Krieg auf dem Brett
Der Roman aus Bolaños Nachlass weckt Assoziationen an die Literatur der Romantik – eine Auseinandersetzung mit dem Bösen, mit Sucht und Leidenschaft der Menschen, ihrem Selbstzerstörungspotential und den Monstren der Fantasie.
Es ist das Methodische, das Udo Berger, einen Angestellten aus Stuttgart, fasziniert. Er ist Mitte 20 und Landesmeister im "Wargame"- Spielen. Stundenlang kann er über jedwede Schlacht der Weltgeschichte räsonieren, Verläufe kommentieren, taktische Finessen und Fehler erläutern. In seiner Freizeit spielt Udo erfolgreich Schlachten als Brettspiel nach. Generäle sind für ihn wie Dichter, Manstein wie Günter Grass, Rommel wie Paul Celan – spätestens hier wird deutlich, dass Udo Berger kein gewöhnlicher Angestellter mit kleiner Macke ist, sondern Ich-Erzähler in einem Roman von Roberto Bolaño.
"Das Dritte Reich", so dessen Titel, stammt aus dem Nachlass des 2003 während einer Lebertransplantation verstorbenen chilenischen Autors. Bereits 1989 als Manuskript abgeschlossen, wirkt er überhaupt nicht verstaubt, sieht man nur davon ab, dass Kriegsspiele inzwischen überwiegend am PC gespielt werden.
Bolaño schickt seinen Protagonisten an die Costa Brava. In einem kleinen Badeort in der Nähe von Barcelona entspannt Udos Freundin Ingeborg am Strand, er selbst aber befasst sich mit dem Spiel "Das Dritte Reich". Ins Hotelzimmer lässt er sich einen extra großen Tisch stellen, um dort neue Varianten zum Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu erproben. Deutschland soll gewinnen. Abends zieht er mit Ingeborg und einem Paar aus Oberhausen, Charly und Hanna, durch Kneipen und Diskotheken. Aus seinen Tagebuchnotizen erfährt der Leser, wo man getanzt, geshoppt, sich gelangweilt hat.
Vordergründig schildert Bolaño eine Ferienidylle. Doch wie in den Filmen von David Lynch lauert unter dem harmlosen, unauffällig geschäftigen Alltag das Grauen. Nicht allein Udos bis zur Obsession sich steigernde Beschäftigung mit dem Dritten Reich trägt dazu bei. Es ist auch das näher rückende Sommerende. Die Schilderung von Naturgewalt, die morbide Atmosphäre des Hotels, dessen Besitzer im Sterben liegt. Erste Regentage, Abbild der verhangenen menschlichen Seele, lassen die Stimmung kippen, ebenso mysteriöse Andeutungen von Einheimischen, das Nicht-Greifbare. Auch der hemmungslösende Suff Charlys, der im Rausch seine Freundin verprügelt. Zwielichtige Einheimische, "El Lobo" und "El Codero" umschleichen die Touristen, Grenzgänger, Figuren zwischen Nacht und Tag wie auch der schweigsame Bootsverleiher, dessen Gesicht entstellt ist – und der Frauen wie Männer durchs bloße Dasein zu sexuellen Fantasien anregt.
Als Charly eines Tages nicht vom Surfen zurückkehrt, zerbricht die oberflächliche Idylle vollends. Nichts hält mehr, kein Urlaubsvergnügen, keine menschliche Beziehung. Hanna und Ingeborg reisen ab, Udo verstrickt sich immer tiefer in sein Spiel. Zwischendurch versucht er die Chefin des Hotels zu verführen, streunt ziellos durch die Tage, findet kaum noch Schlaf. Sein Leben scheint sich aufzulösen, Traum und Realität sind fast nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Alles wird zum Spiel. Oder das Spiel zum Leben. Er fordert den Bootsverleiher ("den Verbrannten") auf, gegen ihn zu spielen. Was am Anfang nach einem leichten Sieg für Udo aussieht, entwickelt sich immer mehr zum Albtraum.
Bolaños Roman ruft Assoziationen wach an die Literatur der Romantik. Er ist eine Auseinandersetzung mit dem Bösen, mit Sucht – oder Leidenschaft – der Menschen, ihrem Selbstzerstörungspotential, mit den Monstren der Fantasie, existentieller Leere, Gewalt und Verzweiflung. "Don Quixote", "Der Prozess" von Kafka oder "Nadja" des Surrealisten André Breton sind Lieblingsbücher Bolaños, der bedauerte, nicht als Detektiv am Schauplatz von Morden arbeiten zu können.
"Das Dritte Reich" ist ein metaphysischer Krimi. Erzählt wird in einer Alltagssprache, so kunstvoll gearbeitet, dass sie einen suggestiven Sog entwickelt – von Hybris und Scheitern, von der Kraft der Sehnsucht und dem Triumph des Unfassbaren. Vom Menschen, der sich selbst ausgeliefert ist.
Besprochen von Carsten Hueck
Roberto Bolaño: Das Dritte Reich. Roman
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Carl Hanser Verlag, München 2011
316 Seiten, 21,90 Euro
"Das Dritte Reich", so dessen Titel, stammt aus dem Nachlass des 2003 während einer Lebertransplantation verstorbenen chilenischen Autors. Bereits 1989 als Manuskript abgeschlossen, wirkt er überhaupt nicht verstaubt, sieht man nur davon ab, dass Kriegsspiele inzwischen überwiegend am PC gespielt werden.
Bolaño schickt seinen Protagonisten an die Costa Brava. In einem kleinen Badeort in der Nähe von Barcelona entspannt Udos Freundin Ingeborg am Strand, er selbst aber befasst sich mit dem Spiel "Das Dritte Reich". Ins Hotelzimmer lässt er sich einen extra großen Tisch stellen, um dort neue Varianten zum Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu erproben. Deutschland soll gewinnen. Abends zieht er mit Ingeborg und einem Paar aus Oberhausen, Charly und Hanna, durch Kneipen und Diskotheken. Aus seinen Tagebuchnotizen erfährt der Leser, wo man getanzt, geshoppt, sich gelangweilt hat.
Vordergründig schildert Bolaño eine Ferienidylle. Doch wie in den Filmen von David Lynch lauert unter dem harmlosen, unauffällig geschäftigen Alltag das Grauen. Nicht allein Udos bis zur Obsession sich steigernde Beschäftigung mit dem Dritten Reich trägt dazu bei. Es ist auch das näher rückende Sommerende. Die Schilderung von Naturgewalt, die morbide Atmosphäre des Hotels, dessen Besitzer im Sterben liegt. Erste Regentage, Abbild der verhangenen menschlichen Seele, lassen die Stimmung kippen, ebenso mysteriöse Andeutungen von Einheimischen, das Nicht-Greifbare. Auch der hemmungslösende Suff Charlys, der im Rausch seine Freundin verprügelt. Zwielichtige Einheimische, "El Lobo" und "El Codero" umschleichen die Touristen, Grenzgänger, Figuren zwischen Nacht und Tag wie auch der schweigsame Bootsverleiher, dessen Gesicht entstellt ist – und der Frauen wie Männer durchs bloße Dasein zu sexuellen Fantasien anregt.
Als Charly eines Tages nicht vom Surfen zurückkehrt, zerbricht die oberflächliche Idylle vollends. Nichts hält mehr, kein Urlaubsvergnügen, keine menschliche Beziehung. Hanna und Ingeborg reisen ab, Udo verstrickt sich immer tiefer in sein Spiel. Zwischendurch versucht er die Chefin des Hotels zu verführen, streunt ziellos durch die Tage, findet kaum noch Schlaf. Sein Leben scheint sich aufzulösen, Traum und Realität sind fast nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Alles wird zum Spiel. Oder das Spiel zum Leben. Er fordert den Bootsverleiher ("den Verbrannten") auf, gegen ihn zu spielen. Was am Anfang nach einem leichten Sieg für Udo aussieht, entwickelt sich immer mehr zum Albtraum.
Bolaños Roman ruft Assoziationen wach an die Literatur der Romantik. Er ist eine Auseinandersetzung mit dem Bösen, mit Sucht – oder Leidenschaft – der Menschen, ihrem Selbstzerstörungspotential, mit den Monstren der Fantasie, existentieller Leere, Gewalt und Verzweiflung. "Don Quixote", "Der Prozess" von Kafka oder "Nadja" des Surrealisten André Breton sind Lieblingsbücher Bolaños, der bedauerte, nicht als Detektiv am Schauplatz von Morden arbeiten zu können.
"Das Dritte Reich" ist ein metaphysischer Krimi. Erzählt wird in einer Alltagssprache, so kunstvoll gearbeitet, dass sie einen suggestiven Sog entwickelt – von Hybris und Scheitern, von der Kraft der Sehnsucht und dem Triumph des Unfassbaren. Vom Menschen, der sich selbst ausgeliefert ist.
Besprochen von Carsten Hueck
Roberto Bolaño: Das Dritte Reich. Roman
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Carl Hanser Verlag, München 2011
316 Seiten, 21,90 Euro