Der spanische Journalist und Publizist Marc Aguirre hat bis vor wenigen Wochen in Äthiopien gelebt. Im Podcast der Weltzeit berichtet er über ethnische Diskriminierung, die Rolle Eritreas im derzeitigen Konflikt mit Tigray und die Interessen der Golfstaaten am Horn von Afrika.
Der Friedensnobelpreisträger am Scheideweg
23:18 Minuten
Seit dem 4. November kämpfen der Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed und seine Regierung gegen Rebellen in der Region Tigray. Zehntausende Menschen flüchten vor der Gewalt in den Sudan. Hat sich die Welt in Hoffnungsträger Ahmed getäuscht?
Ein Boot setzt über einen Fluss an der Grenze zwischen Äthiopien und dem Sudan. Die Passagiere steigen mit ihren wenigen Habseligkeiten aus. Ein Mann trägt ein kleines Mädchen durch das seichte Wasser bis ans Ufer.
Die Menschen sind vor wenigen Tagen aus Tigray im Norden Äthiopiens geflohen. Sie wollen den Kämpfen zwischen der Regierungsarmee und der sogenannten Volksbefreiungsfront TPLF entkommen. Hier seien sie wenigstens sicher, meint ein junger Mann, Filimon, im Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Sie würden keine Explosionen mehr hören.
Die Vereinten Nationen haben in aller Eile versucht, ein Lager aufzubauen. Es gibt ein paar Zelte. Mit zusammen gesuchten Tellern und Schüsseln stehen die Menschen bei der Essensausgabe an. Die Geflüchteten haben kaum Kleidung mitgenommen, geschweige denn Geschirr. Sie hätten keine Koffer dabei und hätten einfach nur entkommen wollen, sagt Filimon. Keiner von ihnen hätte damit gerechnet, zum Flüchtling zu werden.
Vor fünf Jahren war Äthiopien ein Hoffnungsstaat
Das Leben sei noch vor kurzem sicher gewesen. Und es habe sich viel entwickelt. Äthiopien war eigentlich das Land am Horn von Afrika, mit dem sich große Hoffnungen verbanden. Die Wirtschaft im ständigen Aufwärtstrend. Vor fünf Jahren sogar mit dem größten Wachstum weltweit. Als dann auch noch ein junger Politiker zum Ministerpräsidenten wurde, der ein atemberaubendes Reformtempo vorlegte und den Menschen Fortschritt versprach, war ein Großteil der Bevölkerung euphorisiert. Abiy Ahmed, der neue Regierungschef, wurde gefeiert.
Anfang 2018 rufen Anhänger auf den Straßen der Hauptstadt Addis Abeba immer wieder seinen Namen. Eine solche Begeisterung für die Regierung – bis dahin undenkbar in Äthiopien. Manche verehren den Ministerpräsidenten regelrecht, das zeigt auch eine kleine Straßenumfrage.
"Wegen Abiy gibt es jetzt viel Glück in unserem Land."
"Jeder kann jetzt schreiben oder sagen, was er möchte, die Demokratie kommt nach Äthiopien."
"Er ist so gut, er bringt uns Veränderung, deshalb nenne ich ihn einen Propheten."
Abiy Ahmed scheint die ideale Besetzung, um die lang anhaltenden Spannungen zwischen den vielen Volksgruppen in Äthiopien beizulegen.
Er wird 1976 in einer Kleinstadt im Zentrum des Landes geboren. Der Vater ist Muslim und gehört der größten Volksgruppe an, den Oromo. Die Mutter ist Amharin und orthodoxe Christin. Eine multikulturelle Familie. Von Abiy Ahmed heißt es, dass er als Kind "Abiyot" gerufen wurde – Revolution. Schon mit 14 Jahren beginnt er, sich politisch zu engagieren.
Seine Karriere startet im Militär. Er ist noch nicht mal 20, als er nach dem Völkermord in Ruanda als Teil der UN-Blauhelmmission dort stationiert wird. Später kämpft er im Krieg gegen Eritrea und spioniert feindliche Stellungen aus. Als Äthiopien immer mehr zum Überwachungsstaat wird, organisiert er einen Dienst, um das Internet zu kontrollieren. Abiy wird Parlamentsmitglied und steigt in das Politbüro der Regierungspartei auf.
Der Spitzname seiner Kindheit scheint nicht mehr zu ihm zu passen. Statt als Revolutionär zeigt sich Abiy Ahmed als Parteisoldat. Die Regierungskoalition sieht in ihm den geeigneten Nachfolger, als der bisherige Ministerpräsident 2018 sein Amt abgibt.
Der Insider Abiy Ahmed wird zum radikalen Reformer
"Er war ein Insider. Er war im Militär, Mitglied des Geheimdienstes, der Regierungspartei. Er wurde als sichere Wahl betrachtet. Niemand hat erwartet, dass er in kürzester Zeit solch radikale Reformen durchführen würde", sagt Ostafrika-Experte Rashid Abdi von der Denkfabrik International Crisis Group.
Abiy Ahmed beginnt seine Regierungszeit mit großen Projekten. Er will vieles umkrempeln. International erregt er schon nach kurzer Zeit Aufsehen, als es ihm gelingt, einen Friedensvertrag mit dem lange verfeindeten Nachbarland Eritrea auszuhandeln. Eine Art außenpolitisches Wunder. Eine jubelnde Menge begrüßt Abiy in der Hauptstadt Asmara. Abiy strahlt und winkt. Ein charismatischer Politiker, der die Menschen mitreißt.
Beim anschließenden Staatsbankett sitzen er und Eritreas Präsident Isayas Afewerki nebeneinander wie ein Hochzeitspaar. Seine Rede hält Abiy auf Tigrinya, der Sprache seiner Gastgeber.
"Wenn es Frieden zwischen unseren beiden Völkern gibt, bedeutet das Frieden und Entwicklung für die ganze Region am Horn von Afrika. Unsere Staatsbürger, die jetzt noch verstreut und erniedrigt als Flüchtlinge leben, werden in Würde zurückkehren."
Friedensnobelpreis für Aussöhnung mit Eritrea
Der außenpolitische Erfolg wird mit einer der wichtigsten Auszeichnungen gekrönt. Abiy Ahmed bekommt einen Anruf aus Oslo. Ein Vertreter des Komitees für den Friedensnobelpreis gratuliert ihm zum Gewinn. Abiy Ahmed, der sich auf den Listen der Buchmacher schon auf den zweiten Platz gleich hinter Greta Thunberg vorgeschoben hatte, ist nur mäßig überrascht.
"Vielen Dank. Ich fühle mich so geehrt. Es ist ein Preis für ganz Äthiopien und ganz Afrika. Ich kann mir vorstellen, dass andere politische Anführer auf dem Kontinent das als Ansporn nehmen, um weiter an Friedensprozessen zu arbeiten. Ich bin so glücklich und überwältigt von diesen Neuigkeiten."
Mit dem gleichen Schwung wie in der Außenpolitik geht Abiy auch innenpolitische Reformen an. Er verkleinert das Kabinett und bringt viele Frauen in die Regierung. An erster Stelle aber steht die Entlassung von hunderten Oppositionellen aus dem Gefängnis. Äthiopier, die lange im Exil gelebt haben, trauen sich zurück ins Land.
Doch die allgemeine Aufbruchsstimmung ist trügerisch, meint die Journalistin Tsedale Lemma vom Nachrichtenmagazin Addis Standard. Abiy habe es versäumt, neue Regeln vorzugeben, nachdem er die alten außer Kraft setzte.
"Wir haben gesehen, wie er alles liberalisiert hat. Es war, als ob er 22 Fußballspieler auf einen Platz schickt und ihnen den Ball gibt, aber es ist kein Schiedsrichter da. Keiner weiß, auf welches Tor er spielt. Abiy hätte dieser Schiedsrichter sein müssen. Er hätte festlegen müssen, welche Rolle die zurückgekehrten Oppositionellen und regionalen Gruppen im Land spielen sollen. Das hat er nicht getan."
Die alte Machtclique wird nach und nach abgesetzt. Hohe Militärs und Politiker werden verhaftet – wegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption. Ostafrika-Experte Rashid Abdi analysiert schon damals, dass Abiy besser nicht so schnell gegen die Mitglieder des alten Regimes vorgehen sollte.
"Viele, die in Korruption verwickelt sind, kommen aus der Tigray-Region. Sie haben die wichtigen Posten in der früheren Regierung besetzt. Die Wahrnehmung in Tigray ist darum jetzt, dass der Ministerpräsident es auf ihre Volksgruppe abgesehen hat. Das ist keine gesunde Entwicklung."
In der Tigray-Region hassen ihn die Menschen
Genauso inbrünstig wie viele Menschen Abiy Ahmed verehren, wird er bald von anderen gehasst. Die politischen Auseinandersetzungen mit der sogenannten Volksbefreiungsfront aus Tigray eskalieren immer mehr.
Im September lässt die TPLF Wahlen in der Region abhalten, obwohl die im ganzen Land wegen der Corona-Pandemie verschoben werden sollten. Sie erkennt Abiy Ahmed nicht mehr als Ministerpräsidenten an. Anfang November lässt der die Armee in Tigray einmarschieren, nachdem die TPLF eine Militärbasis angegriffen haben soll.
Das Äthiopische Staatsfernsehen zeigt Bilder, wie die Soldaten vorrücken. Doch Abiy Ahmed hat auch das internationale Publikum im Blick. Der Friedensnobelpreisträger will nicht als Kriegstreiber dastehen. In einer Ansprache wirbt er um Verständnis für das Eingreifen in der Tigray-Region. Die TPLF habe es seit langem darauf angelegt, Konflikte in Äthiopien zu befeuern.
"Sie haben jede Kraft unterstützt, trainiert und ausgebildet, die bereit ist, sich an gewaltsamen und illegalen Aktionen zu beteiligen. Ihr Ziel ist ganz klar, das Land unregierbar zu machen, indem sie Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen und Religionen anzetteln. Sie wollen so lange Uneinigkeit und Zwietracht säen, bis die demokratischen Prozesse gestoppt sind."
Die Luftwaffe fliegt Angriffe und auch am Boden gibt es Kämpfe. Doch über die genaue Lage sind kaum Informationen zu bekommen, sagt die Journalistin Tsedale Lemma.
Nachprüfen lässt sich kaum eine Information
"Wenn man die Entwicklungen von beiden Seiten beleuchten will, ist das schwierig. Es gibt kaum Informationen aus Tigray, weil alle Kommunikationswege blockiert sind."
Telefon- und Internetverbindungen funktionieren nicht mehr. Trotzdem kursieren bald Bilder in sozialen Netzwerken. Sie zeigen, wie Dutzende Leichen durch ein Dorf im Nordwesten der Tigray-Region getragen werden. Andere Aufnahmen stammen offenbar von schwer verwundeten Opfern. Amnesty International spricht von einem Massaker unter der Zivilbevölkerung. Der Menschenrechtsorganisation zufolge konnte die Echtheit der Bilder bestätigt werden.
"Wir haben mit Leuten gesprochen, die dabei waren, als die Leichen eingesammelt wurden. Unsere Experten haben auch die Bilder aus den sozialen Netzwerken überprüft. Wir gehen davon aus, dass mehr als 100 Menschen massakriert wurden."
Amnesty-Mitarbeiter Fisseha Tekle will sich nicht festlegen, wer die Täter waren. Die Opferzahl steigt später auf etwa 600. Auch die äthiopische Menschenrechtskommission untersucht den Vorfall. Sie macht eine Jugendorganisation, die von der TPLF unterstützt wird, dafür verantwortlich. Der Vorsitzende der Kommission erklärt, seine Mitarbeiter hätten das von Augenzeugen erfahren.
"Sie haben persönlich den Ort der Verbrechen besucht. Dort fanden sie Massengräber und viele Tote. Was geschehen ist, haben sie direkt von den Familien der Opfer gehört."
Der Krieg in Tigray ist eine Propagandaschlacht
Allerdings steht die Menschenrechtskommission der äthiopischen Regierung nahe. Der Vorsitzende wurde von Abiy Ahmed eingesetzt. Der Krieg in Tigray ist längst auch zu einer Propagandaschlacht geworden, meint Annette Weber, Expertin für das Horn von Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
"Beide Seiten behaupten, oder lassen behaupten durch ihre Leute in den sozialen Medien, dass die andere Seite Gräueltaten an der Zivilbevölkerung durchführt, oder durchführen lässt. Ich finde, dass ist unglaublich schwierig nachzuprüfen."
Fest steht: Der Konflikt weitet sich aus. Die TPLF schießt Raketen auf Eritreas Hauptstadt Asmara. Sie meint, dass Soldaten aus dem Nachbarland Seite an Seite mit Äthiopiens Armee in Tigray kämpfen. Denn Eritreas Präsident Isaias Afewerki steht in diesem Konflikt klar hinter Abiy Ahmed. Er ist gegen die TPLF, unter anderem, weil die in den Jahren des Grenzkrieges das äthiopische Militär dominierte, sagt der norwegische Konfliktforscher Kjetil Tronvoll.
Eritrea unterstützt die äthiopische Regierung
"Isaias Afewerki sieht die TPLF seit dem Krieg von 1998 bis 2000 als seinen Erzfeind, er wollte sich seitdem an der TPLF rächen. Und als Abiy Ahmed in Äthiopien die Macht übernahm, gewann er in ihm plötzlich einen Vertrauten und Partner. Abiy wiederum brauchte die Unterstützung von Afewerki, um die TPLF in Äthiopien weiter zu schwächen. Sie haben das gemeinsame Ziel, die TPLF auszuschalten."
Ende November verkündet Abiy Ahmed, dass das gelungen sei. Das Militär habe die wichtige Provinzhauptstadt Mekelle erobert. Bei einer Rede im Parlament sagt er, die Zivilbevölkerung sei dabei verschont worden.
"Die Armee hat nicht eine einzige Person getötet. Keine Nation hätte das besser lösen können als wir. Wir haben sehr disziplinierte Soldaten. Sie sind Helden. Manche haben gesagt, wir würden Mekelle zerstören. Aber warum sollten wir das tun? Unsere Spezialeinsatzkräfte sind in einer konzertierten Aktion vorgegangen."
Einige Kräfte der TPLF legen die Waffen nieder. Doch andere werden wohl nicht so schnell aufgeben. Kämpfer wie dieser, der zu Beginn des Konflikts mit der Nachrichtenagentur AP gesprochen hatte.
"Ich würde mit meinem Leben für Tigray bezahlen. Ich werde ein Held für meine Volksgruppe sein. Das ist das Ziel, das mich antreibt."
Die Menschen flüchten in den Sudan
Abiy Ahmed steht weiter vor der Mammutaufgabe, den Vielvölkerstaat Äthiopien zu einen. Gleichzeitig versuchen die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen, die vielen Geflüchteten zu versorgen.
Kurum, ein junger Mann, wartet zusammen mit anderen an der Grenze zwischen Äthiopien und dem Sudan darauf, in ein Lager gebracht zu werden. Er stimmt eine Kirrar ein Zupfinstrument. Der 20-Jährige will alle mit einem Lied aufheitern – auch sich selbst. Das Instrument gehört zu den wenigen Sachen, die ihm noch geblieben sind. Er erzählt, dass sein Haus geplündert wurde. Die ganze Familie sei getrennt worden.
"Ich habe sie nicht gesehen, seit der Krieg begonnen hat. Weil die Telefonverbindungen nicht funktionieren, kann ich sie nicht finden."
Eigentlich hatte er studiert, um Ingenieur zu werden. Und von einer Karriere als Musiker geträumt. Beides liegt jetzt in weiter Ferne.