Die Lust am wahren Bösen
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Es sind vor allem Frauen, die von den Geschichten über echte Verbrechen fasziniert sind, sagt Krimi-Expertin Sonja Hartl. Den Boom dieser "True Crime"-Bücher führt sie auch auf neue Plattformen wie Podcast zurück.
Andrea Gerk: Echte Verbrechen brachte früher vor allem mal Eduard Zimmermann mit "Aktenzeichen XY" ins Haus. Inzwischen gibt es dazu einige Formate und vor allem eine ganze Reihe von "True Crime"-Magazinen, wie "Stern Crime" und "Closer Crime". Sonja Hartl, die auch Mitglied für die Jury für die Krimibestenliste ist, sie hat sich mit dieser Lust am wahren Bösen beschäftigt. Sie sind Expertin für Kriminalromane, also für das fiktive Verbrechen. Was ist denn eigentlich noch mal anders? Sie haben sich jetzt auch damit beschäftigt, wenn die Geschichten echt sind. Ist da der Grusel noch mal ein bisschen gruseliger?
Sonja Hartl: Es ist ein bisschen gruseliger, auch ein bisschen faszinierender, vor allem aber unmittelbarer. Denn es sind genau genommen wahre Geschichten mit echten Personen. Wenn man dann zum Beispiel "Falschaussagen" von den Journalisten T. Christian Miller und Ken Armstrong liest, die die Geschichte der 18-jährigen Marie erzählen, die wirklich keine einfache Kindheit und Jugend hatte, dann vergewaltigt wird, das Richtige macht, zur Polizei geht und der dann nicht geglaubt wird, weil sie sich nicht angemessen verhält, weil sie sich nicht so verhält, wie man das von einem Vergewaltigungsopfer erwarten sollte, und dadurch werden dann keine Ermittlungen eingeleitet. Ein Serienvergewaltiger kann weiter vergewaltigen, und man erfährt nicht nur, dass er schreckliche Taten weiter begehen konnte, sondern auch, welche Folgen dieser Verdacht der Lüge für Marie selbst hatte. Dann nimmt einen das schon ein bisschen mehr mit, wenn man weiß, das ist tatsächlich passiert, das ist einer Frau passiert, und das ist jetzt kein plot device. Die Autoren machen auch kein Hehl daraus, dass sie ein klares Ziel verfolgen – das ist bei "True Crime" nie der Fall –, sondern sie verfolgen immer noch so ein gesellschaftliches Engagement. Sie wollen auf Missstände aufmerksam machen, und dadurch engagiert man sich dann teilweise auch noch mehr als bei fiktiver Literatur.
Klare Erzählstruktur bei Zeitschriften
Gerk: Ist das vielleicht auch ein bisschen direkter erzählt, oder was gibt es überhaupt für Erzählweisen bei diesen "True Crime"-Storys?
Hartl: Überwiegend folgen die schon wiederkehrenden Mustern. Es ist sehr oft, dass Ermittlerinnen im Vordergrund stehen, die dann den Täter überführen oder dass ein Täter länger begleitet wird, um zu erfahren, warum macht er das. Es gibt gerade in den Zeitschriften, die jetzt wirklich gehäufter an Kiosken zu finden sind, klare Erzählstrukturen.
Wenn man mal ein Beispiel aus dem Märzheft von "Stern Crime" nimmt, das ist fast prototypisch, das heißt "Das Tier im Manne". Es beginnt ganz schlimm mit einem brutalen Mord an einer Frau. Das ist alles ganz szenisch erzählt, und im Mittelteil erfolgt dann so eine Aufklärung. Der Fall ist 1979 passiert, konnte damals nicht aufgeklärt werden. Und jetzt 2001 nimmt sich ein Staatsanwalt diesem Fall neu an und findet durch eine Blutspur an einem Kleidungsstück des Opfers, die nicht der Frau zugeordnet werden konnte, eine DNA-Spur und entdeckt, dass der Täter von damals bereits im Gefängnis sitzt wegen eines anderen Mordes, damit kommen wir dann zu so einem Abschluss. Der Täter wird vor Gericht gestellt für diesen zweiten Mord. Er wird noch mal verurteilt, und dadurch ist dann die Gerechtigkeit wieder hergestellt. Das ist ganz wichtig gerade bei diesen Zeitschriftenformaten. Auch die Rollen zwischen Gut und Böse sind sehr klar verteilt.
Konzentration auf den Täter aufbrechen
Gerk: Und steht da meistens der Täter im Mittelpunkt der Geschichten? Also sind das oft Porträts, oder geht es auch mal um die Oper? Eins hatten Sie am Anfang schon erzählt.
Hartl: Bei den Zeitschriften sind schon ganz klar Täterporträts in der Überzahl. Das ist dann dieser Mörder, der Jahre später verurteilt wird. Oder es gibt noch einen Mann, der Frauen in Alaska durch die Wildnis jagt und ermordet. Bei "Closer Crime", die setzen insgesamt mehr auf Effekt und Emotion, sind das dann auch diese großen bekannten Serienmörder wie Charles Manson oder Ted Bundy. Bei den Büchern ist es teilweise anders. Da gibt es derzeit einen sehr, sehr spannenden Versuch, diese Konzentration auf den Täter aufzubrechen.
Es gibt zum Beispiel von Hallie Rubenhold "The Five". Darin erzählt sie die Geschichte der fünf Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden. Und es geht nicht darum, jetzt aufzudecken, wer Jack the Ripper war, sondern es geht wirklich um die Leben von diesen Frauen, wer hat sie ermordet, wer waren sie. Das ist fast so ein Nebeneffekt, dass sie deutlich macht, wie die Misogynie damals die Ermittlungen behindert hat. Das ist sehr, sehr faszinierend gerade zu sehen.
Gerk: Sind denn diese Geschichten auch analytischer oder wissenschaftlicher, als man das im Krimi hat, dass man da auch mehr Fachwissen noch vermittelt kriegt?
Hartl: Also "True Crime" hat schon sehr früh Forensik in den Mittelpunkt gestellt. Es gibt unzählige Geschichten, wo nachträgliche DNA-Untersuchungen den Täter überführt haben. Aber diese Faszination für Wissenschaft zeigt sich auf zweierlei Weise. Da ist einmal, dass Methoden erklärt werden. Zum Beispiel in "Falschaussage", was ist eigentlich ein rape kit, dieses Untersuchungsset, das nach Vergewaltigungen zum Einsatz kommt, warum wurde das entwickelt. Es zeigt sich aber auch in den Zeitschriften an Tatortfotos, die immer zu den Geschichten geliefert werden. Das soll die Authentizität steigern, aber ganz oft wird auch nur der Voyeurismus bedient. Denn egal wie nüchtern es präsentiert ist, ich brauche nicht das Bild von einem blutgetränkten Schlüpfer, um zu verstehen, dass das grausam war.
Auslösung eines Podcast-Booms
Gerk: Seit wann gibt es denn diese Art von "True Crime" überhaupt?
Hartl: Eigentlich gab es das schon immer. Wir haben uns schon immer Geschichten von wahren Verbrechen erzählt und von Menschen, die schreckliche Dinge tun. In den USA gibt es seit 1928 ein Magazin, das sich wahren Kriminalfällen widmet: "True Detective". Es gab auch seither immer wieder so Wellen von "True Crime"-Booms, so wie wir sie gerade haben. Hierzulande ist es ein bisschen einfacher. Hier ist es auch nicht ganz so populär auf dem Buchmarkt. Das sind mehr so Fallnacherzählungen von Menschen, die irgendwie in der Justiz arbeiten. Deswegen ist auch hierzulande der Boom vor allem auf neue Plattformen zurückzuführen.
Da ist ein Podcast wie "Serial" über eine Schülerin, die ermordet wurde, und ihr Exfreund wurde damals verurteilt, möglicherweise falsch. Der war unfassbar erfolgreich, der hat richtig einen Podcast-Boom ausgelöst. Oder auch Serien wie "Making a Murderer", die bei Netflix liefen, die einen Fall über mehrere Folgen behandeln und verschiedene Facetten beleuchten. Die haben "True Crime" ein bisschen weiter aus der Schmuddelecke gezogen und zu High-Quality-Content gemacht.
"Frauen sind die Hauptrezipienten"
Gerk: Und bei wem ist das so erfolgreich? Weiß man da was drüber, wer das so liest oder schaut?
Hartl: Wie bei der Kriminalliteratur sind Frauen die Hauptrezipienten, das hat auch ganz ähnliche Gründe. Frauen sind überzeugt, sie werden Opfer von Verbrechen, sie haben eine größere Angst und durchleben die mit "True Crime" so in einem sicheren Bereich. Es gibt auch mehrere Studien, die sagen, dass Frauen durch "True Crime" sich Hinweise erhoffen, wie sie ihre Überlebenschancen in konkreten Situationen verbessern können. Das ist interessant, weil das natürlich ganz im Widerspruch zu der Statistik steht. Männer werden häufiger Opfer von Gewaltverbrechen. Frauen werden häufiger Opfer von Menschen, die sie kennen aus ihrem Umfeld und nicht diesem großen Bösen, um den es im "True Crime" meistens geht.
Gerk: Das überrascht mich jetzt auch, dass es quasi als Ratgeberliteratur genutzt wird. Ich hätte jetzt eher getippt, dass viele das aus reinem Voyeurismus lesen.
Hartl: Der spielt natürlich auch eine Rolle genauso wie der Reiz des Spektakels. Das ist nun mal das grundlos Böse, also des scheinbar grundlos Bösen. Das fasziniert. Und die Neugier, warum begehen Menschen solche Taten. Dann spielt auch ein bisschen eine Erleichterung rein, denn man selbst ist nicht Opfer geworden oder Täter.
Was "True Crime" auch ist, es ist irgendwie gleichermaßen konservativ und subversiv, weil es ist schon immer so, dass der Täter gefasst wird und bestraft wird und dass das System eigentlich funktioniert. Aber es funktioniert auch wieder nicht, weil Menschen überhaupt diese Taten begehen und manche auch zu Unrecht verurteilt werden. Was man bei "True Crime" auch nicht vergessen darf, es lädt zum Rätsellösen ein. Also gerade bei diesen Podcasts oder bei den Serien habe ich mehrere Folgen über ein Verbrechen, ich kann mitfiebern, ich kann mich aber auch einfach an den Rechner setzen und kurz googeln und quasi mitrecherchieren, was könnte da passiert sein.
"Verlangen nach mehr Realismus"
Gerk: Und ist Ihnen schon aufgefallen, Ihnen als Krimiexpertin, dass das sich so wechselseitig befruchtet, dass vielleicht fiktive Kriminalschriftsteller das aufgreifen, was da in diesen "True Crime"-Sachen abläuft?
Hartl: Also grundsätzlich würde ich sagen, dass "True Crime" eher von Kriminalliteratur beeinflusst ist als umgekehrt, weil "True Crime" sehr von der Wahl der erzählerischen Mittel abhängt. Je spannender es erzählt ist, desto erfolgreicher ist es. Wenn man sich sowas wie "Serial" anguckt, dann erkennt man auch schon in der Erzählweise Parallelen zu Truman Capotes "Kaltblütig", diesen "True Crime"-Klassiker.
Aber "True Crime" sorgt auch dafür, dass es in der Kriminalliteratur ein größeres Verlangen nach mehr Realismus gibt. Realismus und Kriminalliteratur geht ganz schwer zusammen, weil es bleibt ja Literatur. Aber was jetzt schon gefordert wird, ist, dass zumindest die Fakten hinsichtlich Polizeiarbeit oder forensischer Methoden korrekt sind.
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