Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Roman
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014
608 Seiten, 29.95 Euro
New York ist der geheimnisvolle Verdächtige
Er ist ein Phantom, ein New Yorker, ein Mann mit Papiertüte auf dem Kopf - der Autor Thomas Pynchon entzieht sich dem Publikum. Nur seine Romane verraten überhaupt seine Existenz. Sein aktueller Krimi "Bleeding Edge" spielt in der Zeit von 9/11.
Lang erwartet - der neue Pynchon. Und jedes Mal, wenn von dem amerikanische Schriftsteller Neues erscheint, wird in der amerikanischen Presse das "Phänomen Pynchon" verhandelt. Er bleibt nämlich schlicht verschwunden. Geschickt entzieht er sich der Öffentlichkeit, der Vereinnahmung und dem Scheinwerferlicht. "Bis auf ein paar Wortmeldungen in der New York Times, ein gelegentliches Dinner mit Don DeLillo, Salman Rushdie und Ian McEwan sowie, seinem Sohn zuliebe, zwei längst legendären Auftritten bei den Simpsons, absolviert mit einer Papiertüte über dem Kopf, übt er sich im Verschwundensein" - so die FAZ.
Wäre New York eine Figur in einem Kriminalroman - so verrät das dem Roman vorangestellte Motto -, dann wäre es der geheimnisvolle Verdächtige, der die wahre Geschichte kennt, aber nicht vorhat, sie zu erzählen. Genau so ist es dann auch: Bleeding Edge ist ein New York-Roman, in dem Manhattan eine Hauptrolle zukommt. Thomas Pynchon, der sich seit mehr als 50 Jahren der Öffentlichkeit so radikal entzieht, dass es kein einziges Foto von ihm gibt, kennt sich dort aus, vor allem in dem als "Yupper West Side" verballhornten Viertel der jungen Neureichen. Er, der bei einem Gastauftritt in den "Simpsons" eine Papiertüte über dem Kopf trug, kennt sich da so gut aus, dass ihm all das aus eigener Anschauung vertraut muss. Kein Zweifel: Pynchon, der vom Mythos seiner Unsichtbarkeit lebt, ist ein New Yorker. Und seine Stadtansichten sind wunderschön, gemein und präzise. Das ist dann aber auch schon die Hauptnachricht von "Bleeding Edge".
In der Mitte liegt "Nine-Eleven"
Denn leider bewahrheitet sich auch der zweite Teil des Mottos. Mal dahingestellt, ob Pynchon die Geschichte kennt, und ob es überhaupt eine Geschichte gibt: Er hat jedenfalls nicht vor, sie zu erzählen. Stattdessen: Viel Leerlauf, viele Episoden, die sich zu keinem Ganzen fügen wollen, und Ereignisse (Mord inklusive), die irgendwo im Ungefähren verplätschern. Das hat System: Die Wirklichkeit ist unübersichtlich, und sie geht auch nicht auf. Eine realistische Darstellung muss die Welt so verwirrend und belanglos abbilden, wie sie ist. Ein guter Roman aber kann daraus nicht werden.
"Bleeding Edge" spielt im Zeitraum zwischen Frühjahr 2001 und Frühjahr 2002. Ungefähr in der Mitte liegt also "Nine-Eleven"; die einstürzenden Türme des World Trade Center bilden gewissermaßen das Gravitationszentrum des Buches. Hauptfigur ist die Betrugsermittlerin Maxine Tarnow, eine von ihrem Mann getrennt lebende jüdische Mutter zweier kleiner Söhne, die in den Monaten nach dem Crash am Neuen Markt einem Internet- und Börsen-Tycoon auf der Spur ist. Dieser Gabriel Ice kauft kleine Pleiteunternehmen auf, um sie auszuschlachten. Vor allem aber betreibt er dubiose Geldgeschäfte. Könnte sein, dass er irgendwelche saudischen Terroristen finanziert, könnte aber auch sein, dass er im Dienste des amerikanischen Geheimdienstes steht. Pynchon streut lustvoll Verdachtsmomente und Verschwörungstheorien, denkt aber gar nicht daran, sie auch aufzulösen. So tappt man als Leser mit der sympathischen Heldin durchs Ungefähre.
Freiwillige Selbstunterwerfung
Maxine ermittelt vor allem im Internet, das, will man Pynchon folgen, auch 2001 schon eine allumfassende Macht besaß und jeden Einzelnen rund um die Uhr zu fesseln und zu überwachen verstand. Die Totalüberwachung in einer Gesellschaft der freiwilligen Selbstunterwerfung ist sein eigentliches Thema. "Bleeding Edge" steht für Technologien, die so neu sind, dass ihr Nutzen noch nicht bekannt, das Risiko aber hoch ist. "Second Life" war damals groß in Mode, bei Pynchon heißt die perfektionierte Variante davon "Deep Archer", was wie Departure klingt. In den Tiefen des Netzes bewegen sich die abfahrbereiten Geeks und Nerds durch täuschend echte Oberflächen. Sie suchen nach Gegenden, die noch nicht überwacht und kommerzialisiert sind und klicken sich durch ein Labyrinth aus Links, die sich nach Gebrauch sofort auflösen. so dass sie keine Spuren hinterlassen.
Genau so funktioniert auch Pynchons Erzählweise. Er setzt Links, die ins Leere führen. Er baut ein Labyrinth und macht es unsichtbar. Zu sehen ist die glatte Oberfläche: eine Sprache ohne Widerstände, in der beim Lesen nichts einrastet. Dialoge, die so sehr auf Originalität getrimmt sind, dass sie in ihrer Pointengier ermüden. Figuren, blass und en masse, die man bis zu ihrem nächsten Auftritt längst vergessen hat. Ein Roman also zum Abgewöhnen. Ein Roman wie das Internet. Wenn da überhaupt eine Tiefe ist unter der Oberfläche, dann kann man darin nur verloren gehen.