Die guten Geister des kleinen Dorfes. Kredenbach im Siegerland
Eine Deutschlandrundfahrt von Thilo Schmidt
Ton: Christoph Richter
Regie: Roswitha Graf
Redaktion: Margarete Wohlan
Die guten Geister des kleinen Dorfes
Der Vater ist gestorben und Thilo Schmidt räumt das Haus der Eltern in dem kleinen Ort, in dem er groß geworden ist. Er teilt Erinnerungen, trifft Menschen, die er aus der Jugend kennt, die weiter in Kredenbach leben - und sich für das Dorf engagieren.
Es ist sonnig und warm. Der Blick reicht weit über Kredenbach hinaus ins Ferndorftal. Kredenbach im Siegerland, 1700 Einwohner: das Dorf, in dem ich groß geworden bin und in das ich, längst weit weg wohnend, immer wieder zurückgekehrt bin, und dem ich nun Lebewohl sagen werde. Mein Vater ist gestorben. Unser Haus, ein Holzhaus mit großen Fensterfronten, das meine Eltern 1980 gebaut hatten, ist beinahe leer geräumt. Ich höre noch einmal die Grillen zirpen, ernte zum letzten Mal das Obst und treffe jene, die aus Kredenbach etwas ganz Besonderes machten: Die guten Geister des kleinen Dorfes.
Mein früherer Schulweg: Den steilen Berg runter, unter der steinernen Eisenbahnbrücke durch, am Lindenhof vorbei. Dort, wo stets, bis zu seinem Tod, Lothar Hahn auf der Bank vor der Tür saß, dabei immer Zigarette rauchte und auf Siegerländer Platt fragte: "Na Thilo, wie isset da?"
"Ja, er saß gerne hier und er hat gerne mit den Leuten gesprochen. Das wirst du ja wahrscheinlich noch mitbekommen haben. Er hat eigentlich jeden angesprochen."
Sagt Stephan Hahn, sein Sohn, der heute noch in dem alten, liebevoll restaurierten Haus wohnt. Die rote Holzbank steht immer noch da, wo sie schon immer stand. Lothar, ein alter, stattlicher Mann, erzählte mir auf dem Schulweg Geschichten. Zum Beispiel, wie er, von Beruf Schaffner bei der Bundesbahn, mit ausgestrecktem Arm an der Bahnsteigkante stehend, den Zug, der eigentlich ohne Halt in Kredenbach durchfahren sollte, zum Anhalten brachte, um mitzufahren.
"Ja, zu anderen Zeiten. Heute unvorstellbar", erinnert sich sein Sohn. "Also, eigentlich ist er gelernter Metzger. Hat dann aber schon, weil er früh Kinder hatte und zur damaligen Zeit mit dem Gehalt nicht hätte ernähren können bei der Bundesbahn damals angefangen, '49."
Als Schaffner auf Intercity- und Schnellzügen kam Lothar weit herum, bis nach Helmstedt oder Hamburg.
Der Sohn des Schaffners ist noch da
Und wenn er davon erzählte, dann hat mich das als kleinen Jungen interessiert, weil es war ein bisschen wie die große weite Welt. Wo die Hahns doch Kredenbach immer eng verbunden waren. Sein Sohn Stephan hat Kredenbach nie verlassen und hat Stück für Stück das alte Fachwerkhaus der Familie restauriert. Es ist eines der ältesten Häuser Kredenbachs. Stephan Hahn sagt:
"Die Geschichtsschreiber des Ortes haben gemutmaßt, dass an dieser Stelle wohl der erste Hof Kredenbachs gestanden haben soll. Davon wird wahrscheinlich in der Substanz nicht mehr viel vorhanden sein, weil über die Jahrhunderte umgebaut wurde, vielleicht gab’s auch mal einen Brand. Aber die Hausstätte, also der Ort, an dem das Haus steht, die ist ohne Zweifel historisch und sehr, sehr alt."
Stephan sagt, das Haus war wohl ein Lehnshof des Adelsgeschlechts in Lohe – so heißt ein Teil, der ältere Teil von Kredenbach, der Teil auf der anderen Seite der Bundesstraße. Geschichte und Geschichten aus Kredenbach zu erforschen und weiterzugeben ist Stephan wichtig. Genau wie die Pflege des Ortsbildes. Und die fängt an der eigenen Haustür an.
"Ja, das ist mir wichtig", sagt Stephan Hahn. "Wir brauchen uns nur rumzudrehen, zum Beispiel der Schuppen, der ist also nicht historisch, sondern den hab ich erst 1995 gebaut, auch aus Eichenholz. Und es gab damals keine Auflagen, in der Form bauen zu müssen. Also da hätte ich auch 'ne Fertig-Doppelgarage hinsetzen können. Die hätte ich auch genehmigt bekommen. Aber es war mir eigentlich ein Anliegen, zu sagen, also hier soll eigentlich ein Ensemble entstehen, hier sind lauter alte Häuser, der Ortskern von Kredenbach ist eigentlich noch recht homogen, ohne große Störungen – und dann hab ich gesagt: O.K., ich baue in Fachwerk, und die ganze Geschichte soll dann für sich so ein kleines Ensemble ergeben. Und ich glaube, das ist auch gelungen. Denn wenn man jetzt hier runterkommt, denkt man, das wird wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten so gewesen sein. Ist es aber nicht."
Oberhalb des Elternhauses ein weiter Blick
Wir gehen den Berg hoch, in Richtung der Anhöhe oberhalb meines Elternhauses. Das Siegerland ist Mittelgebirge, und je höher man steht, umso weiter kann man schauen, die nächsten Hügelketten sehen, aufs Dorf blicken.
Stephan Hahn: "Hin und wieder schnapp ich mir dann mal jemanden und sage: Wusstest du schon, dass da früher mal ein Haus stand? Die Kellergewölbe sind vielleicht noch drunter. Oder wusstest du, das in Lohe mal ein Wasserschloss war?"
Ich frage: "Wasserschloss?"
"Das wusstest du noch nicht?"
"Nee, das wusste ich noch nicht."
"Also Lohe ist ja weitaus älter als Kredenbach. Und da wo heute der Gasthof ist, du musst dir vorstellen, früher war da ein großer Teich mit zwei Inseln drin, und auf beiden Inseln war das herrschaftliche Haus derer von Seelbach-Lohe. Also ein Adelsgeschlecht."
Ein Adelsgeschlecht in Kredenbach. Von Lohe, auf das unser Blick von der Höhe nun fällt, war mir nur bekannt, dass hier die Wiege der Eisenerzverhüttung liegt. Im Siegerland wurde schon 600 vor Christus Eisenerz abgebaut und verhüttet. Wenn man etwas sucht, findet man in den Wäldern oberhalb Lohes alte Stollenmundlöcher. Das gewonnene Eisenerz war bekannt für seine Qualität.
Ja, sie haben Wirtschaftsgeschichte geschrieben, die oft als spröde abgetanen Siegerländer mit dem komischen Dialekt. Auch hier, in Kredenbach.
Stephan sagt: "Und heute gerät alles in Vergessenheit. Und ich sehe meine Aufgabe darin, hier und da darauf aufmerksam zu machen. Da, wo du stehst, da war schon mal was anderes."
Wenige machen das Dorf zur Heimat
Ich bin vor beinahe 25 Jahren weggezogen. Erst jetzt wird mir klar, dass es wenige Menschen sind, die das Dorf zur Heimat machen. Stephan ist einer von diesen Menschen, die jedes Dorf braucht. Vielleicht werden sie weniger, die guten Geister. Aber sie bleiben, auch wenn sich das Dorf verändert. 1980, als wir hierhergezogen sind, waren im Tal noch Auenwiesen um den Ferndorfbach, in denen wir spielten, daneben ein Bolzplatz. Das Tal ist jetzt zugebaut mit einem Industriegebiet. Auch den letzten Bauernhof des Dorfes kenne ich noch.
"Ich vermeide, wenn ich von Kredenbach spreche, von einem Dorf zu sprechen", sagt Stephan. "Denn das Wesentliche, was ich mit einem Dorf verbinde, sind die Tiere. Die Haustiere. Und die gibt’s hier nicht mehr. Es gibt noch ein paar Hühner. Aber es gibt kein Schwein mehr. Es gibt keine Kuh mehr. Ja? Ziegen gibt’s auch keine. Von daher: Dorf hat ja immer ein bisschen was mit Landwirtschaftlichem, mit Bäuerlichem zu tun, und das ist nicht mehr da. Ja? Also für mich ist es ein Ort."
Stephan jedoch wäre nicht Stephan, wenn er das nur beklagen würde und nicht versuchen würde, es zu ändern. "Das ist so der Plan, irgendwann den Schuppen nochmal anzubauen, 'nen kleinen Stall hintendran zu bauen und da wieder zwei Ziegen reinzupacken."
Wir gehen den Berg wieder runter. Unser Gespräch kreist immer wieder – um die rote Bank vor Stephans Haus.
"Wer häufig dort war, hier stehen wir gerade, war Frau Doktor Stöber", sagt Stephan. "Die kennst du noch. Und das hab ich immer genossen. Die hatte was zu sagen, ja, vor der ziehe ich den Hut. Die saß dann da, und hat sich ausgeruht, und ist dann mit schwerem Rucksack und zwei schweren Handtaschen hier hoch gelaufen und wollte nicht gefahren werden. Weil sie sagt: 'Ich muss im Alter fit bleiben', zu der Zeit, als sie kein Auto mehr fuhr. 'Ich muss im Alter fit bleiben und da muss ich mich trainieren.' Also ist die alte Frau hier diesen steilen Weg hoch gelaufen bis nach Hause. Aber vorher hat sie unten noch Rast gemacht."
Frau Doktor Stöber, eine herzensgute und gutmütige Frau, die ein bisschen verrückt geworden war, nachdem sie ihre ungeborenen Zwillinge verloren hatte. Und dann mit zwei Papageien alleine in ihrem Haus lebte. Und die dann, weil sie so gutmütig war, zwei Hochstapler in ihrem Haus leben ließ, die sie ausnahmen. Und die dann ihr Haus verkaufen musste und bald danach starb.
Stephan Hahn: "… dann war ich doch sehr, sehr bedrückt, als ich feststellen musste, dass da wirklich nur 'ne Handvoll Leute auf der Beerdigung mitgegangen waren. Also wenn es vielleicht zehn waren in meiner Erinnerung."
Wo man sich gerne hinsetzt
Und jetzt stehen wir wieder hier, vor der roten Holzbank, auf der ich, wenn ich daran vorbeikomme, in Gedanken jedes Mal den alten Lothar Hahn sitzen sehe. Mit Zigarette. Und der Frage: "Na Thilo, wie isset?"
Stephan Hahn: "Ich erwähnte ja, dass meine Mutter seit einiger Zeit bei meinem Bruder in Hessen wohnt. Und sie hat ja nun, mit kurzen Unterbrechungen, ich glaube über fünf Jahrzehnte im örtlichen Lebensmittelgeschäft gearbeitet, gehörte also zum Ortsbild dazu. Und als die letztes Jahr dann mal für 'ne Woche auf Besuch hier unten war, und dann mit mir vorm Haus auf der Bank saß, kamen, ich weiß nicht wie viel, sieben oder acht Leute, die dann da vorbei kamen und meine Mutter da sitzen sahen, auf sie zugestürmt, drückten sie, setzten sich auf die Bank, irgendwann war kein Platz mehr, dann hab ich noch Stühle dabei gestellt … ja, wie soll ich sagen: Es ist so ein Ort, wo man sich gerne hinsetzt, Erinnerungen austauscht …"
Als Kind hat Lothar Hahn mir von seinen Dienstreisen als Schaffner manchmal kleine Dinge mitgebracht, über die ich mich freute, eine Bundesbahn-Schaffnerkelle oder ähnliches. "Na, Herr Doktor, alles im Lot?" rief Lothar Hahn meinem Vater zu, wenn er vorbeikam. Und, erinnert sich Stephan, er hat immer zuerst gefragt, wie es den Kindern geht.
Nicht nur das Haus der Familie Hahn ist ortsbildprägend, die rote Bank davor ist es in gleichem Maße. Eine Bank mit Geschichte, eine Bank der Geschichten.
Stephan Hahn weiß das auch, sagt aber: "… ich versuch das gar nicht, so hoch aufzuhängen. Die steht einfach da. Hingehen und draufsetzen."
Unser Haus ist etwas oberhalb des Friedhofs. Man kann es sehen vom Grab meines Vaters. Mein Vater starb im Februar, er liegt im selben Grab wie meine Mutter, die bereits 1992 verstorben ist, ebenfalls an Krebs. Jetzt, mit 42, weiß ich, dass meine Kindheit endgültig zu Ende ist.
Ein letztes Mal noch habe ich die Erdbeeren in unserem etwas verwilderten Garten geerntet. Die besonders leckeren Walderdbeeren auf der Westseite, nahe am Feld, natürlich auch. Es ist mühsam, so viele davon zu pflücken, dass es für ein Glas Marmelade reicht, mein Vater hat es dennoch jedes Jahr gemacht.
Tosch aus der Dorfclique
Ich ziehe los, um Tosch zu treffen. Tobias Scheffe, den ich von der früheren Dorfclique kenne.
Tosch, kräftiger Typ, Vollbart, treffe ich an seiner Genuss-Hütte, einem rustikal eingerichteten Laden. In den Auslagen: Tabake, Zigarren, Weine, Whiskys und so weiter. Manche im Dorf denken, er hat einen Zwillingsbruder oder es gibt ihn zweimal. Denn Tosch hat nicht nur seinen Laden, sondern ist immer noch Klempner, Imker – und so weiter. Und für alles hat er eine Leidenschaft entwickelt.
Er selbst sagt: "Mehr als zehn Sachen. Leidenschaftlicher Pilzesammler, ich baue gerne Skulpturen, ich baue gerade ein paar Meter höher diese Skulpturenbank für die Stadt Kreuztal in Form des Rothaarsteigzeichens, also da sind noch viele Sachen, die ich sehr sehr gerne mache, ja."
Dabei hat man den gelernten Klempner lange nur mit seinem Monteurswagen durch Kredenbach fahren sehen. Dann hat er angefangen, selber Pfeifen zu schnitzen. Dann kam eins zum anderen: Eigene Tabakkreationen, ein kleines Blockhaus auf seinem Grundstück, in das erst Gleichgesinnte kamen und später Kunden aus Nah und Fern. Dann wurde ihm das Blockhaus zu klein und er mietete einen großen, verglasten Pavillon, der leer stand. Am Ortsrand, unweit meines Elternhauses. Dann kamen alle Dinge, die ihm selber Spaß machen ins Programm: Gute Schnäpse, regionale Lebensmittel, Nassrasur-Utensilien.
"Ich würde mal sagen, ich hab mich einfach entschieden, zu leben und nicht mehr zu arbeiten", sagt Tobias.
"Aber du arbeitest doch, als Klempner …", sage ich.
"Nein, ich lebe als Klempner. Ich mache einfach das, was ich liebe. Und das, was ich liebe, nenne ich Leben. Also wenn du mich anrufst, also meine Zirkulationsleitung hat ein Leck, hast du ja gemacht, vor nicht allzu langer Zeit, dann komm ich total gerne vorbei, und ich mache das gerne. Ich nenn das aber einfach nicht Arbeit. Ich nenne das Leben. Das ist mein Leben. Die Arbeit, die Handwerklichkeit, die Geschicklichkeit, das Wissen, alles, was man dafür braucht, das macht für mich das Leben aus. Das ist Lebensqualität."
Tatsächlich hat Tobias in unserem Haus eine Wasserleitung repariert. Das dauerte 20 Minuten. Der Plausch danach dauerte eine Stunde. In Kredenbach erzählt man, Tobias sei als Angestellter nahezu überall gescheitert. Als Selbstständiger ist er ein Unikum und Erfolgsmodell.
Toschs Bienenvölker
Tosch wirft seinen Schweizer Bergtraktor an, einen Trecker mit angebauter Ladefläche, älter als er selbst. Wir fahren die kurze Strecke zu seinen Bienen auf den Feldern oberhalb der Genusshütte.
"Halbe Million Mädels, die mich begeistert anschauen. Das ist doch mal ein Traum, oder?", flachst er.
"Kennst du alle beim Namen?", flachse ich zurück.
"Ja klar. Maja. Nein, nein, aber ich behaupte mal, die allermeisten kennen mich. Weil ich arbeite eigentlich, also wenn alles normal läuft, komplett ohne Imkerschutz, also diesen Schleier, den man so aufzieht – ich kriege dadurch natürlich viele Stiche ab, aber mit jedem Stich merke ich mehr, was ich tun muss, um mit den Bienen auf einer Höhe zu arbeiten. Die zeigen mir und sagen mir sofort: 'Ey, geh uns nicht nerven.' Oder sie sind erschreckt und erkunden mich und sagen: 'Na, wer bist du?' Und ich denke mal, ich vermute es so, die riechen mich dann und sagen: 'Ach er isses... alles klar … der weiß, was er tut."
Tosch öffnet eine der Holzkisten mit den Waben darin.
"Du siehst hier unten so ein weißes Sekret drin, 'ne? Moment, ich mach mal ein bisschen Platz …"
Tobias lebt im Rhythmus mit seinen Bienen. Die geben ihm Honig …
"… die sind jetzt ein bisschen aufgeregt, weil sie eben so wenig zu fressen haben"
Und er ist gerade dabei, Lippenpflege-Stifte aus dem eigenen Bienenwachs zu kreieren.
"Und wenn du hier guckst, siehst du unten so einen ganz kleinen weißen Strich"
20 Bienenvölker hat Tobias. Insgesamt eine halbe Million Bienen.
"Das sind die Eier. Also ist eine Königin da. Sonst gäbs hier keine Eier."
Und dann sucht Tobias die Königin des Volkes …
"Also hier finde ich sie so noch nicht … das ist aber auch schwer zu finden, weil die ist noch nicht so viel größer wie die normale Biene …"
Er will eine bestimmte Biene unter zehntausenden finden. Keine leichte Aufgabe, auch nicht für einen Bienenflüsterer wie Tobias.
"Hörst du das Brausen? Die zeigen mir jetzt so langsam: Du, wir wollen mal wieder unsere Ruhe haben."
… und dann:
"Da ist sie, die Königin. Hab sie gefunden …"
Er nimmt die Biene zwischen die Finger …
"Gib mir mal diese Klammer in die Hand", sagt er zu mir. "Ich will sie nicht aus den Augen lassen, diese Glasklammer …"
… und setzt sie vorsichtig in eine kleine Plastikklammer, aus der sie nicht herauskann.
Ich frage ihn: "Aber wenn du der jetzt was tust, ist es vorbei mit dem Volk?"
"Das wärs dann, ja", bestätigt Tobias.
Er geht mit der Königin an einen kleinen Tisch bei dem Schuppen. Er will ihr eine kleine Markierung auf den Rücken tupfen, um sie leichter zu finden. Ich halte die Luft an. Bienenköniginnen können nicht stechen. Doch wenn die Königin stirbt, stirbt das ganze Volk. Tobias hält das Leben von Zehntausenden Individuen zwischen seinen Fingern.
"So, das ist jetzt einer der schwierigen Momente für mich, wo alles klappen und funktionieren muss, weil ich darf die Königin halt nicht verletzen, eindrücken oder sonst was, und trotzdem muss ich sie genau in einer Position halten … nämlich genau so … jetzt darf die aber auch nicht weiter rausrutschen."
Alles hat geklappt. Die Farbe muss noch ablüften, damit das Volk den Geruch seiner Königin erkennt.
"So. Und jetzt kommt der spannende Augenblick … Merkst die Bienen, wie aufgebracht die sind, da kommt sie raus … und marschiert nach unten."
Die Bienen erkennen ihre Königin wieder.
"So, meine Folie wieder drauf, damit sich der Deckel nicht verklebt …"
Die Bäckerei macht dicht
Tobias schmeißt den Schweizer Bergtraktor an und dann fahren wir zurück zur Genusshütte. Auf dem Weg frage ich mich dann, wie der das alles schafft. Und wie er es bei alledem, was er tut, auch noch schafft, nicht von Arbeit zu reden, sondern von Leben und Bestimmung. Er sagt, er hat einen Überschuss an positiver Einstellung. Und es ist die Liebe zu seinem Dorf, seinen Menschen und der Natur.
"Ich bin hier groß geworden", sagt er. "Ich kenne hier alles … na gut, alles natürlich nicht, aber vieles, was sich so entwickelt hat, hab' ich ja von klein auf mitbekommen. Ich hab' Läden verschwinden sehen, ich hab' Läden kommen sehen, ich hab' Läden überdauern sehen, wenn ich an die Bäckerei hier unten denke, die jetzt Ende des Jahres wirklich zu machen."
Ich frage: "Wieso das denn?"
"Ja, es macht ja keiner weiter."
Die Bäckerei Fischer? Macht zu? Ein uraltes Geschäft, ich habe da als Kind Süßkram gekauft, Schnuck, wie man im Siegerland sagt. Berni Fischer lässt seine Pferde auf der Wiese neben unserem Haus weiden. Mit der Bäckerei Fischer stirbt ein Teil des Dorfes.
"Die Mitarbeiter haben die Kündigung bekommen", berichtet Tobias.
"Willst du die nicht auch noch übernehmen?"
"Würd' ich sofort machen", sagt er.
"Ehrlich jetzt? Mach doch …Ob du nun elf oder zwölf Dinger am Laufen hast ist doch nun egal …"
"Naja, will ich so jetzt nicht sagen. Also das, was ich mache, will ich auch mit vollem Herzen machen können, und nicht halbherzig. Ich schlaf' ja schon nur fünf Stunden nur, und irgendwann ist mal 'ne Grenze erreicht."
"Aber in den fünf Stunden kannste backen."
"Da könnt ich backen. Da haste recht. Die hätt ich noch."
Erinnerungen ans Krankenhaus
Ich gehe zurück zu meinem Elternhaus. Dessen Zeit für mich nun abläuft.
Mit jeder Musik aus dem Plattenschrank werden Erinnerungen wach. An den weltberühmten Geiger Isaac Stern zum Beispiel, der über verschlungene Wege in der Kulturszene des Siegerlandes ein Freund der Familie wurde. Als er 2001 starb, war das eine Meldung in der Tagesschau.
Viele seiner Familienmitglieder starben in den Gaskammern der Nazis – darum, so schrieben Zeitungen anlässlich seines Todes, kam der in die USA emigrierte Geiger auch erstmalig im April 1999 wieder nach Deutschland. Doch er war schon wenige Monate vorher hier – inkognito. Ein altes Foto zeigt Isaac Stern Zigarre rauchend an unserem Esstisch, neben meinem Vater. Übernachtet hat er im Gästezimmer – meinem ehemaligen Kinderzimmer.
Genau auf der anderen Talseite, auch am Berg, war das Kredenbacher Krankenhaus. Ein kleines Krankenhaus in einem kleinen Dorf, das aber für die Versorgung des nördlichen Siegerlands wichtig war. Mein Vater, geboren im Siegerland, kam in den Siebzigern zurück hierher, nach Stationen in Kiel, Göttingen, Berlin und Kassel. Übernahm mit einem Kollegen die Leitung der Inneren Abteilung. Dann bauten die beiden Chefärzte mit ihren Familien die beiden fast identischen Häuser am Hang.
Der Weg zum Krankenhaus, runter ins Tal, auf der anderen Seite wieder hoch.
"Morje Arthur!" Ich grüße Arthur Fuchs, der auf dem Weg zum Krankenhaus wohnt. Arthur ist 82 und ein Siegerländer, wie er im Buche steht.
"Wie geht’s dir?"
"Gut", sagt Fuchs. "Nur der Frau net. Die is' schwer gefallen und 'ne Rippe gebrochen und so weiter und so fort. Und jetzt ist man in der Nähe vom Krankenhaus und hat nichts davon."
Das Krankenhaus gibt es nicht mehr. Die Tore schlossen sich im Februar für immer, zwei Wochen nach dem Tod meines Vaters. Dabei hatten er und die anderen ehemaligen Mitarbeiter so leidenschaftlich für den Erhalt gekämpft.
"Ja, für die Bevölkerung hier oben ist dat ganz große Malesse. Die Städte Hilchenbach und Kreuztal, die waren ja alle absolut für das Haus, die ganze Bevölkerung war also hier oben absolut für das Haus, und wir hatten ja auch damals gute Ärzte, und es war ja ein angenehmer Aufenthalt hier oben, für die Mitarbeiter, für die Patienten, da wurden also die Patienten noch gepflegt und gehegt … wat ja heute alles vergessen ist, woa?"
Tatsächlich haben die ehemaligen Ärzte die Menschlichkeit immer vor den Profit gestellt. Und waren trotzdem, oder gerade deshalb, erfolgreich.
Arthur Fuchs sagt: "Wir hatten eine Zeit lang eine sehr sehr sehr gute Belegung. 160, 180 Patienten. Durften wir natürlich nicht haben, 'ne? Aber wir hatten sie."
Der Träger, die Diakonie in Südwestfalen, hat die Klinik zugunsten seines Stammhauses in der Kreisstadt Siegen ausbluten lassen, schlecht geredet und schlecht gerechnet. Für seine Ultraschallmedizin war das Krankenhaus überregional bekannt, ebenso für seine Diabetologie.
Arthur Fuchs erinnert sich: "Wie auch der Vater mit seiner Schulung, undsoweiterundsofort, die er immer hatte: Zuckerschulung sagen wir immer hier, Diabetes, das war damals eine hundertprozentige Sache hier. Die Leute, die haben der Sache nachgetrauert noch und noch. Die waren so gut, dass also die Leute von weit her kamen für die Zuckerschulung. Weil die Schulung da war und auch die Ärzte. Die beiden waren ja nun immer da, Brügmann und Schmidt, das war 'ne gesetzte Sache hier."
Platt sprechen im Team
Wir gehen die paar Meter hoch zum Krankenhaus, vorbei an meiner Grundschule. Das Krankenhaus hätte es noch geben können, die Siemag, ein Weltkonzern im Nachbardorf, hätte das Haus gekauft und weiterbetrieben. Aber der Träger blockierte alles. Und hat damit auch ein, so hört man allenthalben, unglaublich solidarisches Team, vom Chefarzt bis zum Hausmeister, zerschlagen. Arthur Fuchs erinnert sich daran, dass der Chefarzt, mein Vater Günter, und der Hausmeister, er selber, in seiner Werkstatt platt schwätzten.
"Wenn er was hatte, und so weiter und so fort, dann kam er auch unten in die Werkstatt", erinnert sich Fuchs. "Dann wurde da auch manchmal so ein bisschen gesprochen, so auf platt noch. Mir ham noch geschwätzt auf platt."
Der Siegerländer, muss man jetzt wissen, ist maulfaul und dafür bekannt, nicht mehr zu sagen als nötig. Und das auf platt.
"Also dat würrich net sä. Dat willich net sä, dat is auch … dat ging alles früher so, ma bruuchte net viel wat zu sää, ma verstand sich auch soo."
Seit langem betrete ich wieder das ehemalige Krankenhaus, das jetzt ein MVZ ist, ein medizinisches Versorgungszentrum.
"Hier war ich ja lang nicht mehr drin. Es riecht immer noch so wie früher."
Ein paar Ärzte haben sich niedergelassen, aber der größte Teil steht leer, und in diesen größten Teil soll jetzt ein Altersheim einziehen.
Arthur Fuchs sagt: "Siehste, hier ist überall Totenstille, hier ist nix mehr."
"Wo war Günters Zimmer, da hinten?", frage ich Arthur Fuchs.
"Dat war hier."
"Nee, Arthur, das war hier. Links."
"Jaja, und dann das zweite Zimmer auf der linken Seite."
Ich erinnere mich daran, dass ganze Stationen auf unserer Terrasse gefeiert haben. Dass das Krankenhaus das Dorf prägte, und das Dorf das Krankenhaus.
Fuchs pflichtet bei: "Aber so war das eben. Der Zusammenhalt, der hier war, den hab ich auch früher nie gekannt nirgendswo so vorgefunden wie hier. Ja, so war das halt. Komm, mir könne hier hingerum gehen, um‘d Haus"
Jeder packte mit an, wo er konnte. Kein teurer Demand-Manager lief kostenoptimierend durchs Haus und bestellte neue Krankenbetten, sondern das tat Arthur Fuchs, der Hausmeister.
"Damals waren mir ja hier noch für alles zuständig. Ich bin also mitgegangen und hab Betten ausgesucht. Sind wir dann rausgefahren, nach Düren rüber, und so weiter. Waren auf jeder Messe damals, ob es was neues gab undsoweiterundsofort …"
Ich frage scherzhaft "Aber Patienten operiert hast du nicht?"
"Nee … Aber zugeguckt schon. Ja. Wenn dann mal irgendwie was war, während der Operation, das war für mich immer ein Gräuel. Weil ich mich dann ausziehen musste. Und neu einkleiden musste. Und dann nachher wieder ausziehen und wieder einkleiden. Aber die Reparaturen, die hab ich dann während dem gemacht."
In der SPD, im Turnverein, im Gesangverein
Maikäfer gab es in Hülle und Fülle hier. Mein Vater brachte mir als Kind manchmal einen mit, dem ich aus einem Schuhkarton ein Haus baute. Zu seiner Pensionierung, die er 2003 im Krankenhaus feierte, kamen zum Abschied Hunderte Maikäfer. Seitdem habe ich hier keinen einzigen mehr gesehen. Arthur Fuchs stellt mir kurz Uwe Hoffmann vor:
"Ach, Tachchen. Das ist mein Nachfolger. Das ist der Hoffmann. Uwe Hoffmann. Und dat is der Thilo Schmidt, dem Günter sin Sohn. Der macht so 'ne Reportage hier. Lauter dummes Zeuch im Kopp."
In Kredenbach ging fast alles auf kurzem Dienstweg. Was Arthur konnte, regelte er selber, Handwerkerehre.
"Da wurd' ich morgens gerufen, oben von der Pforte. Arthur, musst ma raufkommen, ich hab hier 'nen jungem Mann, der steht hier, der will zu dir. 'Ja', sach ich, 'komme hoch'. Stellt er sich vor, er wollte also hier seinen Zivildienst ableisten. Ich sag: 'Ja, wieso, ich hab ja gar keine schriftliche Mitteilung undsoweiterundsofort bekommen. Was ist denn da Sache?' Ja, das wüsst er net, er hätte aber Bescheid gekriegt, er sollte heute hier antreten. 'Ja', sach ich, 'wat soll ich denn jetz mit machen?' Sach ich: 'Wat kannste denn? Wat haste denn schon mal gemacht?' Zuckt er mit den Schultern. Sach ich: 'Kannste denn Rasen mähen?' Ja, dat hätt er schon mal gemacht. 'Ja', sach ich, 'is gut'. Hab ich ihm 'nen Rasenmäher gegeben, hab ihm gesagt, undsoweiterundsofort, anlassen, war ja noch zum Ziehen, sind wir hier raufgegangen, 'Mähste immer so rum, dann schmeißte immer da nach inne.' Ja, gut. Ich war kaum in der Werkstatt, krieg ich en Anruf. Arthur, musst ma sofort raufkommen. Ich sach, wat ist denn los? Ja, der liegt hier vorn beim Doktor Wilhelm im Zimmer, hat er sich vorne den Zeh abgemäht."
Arthur war in der Partei, SPD, das gehörte sich lange Zeit im nördlichen Siegerland so, in der Gewerkschaft, im Turnverein – und im Männergesangsverein Germania Kredenbach. Nun hat der Chor das Singen eingestellt. Es kommt kein Nachwuchs mehr.
"Wir wolln dat ja auch machen. Wir versuchen ja auch alles Mögliche, dafür zu machen", berichtet Arthur Fuchs von den Bemühungen des Vereins. "Aber es kommt keiner! Es kommt kein Nachwuchs mehr! Es will keiner mehr!"
Da wird Arthur fast zornig. Hat doch das Chorsingen eine lange Tradition im Siegerland, die mit Bergbau und Industrialisierung einherging.
"Ja, und dann halten wir uns so auf der Bühne, nur, dass wir noch vereinsmäßig sind … uns halten. Kann ja mal sein, dass wenn da irgendwann mal jüngere sind, dann brauchen die nicht mehr neu zu gründen, wir haben dann noch einen Verein, woä?"
Vor einigen Jahren konnte ich den Kredenbacher Chor aufnehmen, da hat er noch gesungen.
Und wenn man genau hinhört, dann hört man Arthur Fuchs‘ Bassstimme.
Holz aus dem Hauberg
Das Nachbarhaus, in dem lange der Kollege meines Vaters wohnte, ist schon vor zehn Jahren verkauft worden. Gekauft haben es Thorsten und Marion Münker. Marion, mit der ich zusammen Abitur gemacht habe, kommt aus dem Nachbardorf. Mit Thorsten und dem Rest der Dorfclique habe ich früher den üblichen Unsinn angestellt, über den man später besser nicht öffentlich spricht.
Kinder stürmen heran: "Wir wollen auch mit Trecker fahren! Papa, dürfen wir auch mal Hallo sagen? Sind wir dann im Radio?"
Jetzt freuen wir uns, wenn wir uns wiedersehen. Meine Tochter weiß längst die Qualitäten des Landlebens zu schätzen. Für sie ist jeder Besuch in Kredenbach eine Abenteuerreise, und mit den drei Münker-Jungs, jeder so blond wie Michel aus Lönneberga, ist sie längst befreundet. Thorsten kurbelt den uralten Trecker an und fährt uns mit zehn PS den Berg hoch.
Ich frage Thorsten Münker: "Du willst aber jetzt nicht hier hoch mit dem Trecker, oder?"
"Oh doch!"
"Das ist aber ganz schön steil!"
"Der ist aber auch mit zehn PS ganz schön stark."
Thorsten steuert auf die Siegerbergquelle oberhalb des Dorfes zu, in den Wald hinein. Er kennt die Wälder um Kredenbach wie seine Westentasche. Er macht im "Hauberg" – einer uralten Siegerländer Waldbewirtschaftung, genossenschaftlich organisiert.
"Das ist 'ne Niederwaldwirtschaft, das heißt, man hat 18 bis 20 Jahre Umtriebzeit, in denen der Wald wächst", erklärt Thorsten Münker. "Und nach 20 Jahren sind die Bäume so groß, dass sie gehauen werden, daher der Name 'Hauberg'. So, das heißt, man teilt in 'nem Ort den Hauberg, das sind die Waldflächen, die so einen Ort umgeben, in 20 Teile ein, heißt, man nutzt eigentlich immer nur ein Zwanzigstel pro Jahr, das heißt man holt nie mehr aus dem Wald raus, wie auch wieder nachwachsen kann."
Früher wurde im Hauberg nicht nur Brennholz gewonnen, sondern im Zyklus der Jahre auch Gerberlohe – Baumrinde zum Gerben von Leder und Holzkohle für die Hüttenwerke. Außerdem graste das Vieh in den geschlagenen Waldteilen und es wurde Roggen und Buchweizen angebaut. Und profitiert haben nicht ein Fürst oder Graf, sondern die Dorfbewohner.
Thorsten Münker fährt fort: "Also letztendlich, der Hauberg ist ein ideeller Wert. Also keinem gehört jetzt der Baum A oder der Baum B oder soundsoviel Bäume auf 'nem ganz konkreten Grundstück, sondern es ist ein genossenschaftlicher Besitz und du hast 'nen ideellen Anteil daran. Das heißt, ein Ort hat 'ne bestimmte Größe Wald, und dann wird das in Anteile, die sogenannten Pfennige, eingeteilt. Wir in der Familie hatten, ich glaub, 8 oder 12 Pfennig, und früher wars dann so, je nach dem, wie viele Anteile man hat, so viel Holz hat man dann auch verlost bekommen. Und so konnte man rausholen. Und diese Pfennige, die wurden und werden auch heute noch vererbt, und man muss schon gutes Glück haben, wenn man noch nicht in 'nem Hauberg Genosse ist, da überhaupt Pfennige zu erwerben."
Thorstens Familie, seit Generationen in Kredenbach ansässig, hat die Pfennige nie aus der Hand gegeben. Der Hauberg ist nicht mehr überlebenswichtig, aber die Tradition lebt weiter.
"Für mich ist es natürlich ein bisschen Idealismus", sagt Thorsten Münker. "Ich fand es irgendwie total abwegig, dass man irgendwelche Konflikte zwischen Staaten provoziert oder vom Zaun bricht, weil irgendwo irgendeine politisch gewollte Pipeline durchgezogen wird, oder weil man billiges Holz irgendwo aus Polen oder aus Litauen oder weiß der Henker woher herbeikarrt mit riesigen Lastwagen oder Zügen, und wir haben eigentlich das, was wir hier brauchen, das haben wir hier ganz nachhaltig vor der Haustür. Wir brauchen ja einfach nur uns ein bisschen Arbeit zu machen …"
Thorsten verbringt beinahe jede freie Minute im Wald, mit Trecker und Kettensäge.
"Man sagt ja auch, Holz macht immer ein paar mal warm", sagt er: "Einmal beim Schlagen, einmal beim Sägen, einmal beim Spalten, und dann ganz zum Schluss irgendwann mal in der Heizung, also das ist ein sehr müßiges Geschäft."
Aber: Thorsten heizt das ganze Haus, 230 Quadratmeter, mit seinem eigenen Holz. Dafür hat er sich eine Holz-Zentralheizung angebaut. Seit fünf Jahren ist der Gashahn abgedreht. Und Thorsten ständig im Wald.
"Hier in Kredenbach isset so, es geht meist so im Februar los, also die Haubergsknütze, wie man das hier im Siegerland so sagt, die sind dann auch schon heiß drauf, die wollen dann auch in den Wald, egal, ob minus 10 Grad und 20 Zentimeter Schnee, dann geht es einfach los …"
Einmal um die Ruhebank herum Platz schaffen
Die Siegerbergquelle plätschert vor sich hin, das Wasser tritt hier aus dem Berg. Die Quelle ist mit einer kleinen Mauer eingefasst. Das köstliche Quellwasser läuft aus einem kleinen Hahn heraus. Thorsten Münker spricht über das Plätzchen und wie er es zurückerobert hat:
"Das ist eigentlich 'ne ganz schöne Ecke mit 'ner Ruhebank, und die musste jetzt einfach mal freigeschnitten werden. Die Himbeeren wuchsen einem sprichwörtlich schon in den Mund rein, und Wald ist ja nicht nur ein Ort, wo man arbeiten und sich verausgaben kann, Wald ist natürlich auch ein ganz toller Rückzugsort, um sich hinzusetzen und zur Ruhe zu kommen. Und damit man die Qualität dann eben auch hat, hab ich mich entschieden, mal ein bisschen hier freizuschneiden …"
Thorsten hat seine Motorsäge nicht mitgebracht, um für sich Holz zu schlagen, dazu ist es auch viel zu warm und das Holz viel zu feucht.
Mit geübten Bewegungen ist die Bank freigeschnitten vom Bewuchs. Thorsten kümmert sich um das Dorf, weil er will, dass es lebenswert ist. Ganz ohne selbst etwas davon zu haben – außer ein lebenswertes Dorf.
"Ich finde, das ist das, was ein Dorf ausmacht, aber klar, muss man auch sagen, das ehrenamtliche Engagement geht auch im dörflichen Bereich immer stärker zurück. Dass es dann zum Schluss die wenigen üblichen Verdächtigen sind, die sich da noch einsetzen."
Die üblichen Verdächtigen. Man könnte auch sagen: Die guten Geister, die das Dorf so lebenswert machen. Wegen derer man gerne zurückkommt, die so vieles im Verborgenen tun. Traditionen am Leben erhalten und Geschichten weitergeben, ohne die wir nicht wären, was wir sind. Thorsten überlegt, durch kleine Schautafeln an die alten Kredenbacher Hausnamen zu erinnern.
Thorsten Münker: "Wenn ich als kleiner Junge hier durch Kredenbach gelaufen bin, wenn dann 'ne alte Oma, oder ein alter Opa, wenn die auf mich zukamen und dann auf platt fragten: 'Wem bist du da?' Also heißt zu wem gehörst du denn? Dann musste man nicht sagen Münker, da gab es genug von. Aber wenn man dann sagte 'Frerijes' – 'Ach ja, vom Otto!' Dann war der Drops gelutscht und jeder wusste Bescheid. Also die Hausnamen – die waren Identifikation. Und die kamen zum Teil eben über den Namen eines Vorfahren, Frerijes kommt von Friedrich, aber das konnte auch – ein Haus heißt Schurmeistersch, das ist der Schulmeister gewesen, und da gibt es so 'ne ganze Menge Hausnamen. Gugges, Kaspersch, Frerijes, wie gesagt, Zierwisses, Löbachs, Vornge Hütte, Hinger Hütte …"
Bezahlt werden könnten die Schautafeln über die Hausnamen vom Geld einer Kredenbacher Genossenschaft, die so zersplittert ist, dass jedem Genossen nur Cents ausgeschüttet würden, und deren Vorstand daher beschlossen hat, den Gewinn gemeinnützigen Zwecken zu widmen. Wie viel Wärme doch ist in diesem kargen Landstrich, der so oft als hinterwäldlerisch beschrieben wird.
Thorsten Münker sagt: "Siegerland ist sowieso nicht der Nabel der Welt, es ist 'ne Ecke – wir haben sehr viel Regen, die Böden sind extrem karg – und insofern sind die Menschen hier, ich will nicht sagen arm gewesen, aber die mussten schon richtig malochen. Das kennen meine Eltern noch, wenn im Sommer die Ernte eingefahren werden musste oder die Kartoffeln im Herbst, und Schlechtwetter drohte, dann haben alle zusammen angepackt. Man war aufeinander angewiesen. Und man wusste, man kann nur aus der Gemeinschaft raus kann es einem gut gehen, und wenn du dich um deinen Nachbarn kümmerst, nur dann packst du das auch selber."
Vielleicht ist das der Grund, warum es an kaum einem anderen Ort in Deutschland so viele Weltmarktführer wie im Siegerland gibt, vor allem in der mittelständischen Metallverarbeitung. Weil Not erfinderisch macht, weil jeder will, dass es auch dem Nachbarn gut geht. Thorsten Münker sagt:
"Und ich glaube, das ist 'ne gute Grundlage, sich mit Dingen, die einfach so sind, eben nicht zufrieden zu geben, sondern immer wieder sich auf die Suche zu machen, wie kann man irgendwas noch besser machen, oder wie können wir nach vorne kommen. Und ich glaube, das ist genau die Grundlage dafür, dass hier sehr viele innovative Firmen gewachsen sind. Aber in der Tat haben wir hier sehr viele Weltmarktführer in 'ner Vorreiterposition. Aber das ist nicht alles. Das entscheidende ist: Das sind fast alles familiengeführte Unternehmen. Derjenige, der das Unternehmen mal irgendwann gegründet hat, hängt da persönlich auch mit Herzblut dran."
Die Siegerländer gelten als spröde und hinterwäldlerisch. Ich habe dem früher zumindest nicht widersprochen. Vielleicht musste das so sein, vielleicht muss man so denken, wenn man als junger Mensch in die große Stadt geht. Ein Irrtum war es trotzdem.
"Ich hab eben mit Stolz berichtet, wie viel Spaß mir der Wald macht und die Arbeit im Feldgarten. Und ich baue auch das Gemüse und die Kartoffeln, die wir so übers Jahr brauchen, bauen wir neuerdings wieder selber an", erzählt mir Thorsten Münker: "Klar, du kannst dir alles in den Schoß fallen lassen, du kannst dir alles aus der Einwegpackung rauspellen und dann in den gelben Sack füllen, aber du kannst dich auch einfach mal ein bisschen bewegen und selber was bewirtschaften. Und diese ewig langen Ketten, die dann irgendwo auch zur Umweltverschmutzung führen, und zur Energieverschwendung. Man kann genauso sagen, hier, ich bin doch nicht bekloppt und plag mich da schweißgebadet in irgendwelchen zeckenbesetzten Sträuchern um da irgendson Holzscheit rauszuholen, wie hinterwäldlerisch ist das denn. Wofür haben wir denn Brennstoffzellen in der Entwicklung, und wofür haben wir denn sauberes Erdgas, klar. Wenn man das so sieht, dann ist man vielleicht der Hinterwäldler. Aber … ich bin nicht überzeugt davon, dass wir die Ewiggestrigen sind."
Wir fahren zurück, mit zehn PS den Berg herunter, zu den beiden Häusern am Berghang. Die Kinder erwarten uns schon, denn jetzt sind sie dran mit Treckerfahren. Sie geben die Richtung vor: "Wir fahren jetzt Trecker. Auf den Atzebüll."
Als ich vor zehn Jahren erfuhr, dass Marion und Thorsten die neuen Nachbarn meines Vaters werden, wusste ich sofort, dass das eine schöne Zeit wird. Für Münkers, für meinen Vater Günter, für mich. Nun ist sie vorbei.
Abschied nehmen
Die Musik überdauert die Zeit. Die Musik, mit der ich aufgewachsen bin, die mich geprägt hat. Konstantin Wecker, dessen Konzerte ich mit meinen Eltern schon als Kind besucht habe, gehört dazu. Er gab gelegentlich Konzerte im Siegerland, und mein Vater hat oft von der ein oder anderen Flasche Wein erzählt, die er mit Wecker nach den Konzerten getrunken hat.
"Der Günter, der ist für uns, oder für meine Kids der dritte Opa gewesen", erzählt Thorsten Münker über meinen Vater. "Das war einfach ein riesen Glücksgriff. Ist es bis heute. Meine Jungs, der Ruben, der Kilian und der kleine Frieder – wenn Günter den dreien da von den Mineralien erzählt hat, die waren ja sowas von happy. Und wenn sie dann noch so ein Steinchen mitnehmen durften – also er hatte auch ein ganz tolles Talent, Menschen, gerade auch Kinder, für Dinge zu interessieren. Egal ob jetzt die Mineralogie oder viele andere Dinge. Das war 'ne spitzenmäßige Zeit. Ich möchte die nicht missen. Und ja klar. Wenn man weiß, die Zeit ist vorbei, dann hat man mehr als 'ne Träne im Knopfloch."
Die Mineraliensammlung meines Vaters hat ihren Platz im Heimatmuseum gefunden, manche alten Möbel bei meinen Brüdern und mir.
Es naht die Zeit, Abschied von Kredenbach zu nehmen. Und Abschied von den guten Geistern des kleinen Dorfes.
Die Äpfel aus dem Garten sind reif. Es bleibt die Erinnerung an den leckeren Saft, den mein Vater von ihnen pressen ließ. An Berni Fischers Pferde auf der Koppel nebenan. An das Rascheln der Bäume im Wind, das Zirpen der Grillen, das Pfeifen des kleinen Zuges im Tal.
In unserem Haus wohnen jetzt andere Leute.