Krieg als Begleiterscheinung der Zivilisation

Moderation: Susanne Führer |
Der US-Anthropologe Jared Diamond beschreibt indigene Kulturen in seinem Buch "Vermächtnis" als besonders gewalttätig. Der Direktor des Hamburger Völkerkundemuseums Wulf Köpke hält das für abwegig und meint: Erst westliche Zivilisationen hätten tödliche Kriege hervorgebracht.
Susanne Führer: Jared Diamond gehört zu den Wissenschaftlern, die mit ihren populärwissenschaftlichen Büchern großen Erfolg bei einem breiten Publikum haben. Sein jüngstes Buch, "Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können", in dem er sich mit den sogenannten indigenen Kulturen beschäftigt, dieses Buch hat allerdings viel Kritik auf sich gezogen.

Und aus Hamburg ist mir nun Professor Wulf Köpke zugeschaltet, er ist Direktor des Völkerkundemuseums in Hamburg. Guten Tag, Herr Köpke!

Wulf Köpke: Guten Tag, Frau Führer!

Führer: Was halten Sie von den Thesen Jared Diamonds?

Köpke: Da muss man ganz tief durchatmen. Es ist die gleiche Ideologie, mit der die USA Afghanistan befrieden und mit der die Engländer Indien erobert haben. Als ich vor zwei Jahren in Sotschi in Südrussland war, sagten mir Leute, ja, die Tscherkessen, die hier wohnten, denen haben wir ja im 19. Jahrhundert die Kultur bringen wollen, die wollten sie nicht, dann mussten wir sie eben totschlagen, sind sie selber schuld! Das ist ungefähr der Tenor von dem Buch.

Führer: Was stört Sie genau?

Köpke: Das Buch redet ja von traditionellen Gesellschaften, das ist völlig unbestimmt. Das tut so, als wären Gesellschaften seit Jahrtausenden unverändert. Alle die Gesellschaften, mit denen wir heute zu tun haben, haben Einfluss - sonst würden wir sie nicht kennen - von außerhalb. Und auch Gesellschaften, die wir nicht kennen, haben immer Einfluss gehabt. Man kann nicht so tun, als wären Gesellschaften traditionell.

Und zweitens, dieses ewige Kriegführen: Es gibt Gegenden, wo die Leute, zum Beispiel die Prärieindianer, die haben sehr viel Krieg geführt, da muss man allerdings fragen, ob sie es früher auch gemacht haben. Gerade in Neuguinea, auf die sich ja sein Buch sehr stark bezieht, hat es immer Konfliktlösungen gegeben. Es hat zwar Kriege gegeben, aber in denen sind … Wenn ein Mensch mal umgekommen ist, dann ist er eigentlich aus Versehen umgekommen. Die Kriege waren Machtdemonstrationen, aber man hat mit den schlechtesten Bögen und Pfeilen geschossen und die Leute sind immer hochgesprungen! Also, wenn, hatte man Verletzungen im Hintern, wenn man sich gerade umgedreht hat oder so, aber man hat möglichst keinen getötet.

Die Gesellschaften, die eben jetzt Kriege haben, die sind zusammengedrängt worden von den Weißen oder von den Indonesiern, haben ihr Land verloren, und dann kommt es zu heftigen Kriegen. Aber nicht, weil sie traditionelle Gesellschaften sind, sondern gerade weil sie es nicht mehr sind.

Führer: Herr Kopke, wir sprechen jetzt immer von den traditionellen Gesellschaften. Früher hat man Wilde gesagt, Primitive, dann irgendwann Eingeborene, Naturvölker. Heute spricht man meist vornehmer von Indigenen. Aber was oder wen bezeichnet dieser Begriff eigentlich genau?

Köpke: Das ist ganz, ganz schwierig. Jeder dieser Begriffe ist unscharf. Also, Naturvölker zum Beispiel wurde dann definiert als Völker von geringerer Naturbeherrschung, die waren einfach sehr viel angepasster in der Natur. Indigene ist heute ein ganz, ganz problematisches Wort, die Basken, die seit mindestens 7000 Jahren in Europa wohnen, das älteste Volk neben den Tscherkessen in Europa, kann man ja wohl als Indigene bezeichnen - oder muss man den Neandertaler als Indigenen bezeichnen? Also, die sind sehr unscharf, alle diese Begriffe.

Es sind eigentlich die Restvölker, die keine Staatlichkeit haben, mit denen man nicht so richtig was anfangen kann, aber selbst das stimmt nicht, weil zum Beispiel die Inuit in Grönland heute eine Staatlichkeit haben und werden trotzdem unter die Indigenen gerechnet. Also, das ist eine sehr schwierige Definition. Man weiß im Prinzip, was gemeint ist, aber definieren können sie das nicht. Es sind Völker, die keine eigene Staatlichkeit haben in der Regel, die benachteiligt sind, die ausgegrenzt werden, aber trotzdem noch als Volk existieren.

Führer: Ich habe so den Eindruck, Herr Köpke, dass hinter diesen ganzen Begriffen, also ob jetzt Wilde, Eingeborene, Indigene, wie auch immer, so die Idee steckt, dass das Gesellschaften oder Kulturen oder Völker sind, die irgendwie in der Vorzeit stehengeblieben sind sozusagen und unsere Entwicklung eben nicht mitgemacht haben. Das heißt, an diesen Menschen würden wir dann sehen, wie die Menschheit vor Tausenden von Jahren gelebt haben?

Köpke: Ja, das ist natürlich kompletter Unsinn. Steinzeitleute heute und Steinzeitleute von vor 40.000 Jahren sind ein ganz großer Unterschied …

Führer: Warum?

Köpke: Und wenn Sie zum Beispiel gucken in Australien, in Nordaustralien, kurz, ehe die Weißen dahin kamen, hatten die Kontakt mit den Malaien und Chinesen. Also, wenn Cook 100 Jahre später gekommen wäre oder irgendein anderer Cook 100 Jahre später gekommen wäre, dann wäre wahrscheinlich Nordaustralien muslimisch. Also, die entwickeln sich weiter, die haben ihre eigenen Kontakte und Technologien, entwickeln sich. Das ist ja bei uns ganz genauso gewesen. Das sind vielleicht langsamere Schritte.

Und dann darf man es nicht nur an der materiellen Kultur festmachen, auch die geistige Kultur. Wenn Sie die … Was wir jetzt Aborigines nennen, aber was eigentlich ja die Australier sind, wenn Sie die eingeborenen Australier nehmen: Das geistige Leben hat sich unglaublich weiterentwickelt, auch wenn das materielle Leben nicht so ausgeprägt ist, die materielle Kultur. Aber geistig ist … Also, zum Beispiel die Familiensysteme sind viel, viel komplexer als bei uns und die Leute können das so aus dem Kopf runtersagen. Also, da ist ganz, ganz viel passiert. Oder auf dem Gebiet der Musik oder auf dem Gebiet der mündlich tradierten Literatur und so weiter, da gibt es ganz, ganz viel, wo sich die Leute weiterentwickelt haben. - Das ist falsch. Und bei Diamond ist das Ärgerliche, dass er zwei europäisch-amerikanische Traditionen weiterführt, einmal diese Bewunderung für den edlen Wilden, den es so nicht gegeben hat, und dann aber wieder die Furcht vor den Wilden, denen man Zivilisation bringen muss, weil sie sich sonst selbst nicht helfen können. Und das ist diese sehr ärgerliche Mischung bei Diamond.

Führer: Sie sind ja eben, wie gesagt, Direktor des Völkerkundemuseums in Hamburg. Jetzt sieht ja von außen schon mal gesehen die Kultur der Maori oder der Inuit oder der Aborigines, von denen Sie gerade gesprochen haben, ja tatsächlich anders aus als unsere. Also, ich frage mich, wie kann man das nun heute im Museum darstellen, ohne diese Kulturen dann in die Ecke der edlen oder der primitiven oder der bösen Wilden oder der Exoten zu stellen? Wie machen Sie das?

Köpke: Das ist vom Gedanken her ganz einfach, in der Ausführung natürlich nicht so einfach. Wir haben das jetzt gerade mit den Maori durchexerziert: Das heißt, wir nehmen Kontakt auf, wir sprechen mit den Leuten, wir beziehen sie ein, wie kann man denn eure Kultur präsentieren? Und dann laden wir auch Leute ein, die mit uns die Ausstellung kuratieren. Und wir haben jetzt ein anderes Beispiel, die Shuar in Ecuador, also die berühmten Schrumpfkopfmacher, die weltweit sagen, wir möchten … also, den Museen weltweit sagen, wir möchten nicht mehr, dass ihr die Schrumpfköpfe ausstellt. Und dann hat ein Museum jetzt in Ecuador gefragt, aber wir möchten das gerne ausstellen, wie machen wir das denn? – Ja, dann zeigen wir euch, wie ihr das angemessen ausstellt! Jetzt haben die eine wunderschöne Ausstellung mit den Shuar erarbeitet, sodass man auch Schrumpfkopf versteht, warum das gemacht worden ist. Und so was werden wir jetzt auch machen. Und man muss mit den Leuten reden!

Führer: Und dann, wie sehen die Ausstellungen dann anders aus?

Köpke: Wenn Sie sich unsere nordamerikanische Indianerausstellung ansehen: Ja, ich habe mit einem als Indianerexperten genannten europäischen Kollegen gesprochen, hat der gesagt, ich weiß das doch alles viel besser als die Indianer selber! Und wir haben gesagt, das interessiert uns nicht, da wird zum Beispiel ganz viel auf die Geister eingegangen. Und im Eingang hängen 800 Gebete, die in kleine Säckchen mit Tabak eingenäht sind. Die ganze Ausstellung ist anders geworden. Also, der Designer war ganz tapfer, sagte, ich habe 35 Ideen hier eingebracht, eine ist umgesetzt worden, alle anderen haben Ihre Indianer gemacht.

Die Ausstellung ist total anders geworden, man kann es kaum beschreiben! Wir haben zum Beispiel einen Cadillac in der Ausstellung, weil heute ganz viele Indianer nicht mehr in Reservationen wohnen, sondern in San Francisco, und so einen Rescar fahren, also einen alten Cadillac, den sie aber mit Indianerkitsch, sage ich mal ganz salopp, schmücken. Oder die Sprachen, die aussterben, da haben die gesagt: Ihr müsst zeigen, nicht wie bedauerlich das Aussterben ist, sondern wie wir versuchen, die Sprachen zu retten! Also ein ganz anderer Ansatz. Und dadurch ist die Ausstellung total anders geworden, aber auch sehr viel erfolgreicher, als sie sonst geworden wäre.

Führer: Also mehr Subjekt als Objekt?

Köpke: Ja. Die Indianer haben einfach ganz stark bestimmt, wie das ausgestellt wird. Wir haben natürlich unser Wissen über ein deutsches Publikum, was die verstehen und nicht verstehen, reingebracht. Und bei den Maori ist es genau so, die Maori fühlen sich jetzt wohl in der Ausstellung. Wir hatten 70 Maori im letzten Oktober zur Eröffnung und wir haben aber einen Vertrag mit denen abgeschlossen: Wie nutzen wir das Maori-Haus, das wir haben? Wie nutzen wir das angemessen? Und sie haben einfach von Anfang bis Ende mitgesprochen und das hat die ganze Ausstellung völlig verändert!

Führer: Das sagt Professor Wulf Köpke, er ist der Direktor des Völkerkundemuseums in Hamburg. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Köpke!

Köpke: Ja, bitte schön, Frau Führer!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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