Krieg der Seelen

12.05.2009
In 29 kurzen Erzählungen zeigt das Buch "Sarajevo Marlboro" des Autors Miljenko Jergovic, wie sehr der Krieg im ehemaligen Jugoslawien das menschliche Miteinander zerstörte. Nun ist das erstmals 1994 erschienene Werk neu übersetzt worden.
Ob Miljenko Jergovic bald zum Kreis der Anwärter für den Literaturnobelpreis gehört, wie die Kritikerin Daniela Strigl meint, wird sich zeigen. Dass der 1966 in Sarajevo geborene Autor eine seltene Begabung hat, wissen deutsche Leser schon jetzt – obwohl sie ohne Kenntnisse des Kroatischen seine Gedichte, seine journalistischen Arbeiten und seinen letzten Roman "Ruta Tannenbaum" über das Tabuthema der Judendeportationen unter der kroatischen Ustascha-Bewegung nicht kennen können, ebenso wenig wie die Kultursendung im Fernsehen, die der kroatische Bosnier leitete.

Aber seinen opulenten, rückwärts erzählten Jahrhundertroman "Walnusshaus" haben sie auf Deutsch lesen können, auch den Roman "Buick Rivera" und den Erzählungsband "Sarajevo Marlboro" aus dem Jahr 1994. Jergovic' erstes Buch ist nun noch einmal neu übersetzt worden, eine Ehre, die den wenigsten Debüts widerfährt, zumal zu Lebzeiten des Autors. Die wunderbare Übersetzung von Brigitte Döbert verleiht dem scheinbar alltäglichen Ton Stimmigkeit und Eleganz. Sie erlaubt die Neuentdeckung des Debüts.

"Sarajevo Marlboro" ist eine ungemein beeindruckende Talentprobe. Manche der 29 vollständig unsentimentalen Erzählungen, meist vier, höchstens acht Seiten lang, wirken schon jetzt kanonisch. Sie spielen in jenem Sarajevo, das von 1992 bis 1996 belagert und beschossen wurde. Die Früchte eines Apfelbaums bringen dort zerstrittene Nachbarn einander näher; ein junger Mann kann seine Zuneigung zu einer gleichaltrigen Kriegswaise erst ausdrücken, als sie im Sterben liegt, weil ihr eine Granate beide Beine abgerissen hat; eine Runde von Saufbrüdern sprengt ethnisches Misstrauen auseinander, bevor Granaten die Kneipe in Schutt und Asche legen; die unmögliche Liebe zwischen einer Ehrgeizigen und einem Träumer zerbricht nach der Flucht aus Sarajevo.

Es sind einfache, aber ungemein dicht erzählte Begebenheiten mit zuweilen verrätselt wirkenden Bildern, für die es oft einfache Erklärungen gibt – die in Sarajevo hergestellte Schachtel Marlboro, die dem Band den Titel gab, ist innen, nicht außen bedruckt, weil es Probleme mit dem Druck gab. Keine Geschichte erzählt vom Krieg, alle davon, wie der Krieg menschliche Beziehungen beschädigt. Diese Auslassung lässt die besten Erzählungen wie Druckkessel kurz vor der Explosion wirken.

Jergovic schreibt über moralische Fragen unter Extrembedingungen, ohne zu verurteilen. "Sarajevo Marlboro" fängt die Katastrophe in Scherben ein, in Fragmenten einer Sittengeschichte. Die serbischen Angreifer bleiben im Buch so unsichtbar wie die Belagerer und Scharfschützen auf den Hügeln über der Stadt; von Serben in Sarajevo wird sehr wohl erzählt. Wie nebenbei porträtiert Jergović seine Heimatstadt, in der Hass Personen, nicht Kollektiven gegolten habe und sich die verschiedenen Kulturen und Glaubensrichtungen gegenseitig relativiert hätten.

Ab der Mitte des Bandes wird der allwissende des Öfteren von einem Ich-Erzähler abgelöst, nehmen Reflexionen über die Notwendigkeit der Fiktion zu. Nicht immer bekommt diese Last den Geschichten. Sie verleiht dem Buch jedoch eine Dramaturgie der Eskalation, die von dem Triptychon der drei Teile Kindheit, Krieg und Untergang bekräftigt wird. Noch während des Krieges flüchtete Miljenko Jergović dann aus Sarajevo, wohl mit eben jenen widerstreitenden Gefühlen von Verrat und Reue und Angst, von denen er am Ende erzählt.

Rezensiert von Jörg Plath

Miljenko Jergovic: Sarajevo Marlboro
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Schöffling Verlag/Frankfurt am Main 2009
198 Seiten, 18,90 EUR