Sieben Jahre Leben an der Front
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Grünen-Chef Robert Habeck hat mit seinem Ukrainebesuch den Krieg wieder ins Gedächtnis gerufen. Jeden Monat sterben dort Menschen durch Scharfschützen und Granaten. Tausende sind es seit dem Ausbruch 2014. Ein Bericht vom Leben an der Front.
Dumpfes Scheppern, nur wenige Kilometer entfernt. Wieder ist ein Stück Ukraine explodiert. Abgefeuert aus den Separatisten-Gebieten zielt die Artillerie auf unsere Seite der Front, die den Osten des Landes zerschneidet. Wo genau, zeigt uns Brigade-Kommandeur Maxim Hryhorovych mit ausgestrecktem Arm. Dann steigt er schnell wieder in seinen Geländewagen. Nicht der Beschuss, sondern einsetzender Regen treiben den Soldaten zum Rückzug.
"Ich und die anderen stehen seit fast sieben Jahren an der Front. Wenn wir Angst vor russischen Soldaten hätten, wären wir längst nicht mehr hier", sagt er.
Hryhorovych führt eine Einheit, die Separatisten, Spione und Saboteure jagt. Die Gegend um die Frontstadt Avdiivka ist für ihn in den letzten Jahren Heimat geworden. Hier und im Krieg hat sich der Mittdreißiger eingerichtet, erzählt er uns abseits der Kontaktlinie – wie die Front genannt wird – in einem kleinen Café.
"Im Krieg gibt es keine leichten Schlachten. Jeder Kampf war hart und blutig. Als ich in Pisky in der Nähe des Flughafens von Donezk stationiert war, tat ich mich schwer, meine Familie anzurufen. Ihnen hatte ich gesagt, ich sei in Charkiw und nicht an der Front. Sie anzurufen war also schwer, nicht weil es keinen Empfang gegeben hätte, sondern weil es keine Minute ohne Explosion, Schüsse oder Granatfeuer im Hintergrund gab."
Hryhorovych erinnert sich gut an die ersten und blutigsten Monate im Frühjahr 2014. Die Vereinten Nationen zählen bis heute über 13.000 Todesopfer, darunter Tausende Zivilisten. Doch der Krieg verschwand aus dem europäischen Blickfeld. Neue Konflikte bestimmten die Diskussionen in Politik und Medien. Wohl auch, weil der Krieg in der Ostukraine festgefahren ist. Und doch geht er weiter: Seit Jahresbeginn fielen mehr als 50 ukrainische Soldaten entlang der Front.
Das Leben kehrt nach Avdiivka zurück
Wie lebt es sich heute in den Städten, direkt am Kriegsgebiet? Hryhorovych will uns etwas in Avdiivka zeigen, das ihm Hoffnung macht. Bremsen und die Überlebensreflexe seiner Besucher ignorierend, schießt sein SUV auf Wegen, die mehr Schlagloch als Straße sind, aus dem Zentrum hinaus. Zum Stehen kommt der Wagen vor einem mehrstöckigen Haus am Rande Avdiivkas.
Das Wohnhaus verlor durch Beschuss erst Fenster und Fassade und schließlich auch seine Bewohner. Hryhorovych aber führt uns zu einem Wandbild, das eine ältere Frau zeigt. Für den Kommandeur ist es ein Bild der Hoffnung: Wenn ein Künstler eigens aus dem Ausland anreist und ohne Angst hier arbeitet, dann sei Avdiivka ja vielleicht doch ein lebenswerter Ort.
"Dieses Wandbild wurde von einem portugiesischen Künstler gemalt, es zeigt eine Ukrainisch-Lehrerin aus der Stadt", erklärt er.
"Viele Menschen, auch Journalisten, kommen hierher, um ein Foto von dem Bild zu machen. Es ist ein Symbol dafür, dass Frieden nach Avdiivka zurückkehrt, dass das Leben und die Einheimischen, die vor dem Krieg geflohen sind, in die Stadt zurückkommen. Sehen Sie, die Cafés sind offen, der Verkehr fließt, die Leute arbeiten – obwohl einen Kilometer in diese Richtung Krieg herrscht und weiter Menschen sterben."
Das Straßenbild bestätigt die Worte des Brigadeführers. Auf den Bürgersteigen hasten Menschen, kreuzen vor hupenden Autos, tragen Kaffee im Pappbecher zur Arbeit. Es scheint, als hätten die Bewohner mit dem nahen Krieg ein Arrangement getroffen: sich entschlossen, einander zu ignorieren.
"Wir setzen auf Überzeugung"
Trügt der Eindruck? Wir sind mit Vitaliy Barabash verabredet, dem Verwalter Avdiivkas. Viel Zeit bleibt nicht, der Sprecher der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, ist angekündigt. Termine und Helikopter warten.
"Eines der größten Probleme in der Stadt ist die Infrastruktur. Vor allem die Wasserversorgung, bei der Stromversorgung gibt es mittlerweile keine Probleme mehr. Einfache Arbeiten und Reparaturen können wir selber übernehmen, aber die Wasserversorgung ist komplex. Das Wasser stammt aus der Filteranlage bei Donezk, zu der nur eine Stromleitung führt. Früher waren es drei. Wird diese Leitung gekappt, haben wir in Avdiivka zwei, drei Tage kein Wasser. Dazu kommt das, die Rohre und Leitungen in der Stadt noch aus den 1960er-Jahren stammen."
Von seinem massiven Schreibtisch aus überblickt Barabash die geschrumpfte Stadt. Rund 5000 Menschen sind trotz des Krieges all die Jahre dageblieben. Einst hatte Avdiivka mehr als 30.000 Einwohner. Das nahe Kokswerk bringt denen, die geblieben sind, noch immer ein bescheidenes Einkommen. Früher pendelten die Menschen von hier ins nahe Donezk. Doch die Metropole liegt nicht auf der anderen Seite der Front und wird von den Separatisten gehalten.
Und wer genau hinhört, erfährt, dass eine zweite Front mitten durch die Stadt verläuft. Auch hier gibt es Ukrainerinnen und Ukrainer, die die Separatisten unterstützen. Regiert Militärverwalter Barabash also über eine gespaltene Stadt?
"Heute geht niemand auf die Straße und zeigt seine Unterstützung für die pro-russischen Kräfte. Natürlich gibt es Menschen, die so denken – aber sie behalten das für sich und sprechen nur an ihrem Küchentisch darüber, mit der Familie oder Freunden", sagt er.
"Wir wollen diesen Menschen zeigen, wie wir die Stadt und das ganze Land zum Besseren verändern. So ändert sich nach und nach die Einstellung gegenüber dem Staat. Die Stadt wird wieder aufgebaut, sie wird besser. So kämpfen wir um ihre Unterstützung. Mit Gewalt kommt man da nicht weit. Wir setzen auf Überzeugung."
Eineinhalb Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine
Zusammen mit den ersten Pollen des Frühlings weht Musik durch den Hinterhof von Julia Didenko. Die Wohnung der Journalistin liegt neben einer Kaserne, in der gerade die Militärkapelle der Hafenstadt Mariupol probt. Zwischen Asowschen Meer und Front gelegen, ist die Großstadt Didenkos dritte Heimat. Geboren in Luhansk lebte sie in Donezk, als der Krieg ausbrach. Beide Städte hat sie an den Krieg verloren.
Das Video auf ihrem Smartphone zeigt, wie Mariupol angegriffen wird. 31 Menschen sterben Anfang 2015, als Separatisten ein Wohngebiet beschießen. Didenko ist damals auf dem Weg zum Flughafen, ihr Freund Andrey sieht die Angriffe aus der gemeinsamen Wohnung mit eigenen Augen. Heute haben die Menschen in Mariupol gelernt, irgendwie mit dem Krieg zu leben. Der jüngste Truppenaufmarsch der russischen Armee an der Grenze zu ihrer Heimat hat hier nicht für Panik gesorgt.
"Die Leute waren vielleicht ein wenig mehr besorgt als sonst", sagt sie. "Aber wenn man so lange in einer schwierigen Situation lebt, mit Krieg und in permanenter Anspannung, dann gewöhnt man sich daran. Man reagiert nicht mehr so wie damals, als es begann, 2014 und 2015."
Didenko und ihr Freund sind zwei von etwa 1,5 Millionen Binnenvertriebenen. Die Kriegsjahre haben den einst relativ wohlhabenden Osten der Ukraine, das Industrierevier des Landes, in eine Wirtschaftskrise manövriert. Auch in Mariupol ist das zu spüren: In Büschen am Wegesrand entdecken wir Spritzen, einige Passanten schleppen sich mit glasigem Blick an uns vorbei. Drogen mögen ein Versuch sein, zu vergessen. Denn auch wenn in der Stadt keine Raketen mehr einschlagen, entkommen sind die Menschen dem Krieg nicht.
"Die Geflüchteten benötigen vor allem zwei Dinge: Arbeit und einen Platz zum Leben. Es gibt da schon Programme, von der Regierung und auch von der Europäischen Union, aber es gibt einfach zu viele von uns Geflüchteten. Es gibt einfach nicht genug Wohnungen und Häuser und auch nicht genug Jobs."
Viele Ukrainer haben ihre Heimat und Zukunft verloren
Julia Didenko und ihr Freund Andrey haben Glück und Arbeit: Er ist Kameramann, sie Redakteurin und Stadionsprecherin des lokalen Fußballteams. Den Kontakt zu Familie und Freunden in den Separatisten-Gebieten hält das junge Pärchen weiterhin. Sie wissen, dass der Krieg die Menschen auch dort hart trifft.
"Die Situation mit der Pandemie hat alles noch viel komplizierter gemacht. Außerdem gibt es dort ebenfalls nicht genügend Jobs, die Arbeitsplätze sind einfach verschwunden."
Mehr als Klamotten und den Ausweis hat Didenko bei ihrer Flucht aus Donezk nicht mitgenommen. Groß war die Hoffnung, rasch zurückkehren zu können. Zuvor war bereits das Auto ihres Chefredakteurs in Flammen aufgegangen, befreundete Redaktionen wurden unter das Kommando der Separatisten gestellt.
Mittlerweile fühle sie sich wohl in Mariupol, sagt Didenko. Die Hafenstadt mit ihren rund 400.000 Einwohnern habe sich gemacht. Aber was für Perspektiven haben junge Menschen, was wollen sie mit ihrem Leben anfangen?
"Einfach abhauen von hier? Vielleicht, irgendwas in diese Richtung: An einer Universität in der EU studieren und einfach dortbleiben. Aber natürlich können das nicht alle Menschen so machen. Viele bleiben also einfach hier und hoffen auf Arbeit in der Fabrik, so wie ihre Eltern und Großeltern zuvor schon."
Zusammen mit ihrer Heimat haben viele Ukrainer ihre Zukunft verloren. Eine aktuelle landesweite Umfrage behauptet, dass sich die Hälfte der Bevölkerung unter 29 Jahren vorstellen kann, das Land zu verlassen. Ohnehin schrumpfte die Bevölkerung seit 1991 um etwa zehn Millionen auf inzwischen noch 40 Millionen. Ein Trend, der sich laut UN-Prognosen fortsetzt. Wer kann, verlässt die Ukraine.
"Dein Haus brauchst du nicht mehr"
Die Fahrt entlang der Front ist beschwerlich. Straßensperren des Militärs, permanente Pass- und Gesichtskontrolle. Nebenstraßen, deren Schlaglöcher Federung und Achsen des Mietwagens zum Tanz auffordern. Der Navigation auf dem Smartphone ist nicht zu trauen. Arglos lotst die App durch Separatistengebiet. Einfache Fahrten dauern Stunden.
In der Kleinstadt Drushkovka angekommen wartet Pater Denisiy auf uns. Der Priester der ukrainisch-orthodoxen Kirche hat sich vorgenommen, vom dunkelsten Kapitel seines Lebens zu erzählen. An einem Ort, von dem er drei lange Tage dachte, es wäre der Letzte.
Der Wachmann findet nicht auf Anhieb den richtigen Schlüssel, sucht mühsam. Dann endlich stößt er die Tür auf, brackig-feuchte Luft weht den Besuchern entgegen, als sie die Stufen hinab in den Keller nehmen.
"Das ist der Raum, in dem sie die Menschen, die heimgebracht wurden, damals verhört haben", erzählt er. "Bei der Befragung waren immer drei bis fünf Menschen dabei, die an einem Tisch saßen. Auf der anderen Seite stand ein Stuhl. In dieser Ecke dort haben sie uns geschlagen, da war immer frisches Blut. So viel Blut."
Trotz wallend-schwarzem Ornat und goldenem Kreuz sind es die Augen des Priesters, die mir Erinnerung bleiben. Es ist ein Blick, der von großer innerer Anspannung erzählt. 28 Jahre alt war Pater Denisiy, als die Separatisten den Priester in seinem Haus abholen und in dieses Gefängnis sperren.
"Es war ein Sommerabend Ende Mai. Ich war daheim, als es an meinem Fenster klopfte. An diesem Abend öffnete ich die Tür in meiner Alltagskleidung und vor mir standen drei Typen in Uniform, mit Masken und Maschinengewehren. Sie stießen mich zu ihrem Auto und als ich noch schnell die Tür absperren wollte, sagten sie: Dein Haus brauchst du nicht mehr."
Viele Menschen aus der Stadt haben Separatisten unterstützt
Die Aufständischen glauben, dass der Priester die lokale Bevölkerung dafür bezahlt, an pro-europäischen Protesten in Kiew teilzunehmen. Alle zwei Stunden holen sie ihn aus der Zelle in Raum Nummer sechs, stellen Fragen und schlagen zu.
Während seiner drei Tage in dem Gefängnis will Pater Denisiy gesehen haben, wie 30 Gefangene exekutiert worden sind. Ein Gitterfenster seiner Zelle erlaubte den Blick auf einen Innenhof, wo ein Pritschenwagen die Körper abtransportiert habe.
Am Ende sei er freigelassen wurden, weil man seinen Beteuerungen, er habe nicht mit pro-europäischen Protesten zu tun, doch noch geglaubt habe. Bis heute beschäftigt den Pater, dass viele Bürger die Separatisten damals unterstützt haben.
"Viele Menschen aus der Stadt haben die Separatisten unterstützt", sagt er. "Manche auch freiwillig. Der Bürgermeister etwa hat den großen Cafés und Restaurants befohlen, die Milizen mit Essen zu versorgen."
Obwohl Drushkovka kurz darauf von der ukrainischen Armee befreit wird, fliehen nicht alle Unterstützer der Separatisten aus der Stadt. Der Priester sagt, seine Märtyrer hätten Masken getragen. Aber die Augen, die hätte er erkannt. Und so müssen auch hier, wie in so vielen Orten auf beiden Seiten der Front Menschen ein Auskommen finden, die einander Schlimmstes angetan haben.
Donbass Dialog versammelt Menschen beider Seiten
Bohdan Steshenko hat für das Treffen den Park des ehemaligen Sanatoriums im Norden Sloviansks gewählt. Trotz blauen Himmels und milden Temperaturen sind in der Grünanlage nicht viele Menschen. Steshenko sagt es nicht frei heraus, doch die Abgeschiedenheit bietet auch Schutz.
Denn der Psychologe unterstützt eine heikle Initiative, den Donbass Dialogue: "Das Ziel ist, die Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Teilnehmen können Menschen von beiden Seiten der Front. Auch Ukrainer, die im Ausland leben, sind eingeladen."
Steshenko spricht mit Bedacht, seinen Antworten geht oft sekundenlange Stille voraus – immer wieder verbleibt er im Vagen. Doch er macht klar, dass am Anfang des Prozesses immer das Zuhören und die Anerkennung erlittenen Leids stehen muss.
"Die Teilnehmer wollen über Themen sprechen, bei denen sie sich Veränderungen erhoffen. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Unterhaltung selbst, sondern darum, dass ihnen jemand zuhört. Gehört und verstanden zu werden, ist wichtig."
Organisiert werden die Dialoge im Internet, bewerben können sich alle Ukrainerinnen und Ukrainer. In Vorgesprächen sondiert das Team dann, wer bereit ist, an den eigentlichen Treffen teilzunehmen. Ein langwieriger Prozess, der Geldgeber abschreckt.
Dabei sind solche Gespräche aus Sicht von Steshenko besonders vielversprechend: "Stellen Sie sich einen Kessel mit kochendem Wasser und Kesselpfeife auf einem Feuer vor. Selbst wenn das Feuer ausgeht, bleibt der Druck einige Zeit so groß, dass der Kessel laut pfeift. Aber wenn Sie den Deckel anheben und der Dampf entweicht, ist es sofort still."
Der Psychologe spricht vom Druck, der den Menschen auf der Seele liegt. Ein Bild, das verfängt. Seit rund einem Jahr macht die Pandemie auch in der Ukraine solche Treffen nahezu unmöglich. Aufgeben wollen die Aktivisten aber nicht. Sie wissen, dass sie gebraucht werden.