Kriegsgefangenschaft

Elend im Comic-Format

Von Dirk Fuhrig |
Es waren 50 eng beschriebene Seiten, die Florent Silloray im Nachlass seines Großvaters fand. Er zeichnete ein Comic daraus, das nicht nur ergreifend, sondern im besten Sinne unterhaltsam ist.
Unendliche Fußmärsche durch die Kälte, Beschuss durch deutsche Kampflieger, Gefangennahme durch die Wehrmacht. Dann Waggon-Transport nach Osten und Schwerstarbeit im Braunkohle-Tagebau - und verfaulte Kartoffeln als einzige Nahrung. Selbst die elendsten und hoffnungslosesten Momente während seiner Internierung im Zweiten Weltkrieg hat der französische Soldat Roger Brelet akribisch in ein Tagebuch eingetragen. Sein Enkel Florent Silloray hat es nach seinem Tod gefunden:
Als mein Großvater gestorben war, sahen wir seine persönlichen Sachen durch. Dabei haben wir es in einem großen Umschlag gefunden. Weder seine Kinder noch wir, seine Enkel, hatten irgendetwas davon gewusst. Es war sein ganz intimes Tagebuch aus der Zeit seiner Gefangenschaft zwischen 1940 und 1945 in Deutschland.
Tagebuch mit äußerster Akribie
50 eng mit Bleistift beschriebene Seiten. Nachdem Florent Silloray die winzigen Buchstaben seines Großvaters entziffert hatte, war er verblüfft: Über die vielen Erlebnisse, die der des Gemüsebauer Roger Brelet, der im Alter von 27 Jahren von der Ernte weg zur Verteidigung des Vaterlands eingezogen worden war, mit äußerster Akribie in sein Heft eingetragen hatte.
Lauter Dinge, von denen sein Enkel Florent noch nie gehört hatte:
Roger hat mit uns sehr wenig über diese Zeit seines Lebens gesprochen. Wir wussten, dass er in Kriegsgefangenschaft war, aber wir respektierten, dass er darüber nicht sprechen wollte. Man kann nur darum spekulieren, warum er das nicht wollte. Natürlich wollte er di vielen schmerzhaften Erinnerungen nicht heraufbeschwören. Die Gefangenschaft hatte ihm 5 Jahre seines Lebens geraubt, einige seiner Freunde waren gestorben. Und vielleicht dachte er auch, dass die junge Generation heute das alles nicht richtig verstehen könnte.
Authentische Kriegserlebnisse
Als Kind hatte Florent Silloray sehr intensiven Kontakt mit seinem Großvater gehabt. Die beiden spazierten fast täglich über die Felder und Wiesen in der Nähe von Nantes. Der 1971 geborene Florent Silloray lebt heute in La Rochelle - eine der wenigen Hafenstädte an der französischen Atlantikküste, die am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht zerstört wurden. Silloray hatte zuvor vor allem Kinderbücher illustriert. Von den Aufzeichnungen seines Großvaters war er jedoch so bewegt, dass er beschloss, aus den authentischen Kriegs-Erlebnissen ein Heft mit Cartoons zu machen.
Um seine beeindruckenden Zeichnungen so originalgetreu wie möglich anfertigen zu können, reiste der Enkel auf den Spuren seines Großvaters zunächst an die belgische Grenze, dorthin, wo die französische Armee gleich zu Beginn des Kriegs von der Wehrmacht überrollt wurde. Anschließend fuhr er nach Deutschland. In Begleitung von Thomas Zehetbauer, einem Deutschen mit familiären Bindungen in La Rochelle:
Das war reiner Zufall. Wir haben eine gemeinsame Bekannte hier in La Rochelle. Florent hat schon längere Zeit nach jemandem gesucht, der ihn nach Deutschland begleiten könnte. Denn er spricht nicht Deutsch. Und als ich dann von dem Projekt erfahren habe, war ich sofort fasziniert und habe mich bemüht, ein paar Kontakte ausfindig zu machen, die mit dem Thema zu tun haben.
Sehr emotionale Augenblicke
Es ist eine Art Erbe. Das Notizheft ist ein Geschenk von ihm an mich. Es hat mir Möglichkeit eröffnet, dieses Buch und diese Reise zu machen. 70 Jahre später an denselben Orten zu stehen, an denen mein Großvater diese schwierige Zeit seines Lebens verbracht hat - das waren natürlich sehr emotionale Augenblicke. Es war so, als hätte ich die Reise mit ihm selbst gemacht. Die Gebäude, in denen er gewohnt hat, das Lager Mühlberg, das hat alles waren extrem starke Eindrücke.
Roger Brelet wurde als Zwangsarbeiter in der „Grube Louise“ eingesetzt – eine Förderstätte für Braunkohle-Tagebau in Sachsen. Die Grube ist heute ein „Technisches Denkmal“ – auf dessen ansonsten recht detaillierter Website die Zeit des Zweiten Weltkriegs bezeichnenderweise ausgespart ist. Das dazugehörige „Stammlager IV B“, in dem Brelet als Kriegsgefangener interniert war – eines von rund 120 Soldaten-Lagern in Deutschland -, befand sich in der Nähe von Torgau, rund 70 Kilometer nordöstlich von Leipzig.
Die Erlebnisse von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten waren in den Erinnerungen vieler Kriegsteilnehmer zwar immer vorhanden, oft wurde aber auch in Deutschland nicht viel darüber gesprochen – zum Teil aus Angst, die traumatischen Erlebnisse wieder hervorzuholen. Thomas Zehetbauer:
Für mich persönlich war es natürlich auch interessant, weil ich an meinen eigenen Großvater denken musste. Ich hab mich an seine Geschichte erinnert. Er hat auch sehr wenig darüber erzählt, aber doch ab und zu, weil ich als Kind sehr neugierig war. Er ist gestorben, als ich 13 Jahre war, und im Alter von 10 oder 9 habe ich ihm Löcher in den Bauch gefragt und da ist ja auch im Carnet de Roger dann wieder gespiegelt worden.
Populäres Geschichtsbuch
Anders als in Deutschland sind Politik und Geschichte in Frankreich durchaus Themen, die nicht nur in Sachbüchern oder Romanen – sondern gerade auch in „Comics“ verarbeitet werden.
Und so ist es kein Zufall, dass parallel zu der bewegenden, sehr persönlichen Geschichte des Bretonen Roger Brelet jetzt ein weiterer Band des Comic-Altmeisters Jacques Tardi in deutscher Übersetzung erschienen ist. Tardi wurde 1946 geboren und ist durch seine vielen Comic-Romane berühmt geworden. „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B“ heißt sein neues Werk, das sich aus den Kriegs-Erlebnissen seines Vaters speist.
Stalag II B befand sich ganz im Osten, in Pommern, an der Grenze zu Polen. Auch wenn Tardi die Erinnerungen seines Vaters in den Mittelpunkt rückt, so lässt er in den Gesprächen der Gefangenen untereinander immer wieder Fakten über den Krieg und die Nazis sowie Reflexionen über die Zeitumstände aufscheinen – die Cartoons sind damit auch eine C über die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs. Über Demütigung, Sterben und Über-Leben in der Kriegsgefangenschaft.
Geschichte im Comic-Format – bei Florent Siollray aus sehr persönlicher Perspektive, bei Jacques Tardi zusätzlich mit dem Wissen und Blick des Historikers. Beide Bände sind aber nicht nur lehrreich und ergreifend – sondern auch ganz wunderbar gezeichnet. Und damit unterhaltsam im besten Sinne.
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