Kreislaufwirtschaft in Frankreich

Null Abfall ist das Ziel

22:52 Minuten
Plastiktüten mit Müll liegen neben Mülltonnen in einer Pariser Straße mit dem Eiffelturm im Hintergrund.
Laut aktueller EU-Statistiken produzieren Franzosen 510 Kilo Müll jährlich, Deutsche 630 Kilo. © AFP / Jacques Demarthon
Von Suzanne Krause |
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Müll recyceln ist gut, Müll vermeiden ist besser. Diesem Grundsatz folgt das Kreislaufwirtschaftsgesetz, das die französische Regierung gerade durchs Parlament bringt. Es geht um das Ende der Wegwerfgesellschaft. Einige zeigen, wie es geht.
In einer ruhigen Seitenstraße im Pariser Zentrum, zu Füßen der Kathedrale Sacré-Cœur, residiert das "Maison Zéro Déchet" – das "Null-Abfall-Haus". Seit 2017 verkaufen Alix Gessain und ihre Mitstreiter hier alles für eine Zukunft ohne Müll.
"Bei uns findet sich eine breite Palette an ‚No-Waste‘-Produkten unter einem Dach. Hier links ist die Abteilung Küche, gegenüber steht alles für das Bad. Und dahinten, neben der Bücherecke mit Ratgebern, gibt es Babybedarf wie Stoffwindeln."
In einer anderen Ecke liegen klassische Thermosflaschen, hippe Edelstahl-Trinkhalme, Shampoo und Deo in fester Form, waschbare Damenbinden aus buntem Stoff.
Im Pariser "Maison Zéro Déchet" – "Null-Abfall-Haus" - wird seit 2017 alles verkauft zur Müllvermeidung. In dem kleinen Laden stehen Kundinnen an der Kasse.
Im Pariser "Maison Zéro Déchet" – "Null-Abfall-Haus" - können Kunden seit 2017 Produkte kaufen, die weniger Abfall produzieren.© Suzanne Krause
Und warum sind eigentlich die waschbaren Abschminktücher schon wieder alle, fragt Alix Gessain. Die letzte Packung trägt gerade eine hochschwangere Kundin zur Kasse.
"Ich stelle ein Geburtstagspaket für meine Mutter zusammen. Mit Dingen, die sie für einen abfalllosen Alltag braucht: Zahncreme in fester Form, die verwende ich auch selbst. Dazu eine Zahnbürste, zwar aus Plastik, aber mit austauschbarem Bürstenkopf. Und ich suche noch eine Kosmetiktasche aus recyceltem Material. Meine Mutter ist Lehrerin in der Provinz und hat kürzlich mit ihren Schülern ein Projekt zum Thema Lebensmittelverschwendung gemacht. In ihrem Kaff gibt es diese ‚No-Waste‘-Produkte nicht. Da bietet ihr Geburtstag die Gelegenheit, sie mit solchen Produkten vertraut zu machen, die für mich alltäglich werden."

Kurse: Elektrogeräte reparieren, Waschmittel herstellen

Im Raum hinter der Kasse sortiert ein Mitarbeiter Besteck. Vor ihm ein Regal mit Geschirrbergen. Alles hier ist zum Ausleihen, erklärt er. Gratis! Jeder kann für Geburtstagspartys, Schulfeste oder sogar Konzerte mit mehreren hundert Teilnehmern alles ausborgen. Denn: Teilen wird in der "Zero-Waste"-Bewegung großgeschrieben. Das gilt auch für nützliches Wissen: Wie repariere ich meine Elektrogeräte oder stelle selbst Waschmittel her. Für alles gibt es im "Null-Abfall-Haus" regelmäßig Einführungskurse und noch viel mehr, erklärt Mitarbeiterin Alix Gessain.
Aktivisten in Paris rufen zur Müllvermeidung auf. Sie tragen ein T-Shirt mit dem Satz "Zero Waste Paris".
Aktivisten von "Zero Waste France" rufen zur Müllvermeidung in Paris auf.© Suzanne Krause
"Der Saal ist meist rappel voll. Es passen rund 40 Personen rein. Am meisten Andrang herrscht beim Vortrag zur Lobbyarbeit der Industrie. Da stehen die Leute Schlange."
Vom Ex und Hopp der Wegwerfgesellschaft haben immer mehr Menschen in Paris wie auch im Rest des Landes die Nase voll. Nicht nur, weil wilde Müllkippen vielerorts Felder und Wälder verschandeln.

Franzosen produzieren 510 Kilo Müll, Deutsche 630 Kilo

Als neues Leitmotiv gilt in Frankreich der Begriff "Anti-Gaspillage" – das bedeutet: "Gegen Verschwendung". Ein nötiger Appell, blickt man auf die aktuellen EU-Statistiken: Demnach produziert jeder Franzose jährlich insgesamt rund 510 Kilo Müll.
Damit liegen die Franzosen rund 30 Kilo über dem EU-Durchschnitt laut Eurostat. Noch schlimmer sind allerdings die Deutschen, die rund 630 Kilo Müll pro Jahr produzieren und offenbar auf das nachträgliche Recycling hoffen. Die Franzosen wollen früher ansetzen, erklärt Laura Chatel vom Verein "Zero Waste France".
"Bei uns meint die Bevölkerung, man müsse das Müllaufkommen per se reduzieren, man könne nicht nur auf Recycling setzen. Dass sich dieser Gedanke bei uns schneller verbreitet hat als auf der anderen Rheinseite, liegt auch daran, dass viele Franzosen meinen, ihr Land sei dreckig, weil die Abfallverwaltung mangelhaft sei. Das treibt manche an, selbst aktiv zu werden. Und Abfall zu vermeiden."

Regierung verabschiedet Gesetz für Kreislaufwirtschaft

Unterstützt werden Frankreichs "Null-Müll"-Aktivisten auch von Premierminister Édouard Philippe, der gerade neue Gesetze auf den Weg bringt:
"Es geht nicht darum, zu sagen, dass nun jeder so leben muss. Sondern darum, zu zeigen: Es ist möglich. Da kann unsere Regierung mit entsprechenden Erlassen ein solches Verhalten anspornen. Das aktuelle Gesetzesprojekt zur Kreislaufwirtschaft enthält diesbezüglich viele neue Maßnahmen."
Frankreichs Regierung plant zum Beispiel, ab 2021 alle Hersteller zu verpflichten, bei Elektrogeräten genau zu kennzeichnen, ob und wie sie repariert werden können. Dazu müssen die Hersteller Ersatzteile langfristig vorhalten, gleichfalls sollen Reparaturen mit gebrauchten Elektroteilen erlaubt werden. Alles mit dem Ziel, die Geräte im Haushalt länger zu nutzen.
Ähnliches gilt auch für Flaschen, Dosen und andere Behälter. Sie sollen nicht mehr im Müll landen, sondern durch ein modernes Pfandsystem im Wirtschaftskreislauf bleiben. Und was weggeworfen wird an Plastik, soll bis 2025 zu 100 Prozent recycelt werden, und nicht wie bisher oft im Feuer oder im Ausland landen.

Supermärkte dürfen seit 2016 kein Essen wegwerfen

Falls das gelingt, würde Frankreich sicher wieder weltweit in den Schlagzeilen landen wie 2016:
Supermärkte dürfen seit drei Jahren in Frankreich kein Essen mehr wegwerfen, das nicht verkauft wurde oder wo das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Dieses Verbot will die Regierung nun auf alle Produktbereiche ausdehnen – von Elektrogeräten bis zu Textilien, kündigte Premier Édouard Philippe an.
"Wir werden verbieten, unverkaufte Ware einfach wegzuwerfen. Bei dieser Maßnahme handelt es sich um eine Weltpremiere. Wir setzen nicht auf Zwang. Sondern darauf, die Unternehmen bei ihrer Lagerverwaltung, ihrer Produktion zu unterstützen, beim Recyceln ihrer Waren. Kurzum: Wir wollen im Wirtschaftsbereich ein neues Kapitel aufschlagen, um Rohstoffe zu sparen und gleichfalls die unerträgliche Verschwendung zu unterbinden."
Bislang würden, so die Regierung in Paris, landauf, landab jährlich neue Produkte im Wert von 600 Millionen Euro mutwillig verschrottet. Ins öffentliche Bewusstsein kam das dank einer im Frühjahr ausgestrahlten TV-Reportage.

Skandal: Amazon wirft Produkte weg, statt sie zu lagern

Die Bilder zeigen, wie in einer Lagerhalle der US-Konzern Amazon neue Windeln, Bücher und Fernseher einfach vernichtet, weil es offenbar günstiger ist, Dinge wegzuwerfen als sie zu lagern. Ein ähnlicher Fall sorgte auch in Deutschland im vergangenen Jahr für einen Skandal, als Amazon Retourware in großer Stückzahl vernichtete. Spürbare Konsequenzen zieht nun die Regierung in Paris. Kein Wunder, sagt "Zero-Waste"-Aktivistin Laura Chatel:
"Als die Reportage zu den Amazon-Praktiken im Fernsehen lief, steckte unser Land mitten in der 'Gilet-Jaunes-Krise', der Protestbewegung gegen den Kaufkraft-Verfall. Mancher Franzose ist heute zu arm, um sich gewisse Gebrauchsgüter zu leisten. Und da zeigt diese Reportage, wie gleichzeitig umfangreich Neuware zerstört wird. Das war sehr schockierend."

Experiment: Rue de Paradis wird zur "abfalllosen Straße"

Eine Zukunft ohne Wegwerf-Mentalität wünschen sich auch viele Anwohner der Rue de Paradis. In der kleinen Straße nahe dem Pariser Ostbahnhof treffen sich junge Mittelstandsfamilien gern zum Picknick, bringen selbst gekochte Gerichte und eigenes Geschirr mit. Einige nähen sich Baguette-Taschen aus Stoffresten.
Für 2019 hat das Bezirksrathaus die Rue de Paradis nahe dem Pariser Ostbahnhof zur "abfalllosen Straße" ausgerufen. Viele Familien machen mit und treffen sich zum Picknick.
Für 2019 hat das Bezirksrathaus die Rue de Paradis zur "abfalllosen Straße" ausgerufen. Viele Familien machen mit und vermeiden Plastik beim Picknick.© Suzanne Krause
Und nebenan haben Aktivistinnen der "Zero-Waste"-Bewegung einen Tisch aufgebaut. Darauf liegt ein dunkler, gefüllter Müllsack, in den die Anwohner greifen sollen. Ein Mittvierziger traut sich und macht mit bei dem lehrreichen Spiel:
Er greift eine kleine Kaffee-Verpackung aus Aluminium und soll sagen, wie wir das vermeiden könnten?
"Keinen Kaffee mehr trinken! … Ach, Quatsch! … Diese Portions-Döschen könnte man nicht mehr kaufen."
"Ja. Sie können Ihren Kaffee auch lose kaufen und im mitgebrachten Stoffsäckchen nach Hause tragen."
Solche und ähnliche Tipps kriegen die Anwohner der Rue de Paradis seit Jahresbeginn zuhauf vermittelt. Seit das Bezirksrathaus – Hand in Hand mit Vereinen und einem Zusammenschluss lokaler Geschäftsleute – die Paradis-Straße zur "Abfalllosen Straße" ausgerufen hat. Ein einjähriges Experiment in Frankreichs Hauptstadt, zu dem viele, die hier leben oder arbeiten, ihren Teil beitragen.
Wie zum Beispiel Vittoria Romain, die ein kleines Speiselokal mit regionaler Bioware betreibt. Die Italienerin hat ein schlagkräftiges Argument, um ihre Klientel zur Abkehr von Einwegverpackungen zu ermuntern: finanzielle Anreize.
"Kunden, die ihr Mittagessen für das Büro in die eigene Lunch-Box abfüllen lassen, erhalten fünf Prozent Rabatt."

Kinder in der Vorschule wiegen ihre Essensreste

Das Bewusstsein für einen besseren Umgang mit den Ressourcen soll auch schon bei den ganz Kleinen geweckt werden. Deshalb haben die Kinder in der lokalen Vorschule ein Experiment gemacht: Regelmäßig sollten sie ihre Essensreste abwägen, um zu verstehen, was Verschwendung konkret bedeutet. Das führte zu einem Umdenken: Nun gibt es in der Kantine keine Einheitsportionen mehr, sondern jedes Kind erhält soviel, wie es wirklich essen kann.
Andere Mosaik-Steine steuert die Pariser Stadtverwaltung bei: In der Rue de Paradis gibt es nun kostenlose Mini-Komposter für den Biomüll, mehr Recycling-Tonnen, Gratis-Kurse zur Mülltrennung oder zur Eigenproduktion von Kosmetika.
Als "oberster Müllmann" in der Stadtverwaltung fungiert Paul Simondon. Er ist zuständig für die Pariser Abfallpolitik und betrachtet das Motto "Zéro déchet" – "Null Abfall" realistisch:
"Das bedeutet nicht, dass es mal gar keinen Müll mehr geben wird. Bei unserer Zielvorgabe ‚Null Abfall‘ geht es um Strategien, um das Müllaufkommen von vorneherein zu reduzieren, Abfall wieder zu verwerten, zu recyceln."
Laut der Halbzeitbilanz des "Zéro-Déchet"-Projekts fielen in der Rue de Paradis im Vergleich zum Vorjahr bisher rund 20 Prozent weniger Abfall an. Immerhin.

500 Familien in Roubaix halbieren ihren Abfall

Auf Kreislaufwirtschaft setzt auch die nordfranzösische Stadt Roubaix – und bewirbt dies mit einem Filmchen im Internet. Mit Erfolg: In Roubaix machen 500 Familien mit bei der "Zéro Déchet"-Bewegung. Sie konnten ihren Abfall um rund die Hälfte reduzieren. Andrée Nieuwjar zum Beispiel kauft nur noch lose Ware und zieht ihr Gemüse in einem bei der Gemeinde gepachteten Gärtchen. Auf ihrem Balkon steht eine Kompost-Kiste, die die Stadtverwaltung kostenlos abgibt. Bei Gratis-Kursen im Rathaus hat die Rentnerin gelernt, Waschmittel und Haushaltsreiniger selbst herzustellen. Der Umweltschutz sei nur ein Aspekt, sagt Andrée Nieuwjar in einer Video-Reportage auf der Website der französischen Regierung.
"Für meinen Mann und mich gebe ich im Monat beim Einkauf nur noch 200 Euro aus. Ich kaufe alles lose, nur so viel, wie wir brauchen. Jetzt bleibt am Monatsende Geld für Miete und die Rechnungen. Ich lebe besser, ohne mich einzuschränken."
Seit über fünf Jahren setzt das Rathaus in Roubaix auf die "Null-Abfall"-Politik. Anfangs, um die Stadt sauberer zu machen. Mittlerweile, weil das Thema Kreislaufwirtschaft voll im Zeitgeist liegt. Und in Roubaix – der verarmten, einst reichen "Textil-Stadt" Frankreichs – zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg beiträgt, erklärt Alexandre Garcin, im Rathaus Experte für nachhaltige Entwicklung.
"Nach und nach haben sich hier junge Unternehmen angesiedelt. Aktuell sind es 30 Betriebe im Sektor Kreislaufwirtschaft. Weitere 30 Projekte sind im Aufbau."

Kindern geben Eltern Nachhilfe in Plastikvermeidung

Es bewegt sich etwas in Frankreich. In der Pariser Vorzeigestraße Rue de Paradis erhalten die Eltern inzwischen Nachhilfe von ihren Kindern, erzählt dieser junge Familienvater beim "Zéro-Déchet"-Straßenfest.
"Ich bin kürzlich von meinen Kindern ausgeschimpft worden, weil ich eine Plastik-ummantelte Feldflasche nutzte. Auch wenn ich ihnen vorgebetet habe, dass ich die Flasche dauernd verwende – das Plastik ließen meine Kinder nicht durchgehen!"
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