Krieg und Frieden
Die Nachwuchsautorin Nino Haratischwili erzählt in ihrem Roman "Mein sanfter Zwilling" von einer zerstörerischen Liebe, den Verheerungen der Kaukasus-Kriege und den unmöglichen Versuchen, sich zu versöhnen. Ein Familiendrama, eine Liebesgeschichte und ein Kriegsepos in einem.
Siehe da, wir haben eine neue Heldin der zeitgenössischen deutschen Literatur. Sie heißt Nino Haratischwili, ist bisher vor allem Theatergängern mit ihren Stücken bekannt und stand mit ihrem Romandebüt "Juja" letztes Jahr zwar auf der Longlist des Buchpreises, wurde bisher aber nicht ausreichend wahr genommen.
Dies wird sich nun ändern, es muss sich ändern. Denn die 1983 in Tiflis, Georgien, geborene Autorin legt mit ihrem aktuellen Buch "Mein sanfter Zwilling" einen Roman vor, der mit fast schon klassischer Wucht daherkommt. Es liest sich zuweilen wie ein Krimi, dann wieder wie ein Familiendrama, später wie eine romantische Liebesgeschichte - und am Ende wie ein Kriegsepos.
Die letzten Seiten sind kaum zu ertragen, so dramatisch entwickeln sich die Ereignisse - so viel schmerzhafte Wendungen nimmt die Geschichte und so viel Schicksal wird entschieden.
Haratischwili schreibt aus der Sicht von Stella, einer 36-jährigen Journalistin im Hamburg von heute. Sie lebt in äußerlich geordneten Verhältnissen - eine bürgerliche Ehe-Existenz ohne finanzielle Sorgen, ein verständnisvoller Mann, ein Sohn, der regelmäßig zum Sport geht. Doch Stella hat ihre Herkunft und ihre Kindheit nie geklärt, was ihr zum emotionalen Verhängnis wird.
Sie ist ein Scheidungskind wie so viele, vor allem aber erlebt sie den Niedergang einer ganzen Familie. Nicht nur, dass sie regelmäßig Zeugin der Untreue ihres Vaters wird und den Wegzug ihrer Mutter nach Amerika verkraften muss. Sie wird mit vielen weiteren Einschnitten konfrontiert. Die Geliebte ihres Vaters wird von deren Ehemann getötet und sie, Stella, gibt sich dafür die Schuld. Sie beginnt eine symbiotische Liebesbeziehung zu Ivo, dem Sohn der getöteten Geliebten des Vaters. Stellas Liebe zu Ivo wird zu einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis, das als ein Ineinandergreifen der Identitäten beschrieben wird.
Schnell werden die verheerenden emotionalen und sozialen Folgen dieser Beziehung deutlich. Ivo verschwindet für Monate und taucht plötzlich wieder auf. Er ist erfolgreicher Kriegsreporter, nimmt aber regelmäßig Drogen, pflegt ein haltloses Sexleben und ist rücksichtslos mit seiner Umwelt. Dennoch spürt Stella nur bei ihm ein "Gefühl der Gegenwart, das er monarchisch verbreitete, totalitär um sich streute".
Eine Verstrickung aus traumatischen Erlebnissen, Schuldzuweisungen und Haltlosigkeit entsteht. Doch das ist noch längst nicht alles. Bis hierhin könnte man Haratischwillis Roman noch als reines Familiendrama lesen, als ein besonders beeindruckendes Exemplar der vielen Bücher, die zur Zeit davon erzählen, welche Wunden Familien hinterlassen können.
Doch hier ist mehr. Im zweiten Teil des Romans greift Nino Haratischwili auf die Geschichte ihre georgischen Heimat zurück. Ihr gelingt die Verflechtung einer deutschen Familiengeschichte mit den Verheerungen der Kriege im Kaukasus, die die Region erschütterten. Georgier, Abchasen, Osseten, Tschetschenen, Russen - die Opfer gehen in die Tausende und auch dort wurden Familien traumatisiert und auseinandergerissen, wenn auch begleitet mit unvergleichlicher Gewalt.
Dorthin reist Ivo als Reporter, und die Ich-Erzählerin Stella folgt ihm. Was sie dort finden, geht weit über ihre eigene Geschichte hinaus und lässt diesen Roman am Ende sogar zu einem Epos der Versöhnung werden.
Besprochen von Vladimir Balzer
Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2011
380 Seiten, 22,90 Euro
Dies wird sich nun ändern, es muss sich ändern. Denn die 1983 in Tiflis, Georgien, geborene Autorin legt mit ihrem aktuellen Buch "Mein sanfter Zwilling" einen Roman vor, der mit fast schon klassischer Wucht daherkommt. Es liest sich zuweilen wie ein Krimi, dann wieder wie ein Familiendrama, später wie eine romantische Liebesgeschichte - und am Ende wie ein Kriegsepos.
Die letzten Seiten sind kaum zu ertragen, so dramatisch entwickeln sich die Ereignisse - so viel schmerzhafte Wendungen nimmt die Geschichte und so viel Schicksal wird entschieden.
Haratischwili schreibt aus der Sicht von Stella, einer 36-jährigen Journalistin im Hamburg von heute. Sie lebt in äußerlich geordneten Verhältnissen - eine bürgerliche Ehe-Existenz ohne finanzielle Sorgen, ein verständnisvoller Mann, ein Sohn, der regelmäßig zum Sport geht. Doch Stella hat ihre Herkunft und ihre Kindheit nie geklärt, was ihr zum emotionalen Verhängnis wird.
Sie ist ein Scheidungskind wie so viele, vor allem aber erlebt sie den Niedergang einer ganzen Familie. Nicht nur, dass sie regelmäßig Zeugin der Untreue ihres Vaters wird und den Wegzug ihrer Mutter nach Amerika verkraften muss. Sie wird mit vielen weiteren Einschnitten konfrontiert. Die Geliebte ihres Vaters wird von deren Ehemann getötet und sie, Stella, gibt sich dafür die Schuld. Sie beginnt eine symbiotische Liebesbeziehung zu Ivo, dem Sohn der getöteten Geliebten des Vaters. Stellas Liebe zu Ivo wird zu einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis, das als ein Ineinandergreifen der Identitäten beschrieben wird.
Schnell werden die verheerenden emotionalen und sozialen Folgen dieser Beziehung deutlich. Ivo verschwindet für Monate und taucht plötzlich wieder auf. Er ist erfolgreicher Kriegsreporter, nimmt aber regelmäßig Drogen, pflegt ein haltloses Sexleben und ist rücksichtslos mit seiner Umwelt. Dennoch spürt Stella nur bei ihm ein "Gefühl der Gegenwart, das er monarchisch verbreitete, totalitär um sich streute".
Eine Verstrickung aus traumatischen Erlebnissen, Schuldzuweisungen und Haltlosigkeit entsteht. Doch das ist noch längst nicht alles. Bis hierhin könnte man Haratischwillis Roman noch als reines Familiendrama lesen, als ein besonders beeindruckendes Exemplar der vielen Bücher, die zur Zeit davon erzählen, welche Wunden Familien hinterlassen können.
Doch hier ist mehr. Im zweiten Teil des Romans greift Nino Haratischwili auf die Geschichte ihre georgischen Heimat zurück. Ihr gelingt die Verflechtung einer deutschen Familiengeschichte mit den Verheerungen der Kriege im Kaukasus, die die Region erschütterten. Georgier, Abchasen, Osseten, Tschetschenen, Russen - die Opfer gehen in die Tausende und auch dort wurden Familien traumatisiert und auseinandergerissen, wenn auch begleitet mit unvergleichlicher Gewalt.
Dorthin reist Ivo als Reporter, und die Ich-Erzählerin Stella folgt ihm. Was sie dort finden, geht weit über ihre eigene Geschichte hinaus und lässt diesen Roman am Ende sogar zu einem Epos der Versöhnung werden.
Besprochen von Vladimir Balzer
Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2011
380 Seiten, 22,90 Euro