Angriffskrieg

Wie Propaganda die Proteste in Russland kleinhält

09:48 Minuten
Russische Sicherheitskräfte nehmen am 2. März 2022 in Moskau Protestierende gegen den Krieg in Gewahrsam.
Der Mut vieler Einzelner gefährdet bisher nicht Putins Rückhalt in der Bevölkerung: Russische Sicherheitskräfte nehmen in Moskau Protestierende gegen den Ukraine-Krieg in Gewahrsam. © Getty Images / Anadolu Agency
Ilja Kalinin im Gespräch mit Vladimir Balzer · 07.03.2022
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TV-Propaganda übertöne die Proteste russischer Künstler und Wissenschaftler gegen den Ukraine-Krieg, sagt Kulturhistoriker Ilja Kalinin. Viele Intellektuelle verließen nun das Land. Die Mehrheit der Bevölkerung glaube aber an Putins "Militäroperation".
Der Krieg gegen die Ukraine hat Russland international isoliert. Politische und wirtschaftliche Verbindungen werden gekappt. Inzwischen kehrten auch immer mehr russische Intellektuelle ihrem Land den Rücken, sagt der Literaturwissenschaftler Ilja Kalinin aus St. Petersburg. Dabei sei der kulturelle und wissenschaftliche Austausch Russlands mit der Welt gerade jetzt besonders wichtig.

"Wenn Russland im Bereich Wissenschaft und Kultur isoliert wird, dann spielt das den Herrschenden in die Hände."

Ilja Kalinin, Literaturwissenschaftler aus St. Petersburg

Viele Intellektuelle in Russland hätten schon früh gegen den Krieg Partei ergriffen, so Kalinin. Der größte offene Brief mit inzwischen 7000 namentlichen Unterschriften komme aus der Wissenschaft, gefolgt von Protestnoten der Lehrer- und Ärzteschaft und von IT-Fachleuten.

Proteste gegen den Krieg trotz Verhaftungen

In der Kulturszene spalte sich das Feld weiter auf. "Die Leiter der ganz großen Häuser wie der Eremitage in St. Petersburg schweigen, aber ansonsten melden sich viele Kulturleute zu Wort", sagt Kalinin. Hinzu kämen Tausende Protestierende auf den Straßen, trotz der zunehmenden Gefahr, verhaftet zu werden.
In der Mehrheit der Bevölkerung habe der russische Angriff auf die Ukraine aber nach wie vor einen großen Rückhalt, so Kalinin. Viele Menschen nutzten ausschließlich staatliche Medien und glaubten der dort verbreiteten Propaganda, bei dem Krieg gegen die Ukraine handle es sich um eine von Wladimir Putin so genannte "Militäroperation" mit dem Ziel, Russland vor einem faschistischen Regime zu beschützen.

Nicht nur, dass dieser Krieg eine einzige Tragödie ist, er wird auch noch mit Argumenten gerechtfertigt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Ilja Kalinin, Literaturwissenschaftler aus St. Petersburg

Viele Russinnen und Russen glaubten, "dass es ein Krieg gegen den Nazismus ist" – genau das also, wofür Russland nach Auffassung vieler dort lebender Menschen historisch berufen sei, erklärt Kalinin, der zurzeit als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin über russische Geschichtspolitik forscht. Wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland, die zu Belastungen für die Bevölkerung führen, würden an der Haltung der meisten zu Putins Krieg daher voraussichtlich kaum etwas ändern.

Propaganda verzögert schmerzhafte Erkenntnis

"Das Entscheidende wird sein, dass die russische Bevölkerung die Opfer erkennt, die dieser Krieg fordert – nicht nur in der Ukraine, sondern auch innerhalb der russischen Armee", sagt Kalinin. Doch das könne noch eine Weile dauern, denn die Bilder der russischen Fernsehpropaganda zeigten eine nachhaltige Wirkung.

Den Russen wird eines Tages klar werden, dass ihr Land nicht irgendeine militärische Operation gegen Nazis durchführt, sondern tatsächlich einen Krieg gegen das ukrainische Volk führt. Diese Erkenntnis wird sehr schmerzhaft sein.

Ilja Kalinin, Literaturwissenschaftler aus St. Petersburg

"Ich hoffe, dass die Wirklichkeit irgendwann gegen die Staatssender gewinnen wird", sagt Kalinin. Immerhin seien einige Internetkanäle in Russland nach wie vor offen. Youtube und Telegram seien noch zugänglich, über VPN-Netzwerke gelinge es vielen Menschen, die staatlichen Blockaden unabhängiger Medien zu umgehen und weiterhin auch westliche Quellen zu nutzen.
Es bereite ihm jedoch Sorgen, dass einige westliche Unternehmen wie Microsoft nun das Land verlassen. Ihre Dienste seien gerade für die Wissenschaft wichtige Instrumente, um in Verbindung zu bleiben. "Menschen müssen sich weiter austauschen können", sagt Kalinin. "Nur so können wir eine Zukunft aufbauen – und wir brauchen doch eine gemeinsame Zukunft."
(fka)

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