Jahrelanger Missbrauch?
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Ein MeToo-Skandal erschüttert Barcelona. An der Schauspielschule "Institut del Teatre" soll es jahrzehntelang zu sexuellen Übergriffen gekommen sein. Im Zentrum des Skandals stehen mehrere Dozenten. Die künstlerische Leitung ist zurückgetreten.
"Übernehmt Verantwortung" hat jemand in lila Lettern auf die Glasfassade des Institut del Teatre gesprüht, davor sitzen ein paar Schauspiel-StudentInnen in der Sonne und plaudern. Nach einem Streik, mehreren Protestaktionen und dem Rücktritt der Leitung scheint etwas Alltag zurückgekehrt an die Schauspielschule. Doch beantwortet ist die Frage nach der Verantwortung noch nicht.
Es gab Gerüchte
Über 30 Jahre sollen zwei inzwischen pensionierte Lehrer sowie der ehemalige Direktor der Schule Studenten und Studentinnen während des Unterrichts gedemütigt, bloßgestellt und sexuell bedrängt haben. Beschuldigt wird vor allem der inzwischen suspendierte Ex-Direktor Joan Ollé: Er habe ihnen auf die Brüste gestarrt, an den Po gegriffen, sie zu sexuellen Beziehungen gedrängt, berichten mehrere Frauen. Wie konnten solche Praktiken an einer der renommiertesten Theater-Institutionen des Landes so lange verborgen bleiben?
"Wenn man in so einer Institution anfängt, gibt es immer Gerüchte über den einen oder anderen Lehrer. Aber solche Praktiken zu beenden, ist sehr, sehr schwer. Weil das ganze System dich daran hindert. Auch für die Institution ist es nicht einfach, solche Mechanismen zu entwickeln", sagt eine junge Frau, die ihren richtigen Namen nicht nennen will. Sie stellt sich als Sprecherin der Plattform Abús Arts vor, die die Proteste der letzten Tage mitorganisiert hat. Ihre Kommilitonin, auch sie bleibt lieber anonym, nickt:
"Wir wussten, dass so etwas in der Theaterwelt passiert. Die eine oder der andere hatte davon erzählt. Aber uns hat verwundert, dass diese Enthüllungen ausgerechnet jetzt kommen und ausgerechnet uns betreffen."
Enthüllungen von Journalisten
Dass die beiden Aktivistinnen mitten in der Krise die Institution in den Schutz nehmen: das überrascht. Tatsächlich gehen die Enthüllungen nicht auf Anzeigen der Opfer zurück, sondern auf eine groß angelegte Recherche der Tageszeitung Ara. Seit Oktober 2019 haben die Journalistin Núria Juanico und ihr Kollege Albert Llimós mit über 1000 katalanischen SchauspielerInnen gesprochen.
"Unsere Ausgangsfrage war: Wenn es so viele MeToo-Fälle in den USA gab, wie sieht es dann hier in der Szene aus? Wir hatten keinen konkreten Fall, sondern haben einfach angefangen, Schauspieler und Schauspielerinnen zu fragen. Nach ein paar Monaten zeigte sich dann, dass besonders viele über das Institut del Teatre berichteten. Das stellten wir deswegen dann ins Zentrum der Recherchen."
Viele der etwa 20 Fälle, die das Investigativ-Duo dokumentiert hat, verlaufen an der Schnittstelle von Machtmissbrauch und sexuellem Übergriff: Da ist der Dozent, der die Studentin anherrscht, sie brauche sich nicht zu sorgen, ob ihr Busen zu sehen sei, er habe den bestens im Blick. Oder der einflussreiche Regisseur, der die Nachwuchsschauspielerin dazu drängt, ihren Freund zu verlassen und ihr eine Rolle in seinem nächsten Stück verspricht.
Es galt als "normal"
Mehrere Frauen gaben nach diesen Erfahrungen ihre Karriere auf oder zogen ins Ausland. Beschwerde eingereicht hat keine. Núria Juanico wundert das nicht: Bis vor kurzem galten solche Praktiken zwischen Lernenden und Lehrenden als branchenimmanent und "ganz normal":
"Die MeToo-Bewegung war da bestimmt ein Wendepunkt und hat geholfen, solche Vorkommnisse sichtbarer zu machen. Wir haben aber auch aktuelle Fälle dokumentiert. In der Schauspielbranche arbeitet man mit Emotionen, mit dem Körper: Da fällt Abgrenzung schwerer. Viele haben beklagt, dass man sie glauben gemacht hätte, es gäbe solche Grenzen nicht."
Auch das Institut de Teatre hatte bereits seit 2018 – als Reaktion auf die MeToo-Debatte – ein Protokoll zur Vermeidung von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch vorgestellt. Von ihm Gebrauch gemacht hat niemand. Lediglich eine Studentin beschwerte sich – formlos – bei der Direktion, die daraufhin den Dozenten zu einem Vier-Augen-Gespräch bat: Damit hatte sich der Fall erledigt.
Das Theaterinstitut hat angekündigt, die Protokolle zu überarbeiten und die Fälle gründlich zu untersuchen. Eine psychologische Anlaufstelle und Projekttage sollen auch die Studierenden stärker für Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe sensibilisieren und ihnen dabei helfen, Grenzen zu ziehen.