20 Kilometer nördlich von Kapstadt liegt 200 Meter vom Meer entfernt Camp Joy – der ehemalige Campingplatz der Gemeinde Strandfontein. Die Nachmittagssonne beleuchtet ein altes, frisch gestrichenes Sanitärgebäude, daneben, teils auf Stelzen, dunkelgrüne Wohncontainer mit Markisen über den Fenstern.
Zwei stark tätowierte Männer gießen in einem sorgsam eingezäunten Garten Gemüse, einer schaukelt auf dem Spielplatz seine kleine Tochter, andere unterhalten sich und hören Musik. Eine Szene wie im Urlaub. Aber die Männer hier sind keine Urlauber.
„Ich war sieben, da haben sie mich zum ersten Mal festgenommen – wegen meines Onkels, der Polizist war. Ständig hat er mich geschlagen. Deshalb habe ich ihn erschossen, mit seiner eigenen Pistole. Zehn Jahre lang haben sie mich deshalb in einem Heim eingesperrt und acht Jahre ins Gefängnis“, erzählt einer von ihnen.
Ein anderer berichtet: „Ich weiß noch wie dieser 71-jährige Mann unsere Straße entlang kam – einen Schirm in der Hand. Er hatte sich bei der Gesundheitsstation seine Tabletten geholt. Leider habe ich ihn erschossen – im Kreuzfeuer mit einer anderen Gang. Ins Gefängnis bin ich dafür aber nicht gekommen.“
Insgesamt habe er, wie er glaube, elf Menschen umgebracht, sagt ein dritter Mann: „Heute schlafe ich schlecht und brauche Schlaftabletten, weil mich diese Toten verfolgen. Einigen habe ich ja direkt ins Gesicht geschossen. Sowas steckt dann für immer in deinem Gehirn.“
Reha-Zentrum für Gangaussteiger
Etwas verlegen stehen Shiraz und Chad vor Pastor Craven Engel, einem glatzköpfigen Mann im blauen T-Shirt. Der Pfarrer einer Pfingstkirche im Kapstädter Armenviertel Hanover Park bekämpft die Gewalt von Straßengangs mit einem Programm namens "Ceasefire", Waffenstillstand. Camp Joy ist Engels Reha-Zentrum für Gangaussteiger. Ein Team aus Sozialarbeitern, einer Psychologin und Ex-Gangstern versucht hier, Verhalten und Einstellung der Männer zu ändern und ihnen Zukunftsperspektiven zu vermitteln, ohne Illusionen zu wecken.
„Wir erzählen den Männern nicht, wir könnten sie von ihren Traumata befreien oder neue verhindern. Hanover Park wird auch in 20 Jahren so aussehen wie heute. Die Polizei wird so sein wie heute. Es wird Gewalt geben. Hanover Park wird kein idyllisches Wohngebiet sein – mit glücklichen Menschen, die in hübschen Häuschen inmitten von Bäumen leben. Diese Lüge tischen wir unseren Klienten nicht auf. Wir zeigen ihnen aber, wie sie mit ihren Traumata leben können.“
Vormittags war ich zusammen mit Craven Engel unterwegs in Hanover Park: einer Ödnis aus schäbigen gelb-grau-braunen Wohnkasernen, an denen Metalltreppen und Bretterverschläge kleben. Auf den Betonflächen dazwischen spielen inmitten von trocknender Wäsche und grauen Mülltonnen Kinder. An Hauswände gelehnt rauchen Jugendliche Dagga, Marihuana. Andere stehen an Straßenecken, feixen mit aufreizend gekleideten Mädchen und scannen immer wieder mit misstrauischen Blicken ihre Umgebung. Zwei von drei der 20- bis 35-Jährigen hier sind arbeitslos.
Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt - in Kapstadts Armenviertel Hanover Park haben Jugendliche kaum Lebensperspektiven.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem
In einem dunklen Verschlag leben die 40-jährige Yolanda Mutila und ihre Freundin Tougeeda Petersen mit fünf Kindern. Ihr Alltag ist ein Albtraum: Im Wohnzimmer tropft es durchs Wellblechdach, die Wände sind feucht und schimmlig, die Kinder dauernd krank.
Yolanda und Tougeeda sind infolge zahlreicher Corona-Lockdowns arbeitslos und leben von Kindergeld. Nahrungsmittelhilfe käme bei ihnen nicht an, klagt Yolanda. Die Lastwagen würden regelmäßig von hungrigen jungen Leuten geplündert. Überhaupt seien Gewalt und Tod allgegenwärtig in Hanover Park:
„Mein Neffe setzte gerade seine Freundin zu Hause ab, da bedrohten ihn plötzlich bewaffnete Gangster. Als er versuchte, wegzufahren, schossen sie ihm in den Rücken und er starb.“
13 Personen in einer engen Wohnung
„Vor drei Jahren haben sie meinen Stiefsohn erschossen. Am Geburtstag seiner Mutter. Wir hatten ihn gerade erst für eine Drogen-Reha angemeldet.“
„Fast ununterbrochen schießen die Gangster, und wir müssen unsere Kinder im Haus behalten, weil wir nicht wissen, wann es wieder losgeht. Unsere Kinder wachsen fast ausschließlich in unseren kleinen und feuchten Wohnungen auf. Aber wir haben keine Wahl. Wir müssen für die Sicherheit unserer Familien sorgen.“
Pastor Engel zuckt mit den Schultern. Die Pandemie habe die Menschen hier noch hoffnungsloser gemacht, sagt er – und manche Jugendliche noch gewalttätiger:
„Kinder in Hanover Park wachsen unter Bedingungen auf, die absolut lebensfeindlich sind: Die Eltern trinken, der Vater sitzt oft im Gefängnis. Zwölf, dreizehn Personen leben in einer engen Wohnung, wo es regelmäßig zu häuslicher Gewalt kommt. Junge Leute sehen dann die Lösung ihrer Probleme oft nur noch in Gewalt. Den Schmerz anderer Menschen können sie nicht nachempfinden, und allzu oft lassen sie sich von kriminellen Gangs benutzen. Solche junge Menschen sind denn auch weniger Täter als Opfer. Sie sind durch das, was sie erlebt haben, infiziert mit der Krankheit der Gewalttätigkeit. Nicht sie haben das gewalttätige Leben gewählt, sondern dieses Leben hat sie gewählt.“
Es gibt fast hundert Gangs in den Armenvierteln Kapstadts: Straßengangs wie die Americans, Mongrels und Taliban, Gefängnisgangs wie die Twentysix, Twentyseven und Twentyeight. Gegen Gang-Gewalt richte polizeiliche Repression wenig aus, sagt Craven Engel. Sinnvoller sei es, solche Gewalt als ansteckende psychische Krankheit wahrzunehmen. Ein Konzept, das der amerikanische Arzt und Epidemiologe Gary Slutkin entwickelt habe.
Um die Gewalt in Hanover Park zu stoppen, brauche es glaubwürdige Vermittler, sagt Pastor Craven Engel.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem
Man müsse Straßengewalt bekämpfen wie eine Epidemie, sagt Slutkin: Erstens müsse man konkrete Gewaltausbrüche stoppen. Zweitens müsse man wild um sich schießenden Gewalttätern die selbstmörderische Sinnlosigkeit ihres Handelns vor Augen führen, sie für eine Weile isolieren und sozialisieren. Drittens müsse man soziale Verhältnisse ändern, die Gewalt begünstigen. Mit diesem Konzept ist Slutkin seit 20 Jahren in den USA ziemlich erfolgreich. Städte wie San Francisco, Oakland und Richmond haben mit seiner Hilfe die Straßengewalt um bis zu zwei Drittel reduziert.
Eine App weiß, wo geschossen wird
Um Gewaltausbrüche in Hanover Park zu stoppen, brauche er glaubwürdige Vermittler, sagt Pastor Engel. Im Besprechungszimmer seines Gemeindezentrums hat er deshalb riesige Schwarz-Weiß-Fotos finster blickender Männer mit martialischen Tattoos aufgehängt.
„All die Körper-Tattoos, die Sie hier sehen, erzählen die Geschichte dieser Männer. Eine Geschichte, die ihre Glaubwürdigkeit im Gangstermilieu dokumentiert. Nie haben diese Männer ihre Gangs verraten. Nein, sie sind für die Gang ins Gefängnis gegangen, wurden beschossen, haben geschossen. Jetzt hat sich ihre Einstellung geändert: Im Auftrag meines Programms verhindern sie nun Gewalt. In meinem Auftrag gehen Sie auf die Straße, nehmen Kontakt mit Gangs auf und vermitteln bei Konflikten.“
Drei von Engels Verbindungsleuten zu den Gangs warten vor der Tür. Sie wollen aber nicht mit Journalisten reden, entschuldigt sie der Pastor – um ihrer Glaubwürdigkeit willen. Diese Männer, sagt er, könnten im Slang der Gangs, Sabela, jüngere Gangmitglieder derart niederbrüllen, dass diese nur noch schweigen und gehorchen. Sie nutzen aber auch eine App, um die Gewalt zu stoppen oder zumindest einzudämmen. Dabei senden an Häusern und Handymasten angebrachte Mikrofone Schreie und Schussgeräusche sofort an die Smartphones der zehn Ceasefire-Männer. Der Pastor hält mir sein Smartphone hin:
„Alle meine Männer haben die App auf ihrem Smartphone, und die App zeigt ihnen und mir jede Schießerei sofort an – mit dem genauen Längen- und Breitengrad. Innerhalb von drei bis sieben Minuten sind sie dann vor Ort.“
Die Polizei bleibt außen vor
Sind die Schützen identifiziert, besucht Craven Engel den verantwortlichen Gangsterboss – in dem Wissen, dass auch der keine unnötige Gewalt will, weil sie dem Geschäft schadet.
„Komme ich ins Haus des Gangsterbosses, sage ich zum Beispiel: 'So und so viele Schüsse wurden in deiner Straße abgefeuert. Erzähl mir nicht, dass deine Männer nicht beteiligt sind. Vier deiner Männer haben geschossen.' 'Nein, nein', protestiert der Gangsterboss; aber anhand meiner App zeige ich ihm: 'Deine Leute erzählen, sie seien beschossen worden. Aber sie lügen.' 'Oh, oh', sagt dann der Gangsterboss, zückt sein Handy und ruft seine Leute an: 'Wie kommt ihr dazu, mich anzulügen? Pastor Craven ist bei mir und hat mir Beweise geliefert, dass ihr geschossen habt, nicht die anderen. Steckt die Waffen weg, sofort.' So beenden wir dann eine Schießerei endgültig – vom Haus des Gangsterbosses aus.“
Manchmal bespricht der Pastor dann mit dem Gangsterboss, ob nicht dieser oder jener seiner undisziplinierten Männer eine Reha in Camp Joy brauche, da er sonst ja auch das Wohl der Gang gefährde. Besonders leicht lasse sich die Reha organisieren, wenn der Betreffende selbst angeschossen und im Krankenhaus gelandet oder ins Nachdenken geraten ist.
Der erste selbst geschreinerte Tisch: Camp Joy ist ein Reha-Zentrum für ehemalige Gangkriminelle in Hanover Park.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem
Kategorisch außen vor bleibt die Polizei, für die Craven Engel keine guten Worte übrig hat. Er erzählt von Polizisten, die Tausende Waffen aus Staatsbeständen an Gangs verkauft haben, von Polizisten, die Ermittlungsakten gegen genügend Bargeld in den Schredder werfen. Und immer mal wieder werden Engels Besprechungen mit Gangsterbossen von Polizisten gestört.
„Dann klopft es irgendwann an der Tür. Ein Polizist holt sein wöchentliches Bestechungsgeld ab. Keine zwei Stunden später klopft der nächste Polizist, und der Gangsterboss wird sauer: 'Ich habe doch gerade erst deinem Kollegen Geld gegeben'. 'Nein, nein', sagt dann der Polizist. 'Ich bin von der Nachtschicht. Ich löse nachts deine Probleme.'“
Schulabbrecher lernen Handwerksberufe
Seit Craven Engel sein Programm Ceasefire betreibt, sei die Zahl der Morde in Hanover Park um fast die Hälfte gesunken, berichtet er – während sie in benachbarten Vierteln zugenommen habe. Dazu beigetragen hat auch das Sozialprogramm der Pfingstgemeinde: Täglich erhalten im Gemeindezentrum 500 mittellose Menschen eine warme Mahlzeit. In Predigten erklärt der Pastor die verheerenden Auswirkungen von Gewalt. An Schulen erklärt er Zwölf- bis 16-Jährigen, was Drogen mit ihnen anrichten, und veranstaltet Sportwettbewerbe.
Zu den wichtigsten Ursachen von Kriminalität und Gewalt in Hanover Park zählt für Engel, dass allzu viele Schüler die Schule abbrechen – und dann erst recht keine Chance auf einen ordentlichen Job haben. Damit möglichst wenige in einer Gang landen, kooperiert der Pastor mit dem katholischen Orden der Don-Bosco-Salesianer: 300 Schulabbrecher und -abbrecherinnen aus Hanover Park besuchen eine Schule der Salesianer im Zentrum Kapstadts.
Deren größtes Programm sei die „Learn to live“-Schule, eine Berufsschule für 14-18-Jährige – erklärt mir bei einem Rundgang durch das klosterähnliche Gebäude Jo da Silva, die Verwaltungsleiterin. Vier Jahre lang würden die Schüler zu Elektrikern, Köchen, Schreinern oder Friseuren ausgebildet und bekämen zudem viel Alltagswissen vermittelt. Die meisten Schüler kämen ohne jede Vorstellung von Hygiene und Finanzen, sie könnten nur mit Mühe lesen und schreiben. Solchen Schülern soll nun sogenanntes projektbasiertes Lernen helfen.
„Unsere Schüler sind vom konventionellen Schulsystem im Stich gelassen worden, von einem System mit zu großen Klassen und miserablen Unterrichtsmethoden. Unser Konzept projektbasierten Lernens erzieht die Schüler zu selbständigem Denken. Da steht der Lehrer nicht als Guru an der Tafel, sondern er geht als beratender Moderator von Gruppe zu Gruppe, wo die Schüler Aufgaben des täglichen Lebens lösen. Im Teamwork erwerben sie quasi nebenbei Kenntnisse in Physik, Mathematik oder Geografie und präsentieren gemeinsam ihre Ergebnisse. Und plötzlich sehen wir, wie diese angeblich unfähigen Schüler aktiv kommunizieren, wie sie Konflikte bewältigen, Selbstbewusstsein aufbauen und selbständig Aufgaben erledigen.“
„Bildung und Erziehung sind nicht nur Vorbereitung auf das Leben. Sie sind bereits das Leben selbst“, zitiert Jo da Silva den US-Philosophen John Dewey, einen der Väter des projektbasierten Lernens.
Lernen ohne Bücher
In der dritten Klasse der „Learn to live“-Schule unterrichtet Maxine Fraser, die selbst in einem Armenviertel aufgewachsen ist. Heute, am Heritage Day, dem Tag des kulturellen Erbes in Südafrika, beschäftigt sich die Klasse mit der Frage: Sind wir stolz auf unser Land?
„Nein“, sagen nach der Gruppendiskussion fast alle.
Wegen der Gangs und Morde überall – meint Natashka.
Wegen Überbevölkerung und Korruption hätten Arme wie er keine Chance, sagt Titus.
Morgen sollen die Gruppen Positives in Südafrikas Kultur identifizieren und Schautafeln dazu erarbeiten: Mindmaps.
„Wir zeigen unseren Schülern unterschiedliche Formen des Mindmapping. So lernen sie, Themen mit all ihren Aspekten und Kausalzusammenhängen zu visualisieren, sie zeichnerisch darzustellen und ihr Wissen zu organisieren.“
Von einem Lernen ohne Bücher und Mitschreiben spricht Maxine Fraser:
„Projektbasiertes Lernen konzentriert sich auf Themen und Probleme unserer Lebenswirklichkeit. Wir identifizieren solche Probleme und versuchen, sie zu lösen – analytisch, kreativ, in stetem Austausch mit anderen Schülern. So lernen wir auch, einander zu verstehen und zu respektieren. Wichtiger, als das anstehende Problem zu lösen, ist dabei, Techniken des Lernens und Denkens einzuüben. Die können wir dann überall im Arbeitsleben einsetzen.“
Wutausbrüche im Unterricht
Für die handwerkliche Ausbildung besitzt das Salesianer-Institut unter anderem eine professionell eingerichtete Schreinerwerkstatt, wo einige Schüler gerade Tassenhalter bauen – mit Hobel, Säge und Stechbeitel.
Viele Schüler der "Learn to live"-Schule können nur mit Mühe lesen und schreiben. Hier bekommen sie eine handwerkliche Ausbildung.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem
Leider kämen viele Schüler nur unregelmäßig zum Unterricht, obwohl ihnen das Institut Fahrtkosten und Verpflegung zahlt, erzählt in ihrem Büro Keagan Blight, die 26-jährige Sozialarbeiterin des Instituts. Mal trauten sie sich nicht zum Standplatz der Minibusse in Hanover Park, weil es dort eine Schießerei gab. Mal seien sie krank, mal müde, weil die ganze Nacht das Baby ihrer Schwester geschrien hat. Kurz, viele Schüler und Schülerinnen seien körperlich wie seelisch völlig wundgerieben. Keagan Blight muss zum Beispiel dann eingreifen, wenn ein Schüler seinen psychischen Schmerz während des Unterrichts hinausschreit:
„Wutausbrüche im Unterricht sind ein großes Problem in unserem Schulbetrieb. Viele Schüler kommen zutiefst traumatisiert hierher, können aber ihre Gefühle nicht verbalisieren. Das Gefühl, nicht verstanden zu werden, führt dann zu Frustration und Wutausbrüchen im Unterricht. Aus kleinstem Anlass explodiert so ein Jugendlicher und anschließend kann er nicht einmal sagen, warum. Die meisten unserer Schüler fühlen sich halt ständig bedroht; ihr Existenzmodus ist fast immer der des Überlebenskampfes: 'Ich muss mich wehren, ich muss mich wehren' geht es ihnen wie eine Endlosschleife durch den Kopf. 'Ich muss im Unterricht nicht in erster Linie lernen, sondern über das nachdenken, was ich gestern Abend erlebt habe: über die Gewalt zwischen meinen Eltern oder über den Mord, den ich gestern auf dem Weg nach Hause gesehen habe.'“
Trotzdem entwickelten viele Schüler und Schülerinnen erstaunliche handwerkliche Fähigkeiten und echtes Verantwortungsbewusstsein, berichtet Keagans Kollegin Hanna Nassen, eine 24-jährige Beschäftigungstherapeutin. Gestern hat sie eine Schülerin zum Vorstellungsgespräch in einem Restaurant begleitet.
„Begeistert erzählte sie von ihren Erlebnissen im Radisson Blu-Hotel und was sie dort alles gelernt hatte. Als dann das ganze Vorstellungsgespräch unglaublich perfekt verlief, überkam mich plötzlich ein tiefes Glücksgefühl: All unsere mühsame Arbeit seit vergangenem März hatte sich gelohnt. Das hat mir dieses eine Vorstellungsgespräch bewiesen.“ Demnächst, sagt Hanna stolz, trete die junge Frau ihren ersten Job an.
Die 30 Ex-Gangster in Pastor Engels Reha-Zentrum am Strand dagegen haben noch einen weiten Weg vor sich. Sie müssen zunächst zu einer neuen Lebenseinstellung und sozialverträglichem Verhalten finden – mithilfe der Psychologin und der Sozialarbeiter. Manche der Männer bleiben acht Wochen, andere sechs Monate in Camp Joy. Manche erfahren auch erstmals in ihrem Leben, was produktive Arbeit ist – mit Schraubenzieher, Zange und Säge in der kleinen Werkstatt; mit Spaten und Hacke im Gemüsegarten.
Früher Gangster, heute Betreuer
Natürlich gebe es Rückschläge, erzählt mir Bruce, früher Gangster, heute Betreuer in Camp Joy. Immer mal wieder schmuggle jemand Drogen ins Camp, zettele eine Schlägerei an oder breche zusammen. Dessen ungeachtet gibt es keine Schlüssel in Camp. Niemand ist hier gefangen, Wochenendbesuche von Angehörigen sind erwünscht. Mit ihrer Vergangenheit haben die meisten der Ex-Gangster friedlich abgeschlossen.
„Die Gang respektiert, wenn du dein Leben grundsätzlich ändern willst und dich zum Beispiel einer Kirche anschließt. Nur wenn du in eine andere Gang wechselst, jagen sie dich. Natürlich: Auch wenn du plötzlich ein frommer Christ oder Muslim wirst, werden sie dich ein, zwei Monate lang beobachten. Aber sie werden deine Entscheidung respektieren.“
Shiraz, der fast sein ganzes Leben als Gefangener verbracht hat, zeigt mir einen von ihm selbst meisterhaft geschreinerten Tisch. Und lächelt dabei stolz. Noch siebeneinhalb Jahre stehe er unter Bewährung, sagt Shiraz.
„Sie haben mich nur deshalb freigelassen, weil dieses Reha-Zentrum mich aufgenommen hat. Jeden Monat muss ich nachweisen, dass ich hier lebe und keine Drogen konsumiere. Dass ich tatsächlich hier bin, habe ich dem Pastor zu verdanken. Mache ich aber Mist, gehe ich zurück in den Knast; und er hat eine Menge Probleme. Manchmal fühle ich immer noch Schmerz und Wut. Aber allmählich lerne ich, damit umzugehen. Die Leute hier wollen mich dazu bringen, dass ich in die Gesellschaft passe. Damit hatte ich ja nie was am Hut. Wenn du mir blöd kamst, habe ich dich einfach umgelegt. Jetzt will ich lernen, mit anderen Menschen zu leben und eine Familie zu gründen – mit einer Frau und Kindern.“
Schulterklopfen und Anschiss
Er wisse nicht, wie lange er das Geld für Camp Joy noch aufbringen könne, sagt Craven Engel. Und wie ihm falle es auch den Salesianern schwer, Spenden zu mobilisieren für junge Menschen, die der Überlebenskampf in Südafrikas Armenvierteln psychisch deformiert hat. Immerhin, bis heute schickt Engel regelmäßig Absolventen seines Camps in einen dreiwöchigen Crashkurs bei den Salesianern.
„Waves of Change“, „Wellen des Wandels“, heißt der Kurs des in den Armenvierteln Kapstadts berühmten Mister Focus: Ein kompakter, schwarzgekleideter Mann wie ein Bodybuilder mit freundlichen Augen, das krause lange Haar zusammengebunden. Wie ein Champion im Ring tänzelt er hin und her zwischen den Tischen, an denen fast ausschließlich junge Männer sitzen. Der Zampano in Schwarz klopft hier auf eine Schulter, verteilt dort einen Anschiss, erklärt eindringlich, als ginge es um Leben und Tod – laut wie ein Unteroffizier auf dem Kasernenhof. Ein bizarr wirkendes Schauspiel mit Wirkung: Die jungen Männer hängen wie gebannt an den Lippen des Zampanos. Keiner quatscht mit dem Tischnachbarn, keiner döst vor sich hin. Mr. Focus weiß offenbar, was er tut.
Aus dem Getto auf den Fischkutter
Während der Pause spielen die jungen Männer Fußball. Er vermittle Obdachlosen, Junkies und Ex-Gangstern Rüstzeug für ein neues Leben, erklärt Mister Focus, der eigentlich Abraham Lottering heißt: Die meisten wollen weg von Hanover Park. Sie wollen, wenn es geht, Seeleute werden – auf Fischkuttern und später vielleicht auf Kreuzfahrtschiffen.
„Diese jungen Männer müssen Abstand gewinnen zu ihrem Umfeld, zu ihren sogenannten Freunden. Viele unserer Klienten kommen direkt aus dem Gefängnis. Gehen sie jetzt zurück, sitzen sie nach drei, vier Monaten wieder. Die Arbeit auf dem Meer ist für sie der wohl einzige Weg, all dem zu entkommen. Außerdem hat diese Arbeit eine therapeutische Funktion: Du befindest dich im direkten Kontakt mit den Gewalten der Natur. Du kannst in ruhigen Stunden dein Leben neu ausrichten: Wohin soll meine Reise gehen?“
"Waves of Change" - so heißen die Kurse, in denen Mister Focus Obdachlosen, Junkies und Ex-Gangstern das Rüstzeug für ein neues Leben vermittelt.© Deutschlandradio / Thomas Kruchem
Mister Focus erklärt den Möchtegern-Seeleuten unverblümt, wie strikt die Befehlsketten an Bord sind, wie hart die Arbeit, wie karg die Heuer. Er hilft ihnen, sich einen Ausweis zu beschaffen, ein Bankkonto und das Seefahrtbuch, das jeden Job auf einem Schiff dokumentiert. Und nur wer absolut clean ist von Drogen, bekommt das notwendige medizinische Attest. Wie schafft einer, der aus ganz anderen Verhältnissen stammt, es eigentlich, den Ton der harten Jungs aus Hanover Park so genau zu treffen?
“Nein, nein“, antwortet der Zampano. Auch er habe auf der Straße gelebt. Drei Jahre habe er aus Mülltonnen gegessen und nachts gefroren. Kapstadt sei ein teuflischer Ort, ruft der Mann in Schwarz heftig gestikulierend. Die Reichen kümmerten sich nur um die Reichen, sie seien zutiefst böse. Die Armen müssten aus eigener Kraft überleben. Und: „Diese Schule ist der einzige Ort in der westlichen Kap-Provinz, der den jungen Leuten hier realistische Wege zeigt, Träume zu verwirklichen – und keine Irrwege, die doch bloß in die Sackgasse führen. Mit den Zeugnissen, die diese Schule ausstellt, können die Schüler auf der ganzen Welt Arbeit finden. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen keinen Scheißdreck erzählen, sondern offen und ehrlich mit ihnen umgehen. Dann verstehen sie, dass wir ihre vielleicht letzte Chance sind.“
„Der Mann hat recht“, sagte leise Craig – ein schmächtiger junger Mann, der bis vor kurzem drogensüchtig war:
„Mister Focus hat mir die Freude am Leben zurückgegeben. Zwei Monate hatte ich depressiv in der Drogen-Reha gehockt und gegrübelt: Wie soll ich Arbeit finden und mich ernähren? Dann bin ich eines Nachts am Hafen spazieren gegangen und habe diesen netten Kerl kennengelernt: 'Warum versuchst du es nicht bei den Salesianern?', sagte er um vier Uhr früh auf den Docks. Und ein paar Stunden später brachte er mich zu Mister Focus. Als der dann sagte 'Komm am 30. September', hatte ich endlich etwas, auf das ich hinleben konnte.“
In Camp Joy hat, als über dem Meer die Sonne untergeht, einer der Männer zur Gitarre gegriffen. Urshwin Engel, Sohn des Pastors und Leiter des Camps, hat endlich Zeit für ein kurzes Gespräch mit mir und deutet auf einen alten Mann, der ziellos durch den Garten schlurft: Leonard. Er hat Diabetes und Alzheimer. Vor fünf Jahren habe ihn jemand hier abgeliefert. Und man habe es nicht übers Herz gebracht, den alten Mann, der keine Angehörigen hat, wieder fortzuschicken. Die Bewohner des Reha-Zentrums sorgen jetzt für Leonard.
„Jeden Morgen checken sie seinen Zucker. Sie geben ihm seine Mahlzeiten und kaufen ihm sogar Kleidung. Ganz zufällig hat sich Leonard zu einer Bereicherung unseres Reha-Programms entwickelt. Er verkörpert die personifizierte Herausforderung, menschliche Würde zu bewahren. Und unsere so hart gesottenen Burschen verhalten sich ihm gegenüber vorbildlich – so wie sie es vielleicht ihren gebrechlichen Müttern oder Omas gegenüber tun würden. Ja, diese Männer, die noch vor Kurzem, ohne mit der Wimper zu zucken, Menschen erschossen haben, wahren jetzt Leonards und ihre eigene Würde – indem sie für einen alten Mann sorgen, der nicht mit ihnen verwandt ist und aus dem sie keinerlei Vorteile ziehen können. Da kommt jetzt pure Menschlichkeit zum Vorschein.“