Andreas Pflüger: "Ritchie Girl"
Suhrkamp, Berlin 2021
464 Seiten, 24 Euro
"Ich bin ein absoluter Recherche-Junkie"
13:17 Minuten
Andreas Pflüger hat sich für "Ritchie Girl" unglaublich tief in sein neues Sujet eingearbeitet – auch aus persönlichen Gründen, wie er sagt. NS-Zeit, Kalter Krieg. Schockartig habe er erkannt, wie schlecht die Entnazifierung gelungen sei. "Das wollte ich erzählen."
Andreas Pflüger ist bekannt für seine Reihe an packenden Thrillern um die blinde Polizistin Jenny Aaron, jetzt hat er sich einem neuen Sujet zugewandt und eine Art historischen Kriminalroman geschrieben: Er entfaltet sich auf einem Teppich von historischen Ereignissen und Entwicklungen. Der gebürtige Thüringer lässt in ihm jede Menge historischer Persönlichkeiten auftreten. In "Ritchie Girl" geht es um den Zweiten Weltkrieg, um Kriegsverbrechen und Nazi-Größen, die ungeschoren davonkommen. Das Buch ist sehr nah an der wirklichen Geschichte erzählt.
"Wenn es nach meinen Fans gegangen wäre, hätte ich sicher noch fünf Jenny-Aaron-Romane nachschieben können", sagt Andreas Pflüger zu dem zumindest vorläufigen Abschied nach drei Bänden. "Aber ich finde, ein Autor muss den Roman schreiben, den er in sich hat und nicht den Roman, den alle von ihm erwarten."
Andreas Pflügers Großvater war SA-Mann
Ein starker Motor zu dem Schwenk zum Thema NS-Zeit und Entnazifierung sei seine persönliche Geschichte gewesen, erläutert Pflüger: Ein Großvater von ihm sei SA-Mann gewesen und später Funktionsträger der Nationalsozialisten in Thüringen. "Es ist eine Sache, die mich eigentlich mein ganzes Leben lang beschäftigt hat."
Er habe das auch in zwei Dokumentarfilmen über Auschwitz aufgearbeitet und zusammen mit Volker Schlöndorff den Film "Der neunte Tag" gemacht zum Thema Holocaust, wo er mit Eberhard Görner das Drehbuch geschrieben hat. "Und nun diese Geschichte."
"Bodo Hechelhammer ist der Mann, dem wir die Aufarbeitung der braunen Vergangenheit des Bundesnachrichtendienstes verdanken", sagt Pflüger. Zum Teil ist Hechelhammer auch der neue Roman von Pflüger zu verdanken. Der Chefhistoriker des BND habe ihm erzählt, "auf welche Weise direkt nach dem Krieg Nationalsozialisten von den Amerikanern angeworben wurden, um in ihre Dienste zu treten", schildert der Autor. "Und da habe ich sofort Feuer gefangen."
"Ritchie Boys" und "Ritchie Girl"
In seinem Buch ist Paula Bloom die Hauptfigur. Sie hat Deutschland über Nacht verlassen müssen, neun Jahre später kommt sie als amerikanische Besatzungsoffizierin zurück. Bloom hatte sich freiwillig für den Einsatz in der US-Armee gemeldet, sie wurde als eine von 800 Frauen zentral ausgebildet und später auf alle möglichen Standorte in den USA verteilt. Einige dieser Frauen kamen auch nach Cambridge in Maryland, in das bekannte Camp Ritchie, wo vorrangig europäische Emigranten interniert waren.
"Die wurden dort als Nachrichtenoffiziere und Propagandaoffiziere ausgebildet, um mit der Front nach Europa zu kommen und dann später nach dem Krieg zu helfen, mit ihren Deutschkenntnissen die Deutschen umzuerziehen", erklärt Pflüger. Zu den sogenannten Ritchie Boys gehörten auch Prominente – wie die Schriftsteller Klaus Mann und Stefan Heym oder der österreichische Musiker Georg Kreisler.
Irgendwann kommt Paula Bloom in ein Camp in der Nähe von Frankfurt, und der amerikanische Geheimdienst ist schon damit beschäftigt, auch hochrangige Nazis anzuheuern. "Das ist relativ wenig bekannt und sicherlich auch einer der Gründe, weshalb ich diesen Roman schreiben wollte", sagt der Schriftsteller und Filmmensch.
"Die Amerikaner haben schon in der letzten Phase des Krieges begonnen, mit Nazis zu kooperieren, speziell Alan Dulles, der in meinem Roman eine große Rolle spielt, ein amerikanischer Rechtsanwalt, der reich geworden ist in der Wall-Street-Kanzlei seines Bruders John Foster Dulles, später amerikanischer Außenminister."
Operation "Kronjuwelen"
Aus diese historischen Zusammenhängen entwickelt Pflüger seinen Plot. Alan Dulles habe als Vertreter des US-amerikanischen Geheimdienstes OSS in der Schweiz Verhandlungen mit der SS in Italien geführt, mit dem Ziel, einen Separatfrieden zu erreichen, führt Pflüger zur Charakterisierung von Dulles aus, völlig konträr zu den Richtlinien der Alliierten.
"Dieser Dulles hat dann gleich nach dem Krieg von Wiesbaden aus die sogenannte Operation Kronjuwelen geleitet. So nannte sich die Suche nach vermeintlich guten Nazis – also Männer, mit denen man zusammenarbeiten konnte."
Pflüger führt an, wer so in den Dienst des US-Geheimdienstes genommen wurde: Walter Rauff, Leiter des Gaswagen-Programms der Nazis zur Ermordung von jüdischen und anderen KZ-Gefangenen; Klaus Barbie, als "Schlächter von Lyon" bekannt; auch Reinhard Gehlen, später erster Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Pflüger merkt an, noch ein halbes Jahr, bevor er sich den Amerikanern in Bayern gestellt habe, sei Gehlen wegen seiner vorbildlichen nationalsozialistischen Gesinnung ausgezeichnet worden.
Hilfe und Nachwort vom BND-Chefhistoriker
Der Faktenteppich ist unglaublich dicht. Pflüger schreibt selbst, er habe sich nur wenige zeitliche Freiheiten erlaubt. Schon dreißig Jahre lamg habe er sich mit den Themen Nationalsozialismus und Schoah beschäftigt, er habe also schon ein profundes Grundwissen gehabt. "Zum anderen hat natürlich diese Zusammenarbeit mit Bodo Hechelhammer vom BND geholfen, der mir Zugang zu Materialien verschafft hat und der auch die nötige Literatur kannte" – und der auch ein Nachwort beigesteuert hat.
Und schließlich sei die Begegnung mit einem Heimatforscher aus Oberursel, der Stadt bei Frankfurt, wo das Camp lag, ein Glücksfall gewesen. Manfred Kopp, "ein sehr alter Mann, aber hellwach im Kopf", habe nach seiner Pensionierung aus eigenem Antrieb heraus begonnen, die Geschichte dieses Ortes dem Vergessen zu entreißen. Und Kopp habe ihm Zugang zu seinem umfangreichen Archiv gewährt.
"Und natürlich müssen Sie wahnsinnig viel lesen, wenn Sie so etwas recherchieren", sagt Pflüger, der auch Dokumentarfilme gemacht hat. "Speziell die Art und Weise, wie diese Geheimdienste gearbeitet haben nach dem Krieg, war mir so nicht bekannt – auch die Verflechtungen der amerikanischen Wirtschaft und Industrie mit dem Nazi-Reich kannte ich in dieser Größenordnung nicht."
Mit berühmten Personen gespielt
Ist er also ein manischer Rechercheur? "Ich glaube, dass manisch noch ein Euphemismus ist", sagt Pflüger über sich. "Ich bin ein absoluter Recherche-Junkie. Meine Romane leben sehr stark von der Recherche." Das gelte für "Ritchie Girl" genauso wie für die davor. "Ich tue das zum einen, weil ich ein chronisch neugieriger Mensch bin."
Und er habe zum anderen das Glück, einen Beruf zu haben, der es im Laufe vieler Jahre mit sich brachte, dass er über fast alles etwas wisse. "Es gibt ein paar Bereiche, über die ich richtig etwas weiß", sagt er. "Aber über fast alles weiß ich ein bisschen. Meine Frau sagt über mich gerne 'Du bist der Meister des perfekten Halbwissens'."
Ihm habe es dann viel Spaß gemacht, mit den berühmten Persönlichkeiten zu spielen. Seine Figur Paula Bloom kennt die intellektuelle Elite, ist mit Klaus Mann per Du und hat wohl auch ein Techtelmechtel mit dem amerikanischen Schriftsteller Graham Greene. Der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker kommt ebenso vor wie der der Erfinder von Spider Man, Stan Lee.
Wer ist Opfer, wer ist Täter?
Er habe sich allerdings nicht eigens vorgenommen, solche Leute in das Buch einzubauen: "Die Recherche brachte es mit sich, dass diese Menschen plötzlich da waren und ich sie faszinierend fand – und dann habe ich sie in den Roman genommen, weil sie sich hineingedrängt haben in diesen Roman." Er beschreibe sogar den Moment, wo Henry Kissinger und Richard Nixon sich das erste Mal sehen, vor dem IG-Farben-Haus in Frankfurt: "Das macht mir Spaß."
Das Buch wirft auch die Frage nach Täter und Opfer auf, bestätigt Pflüger. "Wobei ich glaube und hoffe, jederzeit klarzumachen, wo ich stehe." Es sei aber eine extrem unübersichtliche Zeit gewesen, und er versuche, das im Roman abzubilden. "Dieses Chaos, durch das meine Hauptfigur Paula Bloom taumelt auf der Suche nach Wahrheit, am Ende vielleicht auch mit der Erkenntnis, dass es diese absolute Wahrheit gar nicht gibt."
In einer Frage, die immer mal wieder aktuell wird, macht Pflüger seinen Standpunkt sehr deutlich: "Für mich gibt es nichts, das die Zusammenarbeit mit Tätern rechtfertigen könnte, auch nicht für einen besseren Zweck."
Mit Gesine Schwan über Entnazifizierung gestritten
Und dann nennt er noch einen Grund, warum er diesen Aspekt der Geschichte so stark gemacht habe: Vor vielleicht zehn Jahren habe er einmal mit der Professorin, ehemaligen Universitätspräsidentin, SPD-Politikerin und einstigen Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin Gesine Schwan auf einem Podium gesessen und sich erbittert mit ihr über die Frage gestritten, ob Deutschland die Entnazifizierung hingekriegt habe oder nicht.
"Ich habe damals steif und fest behauptet, wir haben das ganz toll hingekriegt im Vergleich zu anderen Ländern. Und bei der Recherche zu diesem Buch habe ich regelrecht schockartig erkannt, wie schlecht wir es gemacht haben und wie schlecht es auch die Amerikaner als Besatzungsmacht gemacht haben damals. Und die Fehler, die damals begangen wurden, haben noch weit in die 60er- und 70er-Jahre in unser Land hineingeragt. Und das wollte ich erzählen."