Jörg Himmelreich ist Jurist und Historiker. Als Professeur Affilié lehrt er an der der École Supérieure de Commerce à Paris (ESCP), Campus Berlin und publiziert regelmäßig zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen. Zuvor war er Mitglied des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Berlin, und Fellow des German Marshall Funds der USA in Washington und Berlin.
Krieg in der Ukraine
Putin und Merkel nach Gesprächen im August 2021: Die Kanzlerin kannte den russischen Präsidenten sehr gut, wusste wie er tickt, meint Jörg Himmelreich. © picture alliance / AP / Alexander Zemlianichenko
Die fatalen Versäumnisse deutscher Russlandpolitik
Wie konnte es so weit kommen? Diese klassische Frage, wenn etwas völlig schiefläuft, wird in Anbetracht des Krieges in der Ukraine nun sehr oft gestellt. Der Historiker und Außenpolitikexperte Jörg Himmelreich hat darauf eine klare Antwort.
„Wendepunkte“ der Geschichte fallen nicht aus heiterem Himmel, sie haben ihre lange Vorgeschichte. So auch Putins brutale Invasion in die Ukraine: Sie wurde von langer Hand geplant und vorbereitet.
Warnungen vor Putins Regime wurden überhört
Warum haben die bundesdeutsche Russlandpolitik und Teile der deutschen Öffentlichkeit diese Vorgeschichte nicht wahrhaben wollen, ja bewusst ignoriert?
Seit 2006 hat auch der Autor immer wieder vor Putin gewarnt: vor seinem brutalen innerrussischen, Unterdrückungsregime, vor der Gefahr seiner Außen- und Sicherheitspolitik für Europa und vor der naiven ständigen Erhöhung des deutschen Gasimports aus Russland.
Solche Warnungen wollte das politische Berlin bis zum Schluss nicht hören. Das hat vor allem mit zwei, sehr deutschen Phänomenen politischer Kultur zu tun.
Das eine ist ein nach Heinrich August Winkler ausgeprägter „deutscher Nationalpazifismus“. Aus eigener historischer Erfahrung besteht in Deutschland ein besonderes Bedürfnis nach militärischer Abrüstung und nach gewaltfreier Befriedung aller außenpolitischen Konflikte.
Idealistisches Verkennen außenpolitischer Realitäten
So moralisch richtig dieses idealistische Bedürfnis auch ist, so sehr verführte es dazu, die Welt der bitteren außenpolitischen Realitäten zu verkennen. Der Wunsch nach Frieden alleine macht die Welt noch nicht friedlich. Wir haben den Blick dafür verloren, dass Krieg und Gewalt damit nicht aus der Welt geschaffen sind.
Das zweite, sehr deutsche Phänomen, das den Blick auf die politischen Realitäten des Autokratenregimes Putins verstellte, ist die schon oft beschriebene, Jahrhunderte alte deutsch-russische Seelenverwandtschaft: ein tiefes, romantisches Verständnis für die russische Seele über alle Unterschiede der politischen Systeme hinweg, oft mit gemeinsamen anti-westlichen, anti-demokratischen und anti-amerikanischen politischen Facetten verbunden.
Politik nach dem KGB-Handbuch
Deswegen ignorierte man das, was tatsächlich geschah, dabei war alles recht offenkundig: Putins Politik folgte dem KGB-Handbuch autokratischer Machtübernahme.
Im ersten Jahr begann er bis 2001 zügig die Medien gleichzuschalten und zur staatstreuen Propagandamaschine umzubauen, der erste Sargnagel für eine noch junge Demokratie.
Januar 2006: Erste Gas-Lieferunterbrechungen in die Ukraine, aber das war ja die Ukraine selbst schuld, so die deutsche Lesart. In München 2007 spricht Putin erregt davon, wie sehr Russland sich gegen die NATO und die USA wehren müsse – das wurde nicht ernst genommen, ist halt der übliche russische Weltschmerz.
Rücksicht auf Putin, andere zahlen den Preis
NATO-Gipfel Mai 2008: An Merkels Veto scheitert der Beginn der NATO-Aufnahme von Georgien und der Ukraine. Man müsse schließlich auf Putins Großmachtweltschmerz Rücksicht nehmen. Das kleine, sich gerade demokratisierende Georgien muss bald den Preis dafür bezahlen. Im August 2008 marschiert Putin nach Georgien ein und besetzt dauerhaft Abchasien und Südossetien.
Aber das war der georgische Präsident Saakaschwili, dieser Non-Valeur, natürlich selbst schuld, so die offizielle Sicht in Berlin, hatte er doch mit seiner Rosenrevolution 2003 in Tiflis Putin unbotmäßig provoziert.
2014: Krim-Annexion und russisch unterstützte Terrorregime in Donezk und Luhansk. Antwort: laue Sanktionen, die kaum schmerzen. Seit Frühjahr 2021 systematischer, gigantischer russischer Truppenaufbau an allen Grenzen zur Ukraine.
Kanzlerin Merkel wusste, wie Putin tickt
Die Kanzlerin kannte Putin sehr gut. Sie und die Schaltstellen ihrer Regierung wussten, wie er tickt. Als KGB-Agent zur Elite der UdSSR gehörig, dachte er in den Kategorien des Geheimdienstes und der Sowjetunion.
Die Berliner Regierungen wussten und sahen all dies. Aber sie flohen ausschließlich in die Welt der Diplomatie. Eine Diplomatie ohne ernstzunehmende politische Macht und Abschreckungsbereitschaft zählt bei Putin gar nichts und war erkennbar erfolglos. Aber so konnte sich Merkel hinter der Kulisse der Diplomatie verstecken, um die eigentliche sicherheitspolitische Debatte in Deutschland nicht führen zu müssen.
Denn diese wäre erforderlich gewesen, um Putin von seiner Gewaltbereitschaft abzuschrecken. Sie aus deutschem innenpolitischem und rein wahltaktischem Kalkül zu keinem Zeitpunkt ernsthaft geführt zu haben, das ist das eigentliche historische Versagen der Merkel'schen Russlandpolitik. So ist ihre Regierung für den furchtbaren Krieg in der Ukraine mitverantwortlich geworden.