzimmer an der Universitätsklinik Lübeck, kurz vor halb neun am Morgen. Untersuchungsliege, Schreibtisch, PC, ein dicker Ordner mit Befunden, die ganz normalen Utensilien. Und doch ist es eine Premiere. Der Hormonspezialist Georg Brabant und der Kinderonkologe Thorsten Langer starten eine neue Sprechstunde. René, 33 Jahre alt, ist der erste Patient.
"So, Rene, schön, dass du da bist…"
Thorsten Langer hat sich am Morgen noch einmal Renés Krankengeschichte angesehen. 2007 die Diagnose: ein Medullo-Blastom, ein Hirntumor.
"Der Plan wär jetzt, wir wollen Dich untersuchen, wir wollen Blut abnehmen, Hormone stehen da im Vordergrund (…) Dann ist Ultraschall, anschließend um Halb elf Kernspin und dann noch um 12 Uhr, dieser Hörtest in der Halsnasenohrenklinik, so wär unser Plan."
Eine lange Liste. Die Krebstherapie hat den Tumor zwar besiegt, aber gesund ist René nicht. Bluthochdruck, Nervenschäden, Gleichgewichtsstörungen, Appetitlosigkeit, trockene Haut, schließlich die Angst davor, der Tumor könnte zurückkehren. Der junge Mann hat zu kämpfen.
"Von dem, was ich vorher hatte, sind das wirklich nur Kleinigkeiten, die übergeblieben sind, die aber leider dann noch ordentlich reinhauen, so vom Gesamten, da merkt man hier und da immer wieder Müdigkeit, und (…) Leistungsfähigkeit ist bei mir nicht wirklich super gegeben, 6, 7, 8, Stunden, ist bei mir so der normale Tag, und alles was davor oder dahinter ist, ist dann mit Müdigkeit geprägt."
Viele Symptome kommen erst nach fünf oder zehn Jahre
Er hat sein altes Leben nicht wieder zurückbekommen, seinen Beruf als Einzelhandelskaufmann musste er aufgeben. Jetzt macht er eine Umschulung zum Bürokaufmann. Doch die Belastung geht bis hart an seine Grenzen. René ist kein Einzelfall. Nicht alle, aber viele Menschen, die eine Krebserkrankung überstanden haben, tragen an den Folgen. Und erst in den letzten paar Jahren zeichnet sich ab, dass viele Komplikationen erst sehr spät auftreten, dann wenn oft keiner mehr damit rechnet. Georg Brabant:
"Wir sprechen von Spätfolgen und wir meinen auch spät, spät heißt nämlich fünf Jahre, zehn Jahre nach der ursprünglichen Behandlung, (…) und das ist auch der Punkt, wo wir hier ansetzen wollen, wo wir hier prophylaktisch diese Spätschäden erkennen wollen und dann den Patienten ein besseres Leben bieten können, hoffentlich, indem wir sie adäquat behandeln."
Georg Brabant ist kein Kinderarzt, auch die Onkologie ist nicht sein Fachgebiet, er kennt sich aus mit dem Hormonhaushalt von Erwachsenen. Und der ist bei René potentiell gleich mehrfach betroffen. Der Tumor in seinem Kopf saß am Kleinhirn, und damit in der Nähe der Hirnanhangsdrüse, die einen ganzen Strauß an Hormonfunktionen zentral steuert. Und die Behandlung hat die Schilddrüse zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen. Nachdem Thorsten Langer Lunge und Herz beim Patienten abgehört hat, folgt deshalb die Ultraschalluntersuchung an der Schilddrüse.
"Dann haben wir hier eine Umkleidekabine für die ganzen Sachen (..) Ja…., man sollte so ein bisschen… den Kopf nach hinten überstrecken, ja… so ist optimal…"
Der Arzt bewegt den Ultraschallkopf am Hals des Patienten entlang.
"Dann wollen wir mal gucken, was wir hier so sehen….Und da muss man sagen, das sieht schon ganz gut aus alles…."
Abweichungen frühzeitig erkennen
"Da achten wir drauf, wie das Muster dieser Schilddrüse im Ultraschall ist, wenn da eine Entzündung wäre, dann ist das schwärzer, (…) und man kann halt sehr schön sehen, ob das Muster glatt und gleichmäßig ist oder ob man da Knoten oder Veränderungen sieht, die einen dazu bringen, noch genauer nachzusuchen, (…) gerade nach so einer Bestrahlung kann das leider passieren."
Entdeckt der Arzt jetzt einen Knoten, kann man ihn frühzeitig behandeln.
"(…) scheint aber jetzt nicht der Fall zu sein, die Größe ist auch normal (…)"
Stellt sich heraus, dass die Schilddrüse nicht mehr voll funktioniert, kann man den Mangel durch Medikamente zumindest ausgleichen.
"(…) weil das kann auch sein, dass die nach einer solchen Behandlung dann insgesamt kleiner wird oder eben nicht so gut funktioniert wie sie sollte (…)"
Atmo „jetzt können sie sich wieder sauber machen“ Stühle rücken dann ausblenden
Wenig öffentliche Aufmerksamkeit für Spätfolgen
Rund 30.000 Menschen, die im Kinder- oder Jugendalter Krebs hatten, leben in Deutschland. Bezogen auf Krebs im Erwachsenenalter zählt das Robert-Koch-Institut zwei Millionen Menschen, deren Krebsdiagnose schon zehn oder mehr Jahre hinter ihnen liegt. Dank guter Krebsmedizin sind sie alle noch am Leben, das ist die gute Nachricht. Doch Krankheit und Therapie hinterlassen Spuren. Und belastbare Zahlen dazu gibt es bisher kaum. Eine Ausnahme sind Zahlen aus Köln. Der Leiter der Hodgkin-Studiengruppe an der Uniklinik, Peter Borchmann, sammelt Informationen über die Gesundheit von Menschen, die als Erwachsene ein Morbus Hodgkin, eine bestimmte Art Lymphdrüsenkrebs, überstanden haben.
Borchmann: "Viele haben Schwierigkeiten, es sind wirklich viele, das sind jetzt nicht drei Prozent oder zwei Prozent, sondern wir reden über 20, 30 Prozent, die Schwierigkeiten haben, langfristig."
Herzschwäche, Herzinfarkt, eingeschränkte Lungenfunktion, Hormonstörungen, Unfruchtbarkeit, chronische Erschöpfung, kognitive Einschränkungen. Auch Brustkrebs und Leukämie sind mögliche Spätfolgen. Doch die Zahlen, die der Mediziner sammelt, finden bisher wenig Echo.
"Es ist nach wie vor, glaube ich, kein Thema, was in der Öffentlichkeit im Vordergrund steht und auch nicht in den Fachkreisen im Vordergrund steht. Das liegt daran, dass es, wenn man über Krebs spricht, nach wie vor sehr viele Krebsarten gibt, an denen die Patienten schnell sterben, wenn wir über Bauchspeicheldrüsenkrebs reden, oder über Lungenkrebs, das ist häufig und daran sterben viele Patienten (…) natürlich wird da eine größere Not gesehen."
Spätfolgen sind ein Randthema. Dabei sind sie oft gut behandelbar, den Betroffenen könnte geholfen werden. Peter Borchmanns Zahlen sind ein Anfang, allerdings für eine kleine Patientengruppe- Morbus-Hodgkin ist vergleichsweise selten. Bisher fragt keiner, wie es den Menschen geht, die Brustkrebs, Prostatakrebs oder Darmkrebs überstanden haben. Auf europäischer Ebene immerhin laufen im Rahmen des Netzwerks PanCare mehrere große Studien, allerdings beschränkt auf Überlebende von Krebs im Kindes- und Jugendalter. Auch aus den Niederlanden, Großbritannien, Skandinavien und den USA gibt es Zahlen.
Nachsorge könnte Kosten sparen
Gute Zahlen wären nicht nur wissenschaftlich und medizinisch spannend. Zusammengenommen mit den Erfahrungen, die sie jetzt in der Sprechstunde sammeln, hofft Thorsten Langer, ergeben sich endlich daraus schlagkräftige Argumente: Dafür, dass die Krankenkassen die Kosten für die nötigen Untersuchungen übernehmen.
"Was wir brauchen sind bundesweite Nachsorge- oder Vorsorgesprechstunden, (…) Diese Sprechstunden müssen in den nächsten Jahren zeigen, dass mit diesem System auch Kosten gespart werden. Wenn wir das zeigen können, dass wir Kosten auch sparen, müssen diese Leistungen auch im Abrechnungssystem vergütet werden."
Bisher kommt die Finanzierung in Lübeck von einem Verein, der Lübeck-Hilfe für krebskranke Kinder. Der Verein hat die Gelder bei der NDR-Benefizaktion Hand in Hand für Norddeutschland beantragt und bewilligt bekommen. Für die kommenden drei Jahre ist eine halbe Arztstelle finanziert. Danach ist wieder alles offen. Überall, wo es in Deutschland ähnliche Sprechstunden gibt, unter anderem in Freiburg und Erlangen, ist die Finanzierung ähnlich organisiert. Ein bisher ziemlich löchriger Flickenteppich. Für viele Patienten bleibt nur der Hausarzt als Ansprechpartner. Doch hier sind die Erfahrungen zwiespältig.
Hausärzte wissen zu wenig über Spätfolgeerkrankungen
"Mein Name ist Christian Müller, ich bin 31 Jahre alt und bin heute hier zur Untersuchung meines Herzens, ob mögliche Spätfolgen entstanden sind, im Rahmen der Chemotherapie vor 25 Jahren."
Christian Müller ist Patient Nummer zwei am Tag eins der Lübecker Sprechstunde. 1989 war er an einem B-Zell-Lymphom erkrankt, die Therapie war erfolgreich. Dass er infolge der Therapie auf sein Herz achten sollte, hat er eher durch Zufall erfahren.
"Ich habe vor drei oder vier Jahren mal eine Studie im Internet gelesen von 1991, dass damals rausgefunden wurde, dass am Herzen sehr spät noch irgendwelche Folgen auftreten können, und dann ist mir das da eigentlich erst bewusst geworden, dass das möglich ist."
Er ließ sich zwar beim Hausarzt regelmäßig durchchecken,
"(…) aber den Hausärzten ist das eigentlich nicht bekannt, also in all den Jahren ist nie mein Herz mal gezielt untersucht worden, also ein Hausarzt hat mich nie zum Kardiologen geschickt, dass der sich das mal im Ultraschall anguckt.
Sensibilisierung der Patienten
Thorsten Langer und seinen Kollegen ist dieses Nicht-Wissen vieler Ärzte bewusst. Weil es noch dauern wird, bis sich das Thema in Fachkreisen etabliert hat, will er auch den Weg über die Aufklärung der Patienten gehen. Christian Müller hat er deshalb als Mitstreiter ins Boot geholt. Ihr gemeinsames Projekt ist eine Medizin-App.
"Es geht darum, dass die ehemals krebskranken Kinder sensibilisiert werden für das Thema der Nachsorge der möglichen Spätfolgen. Es geht jetzt nicht darum, dass den Leuten jetzt unnötig Angst gemacht wird, aber einfach dass die wissen, je nachdem was man für eine Erkrankung hatte, was man für Medikamente bekommen hat, können unterschiedliche Spätfolgen auftreten."
Auf diese Art informiert könnten Patienten, so die Idee, selbst besser einschätzen, welche Untersuchungen Sinn machen. Und gegenüber ihrem Arzt hätten sie eine fundierte Argumentationshilfe.
"Es steht ja auch bei, von wem die App ist, aus welchem Haus sie kommt und die Kontaktdaten sind eben auch angegeben, und das heißt, die Hausärzte haben ja dann auch die Möglichkeit, hier entsprechend Rückfragen zu stellen, oder sich zu erkundigen."
Der Prototyp für die App ist fertig. Wenn die Patienten sie tatsächlich nutzen, kann sie helfen den Versorgungs-Flickenteppich ganz allmählich dichter zu knüpfen.