Die Kinder von der schiefen Bahn holen
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Razzien, Kontrollen und rigorose Strafverfolgung - die Polizei in NRW geht energischer gegen kriminelle Clans vor. Hinzu kommt ein Präventionsprojekt, das verhindern soll, dass Kinder und Jugendliche aus diesen Familien ins kriminelle Milieu abrutschen.
Isaa O. ist elf Jahre alt, als er mit gleichaltrigen Freunden und Verwandten jemanden so stark verletzt, dass er der Polizei gemeldet wird. Von da an sammelt er Anzeigen wie andere Kinder Fußballkarten: Ladendiebstähle, Einbruch in die Schule, Raub, Erpressung. Er bedroht andere Kinder mit dem Messer, verletzt die Klassenlehrerin. Issa gehört zu einem sogenannten Familienclan mit libanesischen Wurzeln. Auch drei seiner sechs Geschwister sind der Polizei bekannt, der Vater ebenso.
Der junge Mann, der jetzt 19 Jahre alt ist und aktuell für knapp zweieinhalb Jahre im Gefängnis sitzt, heißt eigentlich anders. Aber sein Fall zeigt nach Angaben der Polizei in NRW, wie kriminelle Karrieren in arabischen Großfamilien verlaufen können.
"Gibt es auch etwas, das wir präventiv machen können?"
Im Innenministerium in Düsseldorf befasst sich Jörg Unkrig mit solchen Jugendlichen. Er leitet das Referat Kriminalprävention und Opferschutz.
"Wir haben in der Ruhrgebiets-Städteregion eine auffällig hohe Kriminalität, die im Zusammenhang mit polizeibekannten Clanfamilien steht", erklärt er.
Die Polizei fahre hier seit eineinhalb Jahren die Strategie der 1000 Nadelstiche: regelmäßige Razzien, Kontrollen, jede noch so kleine Straftat wird verfolgt.
"Dabei kam immer die Frage: Repressiv machen wir was, aber gibt es auch was, das wir präventiv machen können?"
Seit wenigen Monaten gibt es das – ein Programm, das sich zum Ziel gesetzt hat, Kindern krimineller Großfamilien eine neue, andere Perspektive aufzuzeigen, sie von der schiefen Bahn zu holen.
"Stand heute haben wir 21 Teilnehmer", sagt Unkrig.
19 Jungen und zwei Mädchen, mit einem Altersdurchschnitt von 13 Jahren. Sie kommen aus Essen, Duisburg, Gelsenkirchen, Recklinghausen oder Dortmund, sind der Polizei schon länger durch Straftaten aufgefallen – und gehören arabischstämmigen Großfamilien an. Mehr möchte Jörg Unkrig nicht zu ihnen sagen, denn das Programm ist wie ein zartes Pflänzchen, das gehütet werden muss. Zu viel Sonne, zu viel Öffentlichkeit würden ihm schaden.
"Für mich persönlich ist das schon ein erster großer Erfolg, dass uns die Familien die Tür aufmachen und zumindest für Gespräche bereit sind."
Das soziale Umfeld bleibt ein Problem
Denn eigentlich ist die Polizei in dem Milieu eher Feind als Freund und Helfer, erklärt Sozialpädagoge Akin Sat, der in Gelsenkirchen mit Jugendlichen aus dem Programm zusammenarbeitet. Jetzt sitzt er neben Jörg Unkrig im Innenministerium und erzählt:
"Die haben natürlich die Polizei anders erlebt, immer negativ. Zum ersten Mal, denke ich, kommt die Polizei auch mit Sozialarbeit zusammen, hört zu und vereinbart auch mit den Familien zusammen Ziele, um die Kinder von den kriminellen Aktivitäten fernzuhalten."
Diese Ziele sind jetzt am Anfang noch tief gesteckt. Es geht nicht sofort darum, straffrei zu bleiben, sondern vielleicht erst einmal, sich von sogenannten Rohheitsdelikten fernzuhalten, also zum Beispiel Schlägereien und Raub. Oder es fehlen Hobbys, um die freie Zeit nach der Schule zu füllen – sie werden dann gemeinsam gesucht. Manchmal geht es auch nur darum, sich an grundlegende Regeln des Zusammenlebens zu halten, wie Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Höflichkeit.
Ein Problem sei allerdings weiterhin das soziale Umfeld, das sich eben nicht so schnell ändern lasse, sagt Sozialarbeiter Sat.
"Wenn man mit einzelnen Jugendlichen über bestimmte Themen spricht, dann haben die Empathie, die sind verständnisvoll, die sehen auch ein. Aber wenn die sich in der Gruppe bewegen, das ist eine ganz andere Atmosphäre."
Es spricht sich herum, wer nicht mitmacht
An der Gesamtschule Bockmühle in Essen machen Schulleiterin Julia Gajewski und ihre Kollegin Stefanie Wölk ähnliche Erfahrungen. Die Schule liegt in einem sogenannten Brennpunktviertel. Hier erhält mehr als die Hälfte der Bewohner Transferleistungen, ein Drittel der Haushalte wird von Alleinerziehenden geführt, viele Kinder haben einen Migrationshintergrund.
"Wir haben ja viele Schüler aus den Clanstrukturen hier an der Schule, die treffen sich auch hier und die sprechen da ja auch zum Teil drüber…" WER SPRICHT HIER?????
"Das ist in den letzten fünf Jahren auf jeden Fall mehr, es sind mehr große Konflikte geworden", sagt Gajewski. Die Jugendlichen verabreden sich zum Beispiel in der Schule zu Schlägereien, die dann kurz hinter den Schultoren oder im gewohnten Kiez stattfinden. Oder sie zeigen sich am nächsten Tag Videos davon. In den Klassen schafften es die Lehrer*innen häufig noch, gute Beziehungen zu den Jugendlichen aufzubauen, sagt Stefanie Wölk:
"Aber was die Pause oder den Stadtteil angeht, da findet schon eine ziemliche Überwachung statt, also dass die sich beobachten und weitererzählen, wie man sich verhält, also wenn jemand nicht mitmacht."
Die Jugendlichen brauchen eine Perspektive
Gajewski fordert schon länger, dass man deshalb an die Wurzeln des Problems heranmüsse – und diesen Jugendlichen echte Perspektiven aufzeigen sollte. Wir müssen ihnen helfen, in der Schule auch Erfolg zu haben, sagt sie.
Das gehe aber nur, wenn Schüler nicht aufgrund ihrer Herkunft in Schubladen gesteckt – oder von den sogenannten besseren Schulen abgewiesen werden. Es müsse eine Durchmischung geben, so dass auch Jugendliche aus prekären Verhältnissen mehr positive Vorbilder haben, statt – wie es aktuell häufig der Fall ist – auch an den Schulen unter ihresgleichen zu bleiben.
"Wir sind ja hier ein Abbild einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Und arbeiten an unseren Schulen mit Leuten, die aus diesem Teil der Gesellschaft eigentlich ausbrechen müssen. Nur: wie denn, mit welchem Vorbild und wohin?"
Diese Fragen werden im neuen Präventionsprogramm zur Clankriminalität beantwortet werden müssen. Aber das wird dauern, warnt schon jetzt Kriminaldirektor Jörg Unkrig.
"Man muss davon ausgehen, dass jemand, der fünf oder zehn Jahre in so einem Umfeld sozialisiert wurde, dass er nicht von heute auf morgen damit aufhört."
Das Projekt sei bisher bundesweit einmalig – und alle Beteiligten lernten noch. Die Zeit hierfür soll es geben, heißt es vonseiten der Politik.
"Wir messen quasi unsere Erfolge in Zentimetern und nicht in Metern."
Die ersten Millimeter sind jetzt geschafft, nun geht es an die Strecke.