Hören Sie auch das Gespräch mit Matthias Lilienthal vom 3. November 2016 zum Weggang der Schauspielerin Brigitte Hobmeier.
Alle gegen Lilienthal?
Seit einem Jahr ist Matthias Lilienthal Intendant an den Münchner Kammerspielen - und ihm schlägt viel Kritik entgegen. Seine Theaterstrategie insgesamt wird infrage gestellt. Das sei diffamierend, meint unser Kritiker. Man sollte Lilienthal Zeit geben.
Soviel vorweg: Ja, es ist schade, dass Schauspielerinnen wie Brigitte Hobmeier, Katja Bürkle und Anna Drexler, großartig allesamt, die Münchner Kammerspiele verlassen werden. Und ja, Matthias Lilienthal ist seit seinem Amtsantritt noch nicht allzu viel geglückt. Seine künstlerische Bilanz bis dato ist, nun ja, sagen wir: durchwachsen, keine Frage. Aber spricht das gegen seinen Kurs? Und überhaupt: Krise? Katastrophe? "Kummerspiele" oder "Jammerspiele", wie eine große süddeutsche Tageszeitung unkt? Leute, bitte! Lasst den Kunsttempel im Dorf!
Auch Lilienthals Vorgänger wurden kritisiert
Zur Erinnerung: Auch Lilienthals Vorgänger Johan Simons hatte am Ende seiner ersten Spielzeit kaum Erfolge vorzuweisen. Schon vergessen? Und selbst Vor-Vorgänger Frank Baumbauer musste sich noch nach zwei Jahren am Haus anhören, ob er mit seiner Vorstellung von Theater angekommen sei in der Stadt? Früher oder später waren die Münchner Kammerspiele unter diesen beiden Intendanten Dauergäste beim Berliner Theatertreffen und wurden verschiedentlich zum Theater des Jahres gekürt.
Man traut es sich kaum zu sagen, weil es ein Gemeinplatz ist. Aber es stimmt nun mal: So ein Umbruch unter einem neuen Intendanten braucht Zeit. Oft auch länger als ein Jahr. Das Problem in der aktuellen Debatte ist aber weniger, dass manche Kritiker Lilienthal diese Zeit nicht einräumen wollen. Vielmehr scheint es so, dass sie seinen Kurs grundsätzlich ablehnen. Hilfe, da ist einer gekommen, der uns unsere liebgewonnenes Theater wegnehmen will! Wie sonst darf man es verstehen, wenn performative Ansätze – also grob gesagt, eine Form von Theater, bei der die Darsteller nicht mehr in Rollen schlüpfen – in Bausch und Bogen als "Pipifax" oder "Kindergarten" diffamiert werden?
Pech mit Arbeiten von Theaterkollektiven
Lilienthal lässt Theatermacher und -kollektive wie She She Pop und Gob Squad, Philipp Quesne oder Toshiki Okada mit seinem Ensemble arbeiten, auch sie allesamt zu Großartigem fähig. Wie die drei Schauspielerinnen, die das Haus verlassen. Dass diese Künstler es meist nicht vermocht haben, sich die Qualitäten von Hobmeier, Bürkle oder Drexler in ausreichendem Maße zunutze zu machen, ist schade, war womöglich auch ungeschickt. Und leider haben sie in München fast durchwegs eher schwächere Regie-Arbeiten abgeliefert. Gleichfalls bedauerlich, kann aber passieren. Pech eben.
Aber: gegen Ende von Matthias Lilienthals erster Spielzeit und zu Beginn der zweiten haben sich auch Erfolge eingestellt: Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks "Wut" zum Beispiel – eine Aufführung, deren Besuch gerade nach der Wahl des populistischen Wüterichs Donald Trump in den USA übrigens hiermit dringend empfohlen sei. Oder kürzlich Yael Ronens "Point of No Return". Diese Inszenierungen verdanken ihren Erfolg ganz wesentlich auch dem Können zweier anderer hinreißender Schauspielerinnen: Bei Ronen ist es Wiebke Puls, die begeistert, bei Stemann Annette Paulmann.
Schauspielerin Hobmeier in Tschechows "Kirschgarten"
In beiden Fällen war zu erleben, wie beglückend es sein kann, wenn große Schauspielkunst auf performative Theaterstrategien trifft. Und dass sich beides in keiner Weise ausschließt, Lilienthals Kurs also nicht verkehrt ist. Demnächst übrigens wird Nicolas Stemann Tschechows "Kirschgarten" inszenieren. Premiere an den Münchner Kammerspielen ist im Januar. Mit dabei: Brigitte Hobmeier, noch ist sie ja am Haus. Und vielleicht wird es die nächste Produktion, in der eine Top-Schauspielerin in performativem Kontext brilliert.