Die Stiftung "Menschen für Menschen" arbeitet seit 40 Jahren in Äthiopien mit überwiegend äthiopischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es hat im Team nie eine Rolle gespielt, zu welcher Ethnie der eine oder die andere gehören. Sebastian Brandis vom Vorstand der Stiftung erklärt im Interview mit der Weltzeit, warum wir uns mit Beurteilungen oder Schuldzuweisungen zurückhalten sollten.
Kein Frieden in Sicht
24:57 Minuten
Der Krieg in Äthiopien eskaliert. Brutale Menschenrechtsverbrechen finden kaum den Weg in die Nachrichten, weil keine Journalisten mehr im Konfliktgebiet sind. Das Land des Friedensnobelpreisträgers Abiy Ahmed ist weiter vom Frieden entfernt denn je.
In Addis Abeba, der äthiopischen Hauptstadt, werden mit Volksmusik und Reitereskorte neue Rekruten gefeiert, ehe sie in den Krieg ziehen. Unter einem großen Zeltdach sitzen die jungen Männer und einige Frauen in vielen Reihen auf weißen Plastikstühlen und klatschen im Rhythmus der Musik. Sie tragen zivile Kleidung, aber auf dem Kopf Käppis in militärischen Tarnfarben.
Ohne Käppi sieht Alemayehu Dulo noch jünger aus, mit seinen Rastazöpfen und im weißen T-Shirt. Warum er kämpfen will, hat er dem ägyptischen Onlinesender Al-Mizan erzählt:
"Ich habe mich zur äthiopischen Armee gemeldet, weil wir schon einen Zweifrontenkrieg führen. Ich bin bereit, für mein Land zu sterben. Solange ich lebe, werde ich nicht tatenlos zusehen, wie mein Land angegriffen wird."
Tausende Zuschauerinnen und Zuschauer sind für den feierlichen Abschied der Rekruten auf den "Meskel Square" gekommen, den größten Platz in Addis Abeba. Die Veranstaltung ist ein Spektakel. Die stellvertretende Bürgermeisterin von Addis Abeba, Adanech Abiebe, tritt ans Mikrofon:
"Der Krieg ist uns aufgezwungen worden, um Äthiopien wirtschaftlich zu brechen und uns wieder zu Hilfsempfängern zu machen. Unsere Erzfeinde bedienen sich dafür der Söldner des alten Regimes."
Mit dem "alten Regime" meint sie die langjährige, sehr autoritäre Regierung, die von der sogenannten Volksbefreiungsfront von Tigray, TPLF, dominiert wurde – bis der jetzige Regierungschef Abiy Ahmed die TPLF von der Macht verdrängte. Der Streit zwischen den alten und den neuen Kräften ist vor neun Monaten zum Krieg eskaliert, und der ist der Grund für das heutige Spektakel. Das Ziel: weitere junge Menschen für den Krieg zu begeistern. Ministerpräsident Abiy Ahmed hat zur Mobilmachung der gesamten erwachsenen Bevölkerung gerufen.
Äthiopien wurde lange von Tigray aus regiert
Zwischenzeitlich schien die TDLF schon besiegt. Doch seit einigen Wochen ist sie auf dem Vormarsch, hat Tigray zurückerobert und ist in die benachbarten Regionen Afar und Amhara einmarschiert. Der Konflikt droht sich nun noch weiter auszuweiten. Mobilisiert wird auf beiden Seiten.
Ende Juli marschieren Hunderte junge Männer und Frauen durch die hügelige Landschaft im Norden Äthiopiens – Freiwillige, die sich der Rebellenarmee TDF anschließen wollen. Etliche von ihnen klatschen und jubeln, einer der Männer trägt die Flagge der umkämpften Region.
Die Freiwilligen sind auf dem Weg in ein militärisches Ausbildungslager. Wahad Gebreziher hat alles stehen und liegen lassen, um sich anzuschließen.
"Ich habe bisher mein Geld mit dem Waschen von Autos verdient. Außerdem habe ich Alkohol verkauft, damit ich über die Runden komme. Ich habe mich unseren bewaffneten Kräften angeschlossen, weil unsere Feinde unsere Schwestern und Frauen vergewaltigt und unseren Besitz geplündert haben. Sie würden uns niemals in Frieden leben lassen. Ich will für meine jüngeren und älteren Geschwister und meine Eltern kämpfen. Ich bin glücklich, jetzt Teil der Armee zu sein. Wir werden unsere Feinde auslöschen."
Rund ein Vierteljahrhundert lang wurde der Vielvölkerstaat Äthiopien von der TPLF aus Tigray kontrolliert – sie war die alles bestimmende Kraft in einer formal herrschenden Parteienkoalition. Das Regime der TPLF war drakonisch, zu Hunderten verschwanden Kritiker im Gefängnis, die Demokratie war kaum mehr als eine Fassade. Als schließlich im April 2018 Abiy Ahmed an die Regierung kommt, ist der Jubel groß.
International erregt Abiy schon nach kurzer Zeit Aufsehen: Es gelingt ihm, einen Friedensvertrag mit dem Nachbarland Eritrea auszuhandeln – nach 20 Jahren der Feindschaft. Dafür bekommt er ein Jahr später den Friedensnobelpreis. Er ist 2019 auf dem Höhepunkt seiner internationalen Anerkennung.
Aber mit dem Friedensschluss schürt er auch den Konflikt mit den alten Machthabern der TPLF. Sie wurden nicht einbezogen in die Entscheidung und sehen noch immer in Eritrea den Erzfeind.
Friedensnobelpreisträger lässt Armee einmarschieren
Doch zunächst scheint alles noch vielversprechend. Auch innenpolitisch geht Abiy viele Reformen an. Er beendet den Ausnahmezustand, lässt politische Gefangene frei, erlaubt Parteien und Medien, die bis dahin verboten waren.
Die alte Machtclique wird nach und nach abgesetzt. Hohe Militärs und Politiker werden verhaftet – wegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption. Aber Abiy geht zu schnell gegen die Mitglieder des alten Regimes vor, analysiert Rashid Abdi, Ostafrika-Experte der Denkfabrik International Crisis Group.
"Viele, die in Korruption verwickelt sind, kommen aus der Tigray-Region. Sie haben die wichtigen Posten in der früheren Regierung besetzt. Die Wahrnehmung in Tigray ist darum jetzt, dass der Ministerpräsident es auf ihre Volksgruppe abgesehen hat. Das ist keine gesunde Entwicklung."
Die politischen Auseinandersetzungen mit der TPLF eskalieren immer mehr. Im September vergangenen Jahres lässt die TPLF Wahlen in der Region Tigray abhalten, obwohl die im ganzen Land wegen der Corona-Pandemie verschoben werden sollten. Die TPLF erkennt Abiy nicht mehr als Ministerpräsidenten an, und Abiy spricht der neu gewählten Regionalregierung von Tigray seinerseits die Legitimation ab. Anfang November lässt er die Armee in Tigray einmarschieren, nachdem die TPLF eine Militärbasis angegriffen haben soll.
Das äthiopische Staatsfernsehen zeigt Bilder, wie die Soldaten vorrücken. Doch Abiy hat auch das internationale Publikum im Blick. Der Friedensnobelpreisträger will nicht als Kriegstreiber dastehen. In einer Ansprache wirbt er um Verständnis für das Eingreifen in der Tigray-Region. Die TPLF habe es seit langem darauf angelegt, Konflikte in Äthiopien zu befeuern.
"Sie haben jede Kraft unterstützt, trainiert und ausgebildet, die bereit ist, sich an gewaltsamen und illegalen Aktionen zu beteiligen. Ihr Ziel ist ganz klar das Land unregierbar zu machen, indem sie Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen und Religionen anzetteln. Sie wollen so lange Uneinigkeit und Zwietracht säen, bis die demokratischen Prozesse gestoppt sind."
Nur wenige Informationen dringen nach außen
Mit dem Beginn der Kämpfe sind über die Lage in Tigray kaum Informationen zu bekommen, Telefon- und Internetverbindungen werden immer wieder unterbrochen. Trotzdem kursieren bald Bilder in sozialen Netzwerken, die Opfer von Massakern und anderen Verbrechen zeigen – verübt von allen Konfliktparteien. Bald wird klar, dass auch Soldaten aus dem Nachbarland Eritrea in die Kämpfe verwickelt sind und ebenfalls schwere Menschenrechtsverletzungen verüben. Beides leugnet Abiys Regierung, auch als es sich eigentlich schon nicht mehr leugnen lässt.
Mitte August berichtet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, im Krieg um Tigray würde sexualisierte Gewalt bewusst als Waffe eingesetzt.
"Sie haben mich einer nach dem anderen vergewaltigt. Ich weiß nicht, ob sie bemerkt haben, dass ich schwanger war. Ich weiß noch nicht einmal ob ihnen klar war, dass ich ein Mensch bin."
Diese Aussage einer jungen Frau aus Tigray ist eine von vielen, die in der Untersuchung von Amnesty International grausamste Verbrechen bezeugen. Donatella Rovera hat mit Dutzenden Überlebenden gesprochen. Sie ist Krisenberaterin zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstößen.
"Ich recherchiere jetzt schon seit mehr als 20 Jahren zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unterschiedlichen Kriegen im Nahen Osten und in Afrika verübt wurden. In vielen dieser Recherchen ging es um sexualisierte Gewalt. Und ich muss sagen, dass das, was ich von den Frauen und Mädchen aus Tigray gehört habe, zu dem schlimmsten gehört, was ich gehört habe – weil sie einer solchen Vielzahl von Grausamkeiten ausgesetzt waren."
Vergewaltigungen als Kriegswaffe
Roveras Recherchen zufolge wurden viele Frauen von mehreren Männern vergewaltigt, oft über Tage oder Wochen festgehalten – eine Form der sexuellen Sklaverei. Andere wurden vor ihren Kindern oder anderen Angehörigen brutal missbraucht. Oder ihre Genitalien wurden verstümmelt.
"Ich habe gar nicht genug Worte, um über darüber zu sprechen. Sie sehen in uns Frauen aus Tigray so etwas wie die weggeworfenen Reste eines Snacks."
Rovera konnte mit 63 Überlebenden sprechen. Verantwortlich für die Verbrechen sind laut Amnesty International die äthiopischen Streitkräfte und ihre Verbündeten. Die äthiopische Regierung wies den Bericht zurück, er sei Teil einer "Schmutzkampagne" der Menschenrechtsorganisation gegen die Regierung.
Rovera dagegen will die Regierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed nicht aus der Verantwortung lassen:
"Die äthiopische Regierung muss sicherstellen, dass wegen dieser Verbrechen ermittelt wird, dass die Täter vor Gericht gebracht werden. Außerdem müssen die Überlebenden die Unterstützung und die Entschädigung bekommen, die sie verdient haben."
Auch die internationale Gemeinschaft müsse tätig werden und ermitteln, sowohl die Afrikanische Union als auch die Vereinten Nationen.
Auch die internationale Gemeinschaft müsse tätig werden und ermitteln, sowohl die Afrikanische Union als auch die Vereinten Nationen.
Gleichzeitig spitzt sich die Not Hunderttausender Menschen zu und der Konflikt weitet sich auf die Nachbarregionen aus. Zwei Millionen Menschen sind vor den Kämpfen auf der Flucht, Hunderttausende hungern. Valerie Browning lebt in Afar, in der Nähe der Grenze zu Tigray – also mitten im Kriegsgebiet.
"Am 16. Juli ist die Armee der TPLF in Afar einmarschiert. Sie sind durch den Bezirk Yalo hindurchmarschiert und haben vier Distrikte eingenommen, kontrollieren die Straßen und Städte. Sie haben Infrastruktur zerstört, Lebensmittelvorräte verbrannt und mehr als 100.000 Menschen sind geflohen."
Auch in Afar werden Kriegsgräuel an der Bevölkerung verübt. Unbestätigten Berichten zufolge töteten Bewaffnete Anfang August Dutzende Vertriebene, die Zuflucht in einem Camp gesucht hatten. Aus Angst vor weiteren Verbrechen versuche die Bevölkerung, in immer abgelegenere Gebiete zu fliehen, sagt Browning. Sie arbeitet für eine lokale Hilfsorganisation.
"Diese Menschen waren schon unterernährt, ehe die Kämpfe losgingen – Folge einer Dürre und der Heuschreckenplage. Und nun dauern die Gefechte schon seit vier Wochen an. Viele Menschen haben ihren ganzen Besitz verloren, und sie sind in größter Angst. Die Regenzeit hat schon angefangen, alles ist schlammig. Wir haben nur die Möglichkeit, sie auf Kamelen reitend zu finden und ihnen zu helfen. Wir versuchen das, aber es reicht nicht. Es ist wirklich nicht genug. Ich lebe schon seit 33 Jahren in Afar, aber eine solche Katastrophe habe ich noch nie gesehen."
LKW mit Hilfsgütern werden immer wieder gezielt aufgehalten, obwohl die Konvois für die hungernde Bevölkerung überlebenswichtig sind. Die Kämpfer kümmert es nicht, auch wenn es die eigenen Leute trifft. Die humanitäre Katastrophe, die sich in Äthiopien derzeit abspielt, nehmen alle Konfliktparteien in Kauf. Mehr noch: Sie gehen gezielt gegen Zivilsten vor, die nur eines wollen – in Frieden leben.
Derzeit keine Hilfe im Krisengebiet möglich
Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen haben bereits drei Mitarbeitende verloren, weil sie im Konfliktgebiet versucht haben zu helfen und getötet wurden. Die Lage ist ernst, so Sebastian Brandis, Vorstand der Stiftung Menschen für Menschen, die seit 40 Jahren in Äthiopien Hilfe zur Selbsthilfe leistet.
"Es gibt es eine sehr schlechte Informationslage, sodass man unmöglich sagen kann, was genau dort passiert. Außerdem ist die Lage so unsicher, dass viele Organisationen ihre Arbeit nicht in der gewohnten Form ausführen können. Denn sie brauchen ja, um humanitäre Hilfe zu leisten oder sonstige Unterstützung zu leisten, eine gewisse soziale Sicherheit, sodass ihre Mitarbeiter nicht gefährdet sind. Und das ist aktuell nicht gewährleistet."
Menschen für Menschen plant, sobald es möglich ist, ein Nothilfeprogramm zur Versorgung von 30.000 Menschen südlich von Mekelle.
"Wir sitzen auf gepackten Koffern", so Sebastian Brandis. "Wir sind zuversichtlich, dass es bald losgehen kann. Wir haben 600 Mitarbeiter vor Ort, die meisten von ihnen kommen aus Äthiopien, und wir sind seit 40 Jahren im Land. Das heißt, wir haben sehr viele Verbindungen in verschiedenste Institutionen, aber auch private Verbindungen. Im Mai und Juni war ein Team von uns im Norden, um die Lage zu beurteilen."
Allerdings sind die Strukturen nicht verlässlich und oft ist gar nicht klar, wer eigentlich das Zepter in der Hand hält. Die ethnischen Konflikte hält Brandis eher für vorgeschoben.
"In unserem Mitarbeiterstamm wissen wir zum Beispiel oft gar nicht, wer welcher Ethnie zugehört oder welcher Religion. Äthiopien ist eigentlich ein sehr gemischtes Land und im Grunde geht es um andere Fragen. Es geht um Politik und die Frage, in welche Richtung sich die äthiopische Gesellschaft entwickeln soll. Wir sollten von Deutschland höllisch aufpassen, von außen zu versuchen, da irgendein Urteil zu fällen oder eine Schuldzuweisung zu machen. Das vermögen wir nicht und deshalb sollten wir es unterlassen."