Krim-Krise

"Post-sowjetischer Phantomschmerz"

Russland hat in der Krim-Krise nach Ansicht des Berliner Völkerrechtlers Gerd Seidel eindeutig bilaterale Verträge mit der Ukraine verletzt. Völkerrechtlich gesehen gehöre die Krim zweifellos zur Ukraine. Als Vermittler schlägt er Altkanzler Gerhard Schröder vor.
Ute Welty: Wem gehört die Krim? Jedem und niemandem, ist die lapidare Antwort des Volksmundes! Der scheint den jüngsten Teil der Geschichte schon immer geahnt zu haben, schließlich stand die Krim schon unter taurischer, gotischer, venezianischer oder eben auch unter russischer Herrschaft, um nur ein paar zu nennen! Und auch der aktuelle völkerrechtliche Status der Krim ist, wenn nicht unklar, dann doch im höchsten Maße kompliziert. Zeit also, Expertise einzuholen von Professor Gerd Seidel, der an der Humboldt-Universität zu Berlin lange Zeit Völkerrecht unterrichtet hat. Guten Morgen, Herr Seidel!
Gerd Seidel: Guten Morgen!
Welty: Lässt sich der Status der Krim in einem Satz beschreiben? Ich weiß, dass Juristen das womöglich schwerfällt!
Seidel: Das ist wirklich schwer, weil der Status etwas kompliziert ist. In der Tat, seit mehreren Jahrhunderten, seit 1774 gehörte die Krim zu Russland. Und dieser Zustand überdauerte auch die Oktoberrevolution. Und 1954 übertrug der damalige sowjetische Ministerpräsident die Krim in einer Gönnerlaune gewissermaßen der Ukraine. Nun war das damals nicht so kompliziert, die Ukraine war eine Sowjetrepublik und man sah noch nicht voraus, dass es zu einem Zerfall der Sowjetunion kommen würde.
Welty: War mehr so rechte Tasche, linke Tasche?
Seidel: Ja, eben nach Laune so heraus. Aber das spielte keine Rolle damals. Er selbst war Ukrainer. Und mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde das dann praktisch, dann wurde die Ukraine ein selbstständiger, souveräner Staat neben Russland. Aber Russland hatte seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ja dort noch seine Schwarzmeerflotte stationiert. Und das ist ein großer Komplex. Also ging es hin und her und 1997 erst wurde ein Vertragswerk geschaffen, bilateral zwischen Russland und der Ukraine und …
Welty: Auf diesen Vertrag werden wir gleich noch mal eingehen, aber vielleicht vorher noch mal die Frage: Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Blick in die Vergangenheit, wenn es darum geht, die aktuellen russischen Ambitionen und auch die möglichen Aktionen zu bewerten?
Seidel: Nun, die Krim gehörte viele, viele Jahre – wie ich sagte: Jahrhunderte – zu Russland. Das ist das eine. Aber die völkerrechtliche Bewertung muss ansetzen von den heutigen Bedingungen und von den heute bestehenden vertraglichen Verhältnissen. Und danach gehört die Krim zu der Ukraine. Und die Russen haben einen Pachtvertrag dort auf Zeit, zunächst verlängert bis 2042. Aber sie sind nicht souverän, souverän über die Krim und auch über Sewastopol praktisch ist die Ukraine.
Welty: Das ist der Stützpunkt der Schwarzmeerflotte.
Seidel: Ja.
Welty: Unter welchen Bedingungen wäre es überhaupt möglich, dass die Krim wieder an Russland geht?
Seidel: Nun, unter völkerrechtlich akzeptablen Bedingungen wäre das möglich, wenn man eine Befragung macht in der Krim. Das muss allerdings zugelassen werden vonseiten des Souveräns der Ukraine. Und wenn sich die Bevölkerung dann zu Russland aussprechen würde, die Zugehörigkeit zu Russland, dann könnte eine Übertragung erfolgen. Aber eine solche Übertragung geht nur und ausschließlich nur mit Zustimmung beider Staaten, also vor allem auch der Ukraine.
Welty: Sie haben es schon angesprochen, es gibt einen Vertrag zwischen Russland und der Ukraine, der bis 2042 läuft und der erhebliche Relevanz auch haben könnte in der aktuellen Situation. Inwieweit genau?
Seidel: Ja, diese Relevanz hat dieses Vertragswerk. Es sind mehrere Verträge von 1997. Darin wird festgelegt, dass Russland seine Schwarzmeerflotte auf diesem Stützpunkt weiter unterhalten kann, aber zu minutiös genau festgelegten Bedingungen. Und um die Sache auf den Punkt zu bringen: Das, was Russland gegenwärtig macht, das überschreitet den Rahmen dieses Vertrages. Also, das ist nicht abgedeckt durch diesen Vertrag, die Anwesenheit und die militärische Demonstration von russischen Truppen. Das ist eine Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine, so muss man das bewerten. Allerdings, ich halte es für überbewertet, hier von einer Aggression zu sprechen. Eine Aggression verlangt die Anwendung militärischer Gewalt. Das ist Gott sei Dank nicht erfolgt.
Welty: Würden Sie so weit gehen und sagen, dass NATO und westliche Staatengemeinschaft in größerem Sinne sich – ich drücke es mal salopp aus –, sich sehr weit aus dem Fenster lehnen?
Seidel: Ja, beide haben sich verhalten wie der berühmte Elefant im Porzellankasten. Und sie haben die Besonderheiten der Ukraine nicht berücksichtigt und sie haben sich vor allen Dingen auch nicht auf Russland eingestellt. Nun, wissen Sie, Russland hat viele Republiken damals, 1991, verloren, ich spreche von einem postsowjetischen Phantomschmerz. Es ist so, als hätte jemand Schmerzen an einem amputierten Finger oder an mehreren amputierten Fingern. Das muss man berücksichtigen. Das rechtfertigt natürlich nicht die militärische Präsenz gegenwärtig auf der Krim vonseiten der Russen, aber man muss dieses psychologische Moment, das es ja auch auf staatlicher Ebene gibt, in Rechnung stellen. Und das hat man nicht getan, weder vonseiten der EU, noch vonseiten der NATO. Und im Grunde genommen haben die Amerikaner mit den Russen jetzt ein bisschen Kalten Krieg wieder fortgesetzt. Und insofern würde ich es nicht für günstig halten, wenn die NATO oder die Amerikaner in einer Vermittlungskommission mit enthalten sein würden. Diese Vermittlungskommission – und damit bin ich bei dem Punkt "wie weiter" –, es müsste die Stunde der Diplomatie jetzt sein und nicht die Stunde der Drohung gegenüber Russland. Russland muss eingebunden werden langfristig und man muss mit Russland reden. Und das weiß Russland auch, das weiß der Putin ganz genau. Bloß, das müssen geeignete Persönlichkeiten machen, die dürfen nicht vorbelastet sein.
Welty: Wer ist denn eine geeignete Persönlichkeit Ihrer Einschätzung nach?
Seidel: Entweder man einigt sich auf eine Person, es war im Gespräch Kofi Annan. Nun, ob er die spezifischen Besonderheiten Osteuropas so genau kennt, das weiß ich nicht. Aber von der Persönlichkeit her würde ich ihm das schon zutrauen. Oder man einigt sich auf zwei, zum Beispiel Altkanzler Gerhard Schröder könnte gewissermaßen für die russische Seite in den Ring gehen, in den Vermittlungsring natürlich, und die Ukraine müsste eine Person finden, die sowohl den Osten wie auch den Westen des Landes repräsentiert und versteht. Es kann niemand sein, der bisher sich schon zu weit aus dem Fenster gelehnt hat.
Welty: Das ist die dringende Empfehlung des Völkerrechtlers Gerd Seidel hier in der "Ortszeit" am Dienstagmorgen. Ich danke sehr!
Seidel: Danke schön, bitte!
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