Krise der Volksparteien

Wenn Kellner kochen müssen

Klaus Lederer, Spitzenkandidat der Partei Die Linke, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, SPD, und der Grünen-Landesvorsitzende Daniel Wesener geben am 26.09.2016 in Berlin ein Statement.
Klaus Lederer, Spitzenkandidat der Partei Die Linke, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, SPD, und der Grünen-Landesvorsitzende Daniel Wesener geben am 26.09.2016 in Berlin ein Statement. © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Von Max Thomas Mehr · 06.10.2016
Die Volksparteien leiden an Schwindsucht. Kleine Parteien und Gruppierungen gewinnen an Einfluss. Wer in einer Koalition das Sagen hat und wer Juniorpartner ist, ist oft nicht mehr so einfach zu sagen. In den verunsicherten Parteien gewinnt die Idee, sich durch Volksbefragungen zu legitimieren, an Boden. Damit drücken sie sich vor der Verantwortung, meint Max Thomas Mehr.
Es ist schon lange her, doch der Satz hallt bis heute nach: 1998 teilte Gerhard Schröder, damals noch Kanzler in spe, seinem grünen Regierungspartner in spe Joschka Fischer mit, wie er sich die Rollenverteilung dachte: Die SPD sei Koch, die Grünen Kellner. Heute gibt es je nach Lesart nur noch Köche oder nur noch Kellner.

Deprimierende Wahlergebnisse

Zählt man bei den Berliner Wahlergebnissen vor zwei Wochen die Nichtwähler mit, ergibt sich für Christ- und Sozialdemokraten ein noch deprimierenderes Bild als die offiziellen Wahlergebnisse anzeigen. Denn bei dieser Betrachtung wird deutlich: den größten "Erfolg" in Anführungsstrichen erzielten die Nichtwähler: 33 Prozent! Den einstigen "Volksparteien" SPD und CDU schenkten nur noch 14 beziehungsweise 11 Prozent ihr Vertrauen. Rotrotgrün käme nach dieser Rechenart gerade mal auf 34 Prozent. Wer will da noch den Koch machen?
Fast die Hälfte des Wahlvolks fühlt sich weder von der SPD noch von der CDU repräsentiert, auch nicht von GRÜNEN, LINKEN oder der FDP. Egal, ob diese Bürger ihre Stimme den Rechtspopulisten gaben oder ob sie als Nichtwähler nur auf "die da oben" schimpfen – es ist unübersehbar: Annähernd 50 Prozent der Wahlberechtigten haben der politischen Klasse gekündigt – ein Trend, nicht nur in Berlin.
Wie reagieren die Nicht-Mehr-Volksparteien? Mit Vernunft und Gespräch? Sie versprechen zwar mehr Partizipation, doch das ist nur ein schwacher Versuch, ihre weitere Erosion aufzuhalten.

Volksentscheide verstärken die Legitimationskrise

Mit den vielen Wünsch-Dir-Was-Volksentscheiden ob über sozial verträgliche Mieten, mehr Fahrradwege oder die Abweisung von Flüchtlingen – siehe Ungarn – wird die Legitimationskrise repräsentativer Demokratie nicht behoben, sondern eher verstärkt.
In den bayerischen Alpen macht solche Basisdemokratie sogar den Bau einer Seilbahn zwischen den zwei höchstgelegenen Dörfern der Republik möglich, obwohl der Naturschutz das eigentlich verbietet. Abgestimmt hatten nur die paar Bergdörfler. Mehr Bürgerbeteiligung und Volksentscheide sind zwar cool, doch diese Art der Partizipation funktioniert eigentlich nur für den, der in der Opposition ist – als fishing-for-Stimmen. Parlamente ersetzen sie nicht, genauso wenig wie Regierungen, die das ganze Gemeinwesen mit all seinen checks and balances im Auge haben müssen. Das ist der Job des Kochs – doch so schwach, wie die Parteien heute sind, scheinen sie kaum mehr in der Lage auch mal Entscheidungen gegen größere Bürger-Lobbyistengruppen durchzusetzen.

Viele Kellner, keine Köche

So drängt sich bei den beginnenden Koalitionsverhandlungen zur Bildung des Berliner Senats der Eindruck auf: Lauter geschäftige Kellner laufen durchs Restaurant. Sie servieren halbgares Zeug auf halbleeren Tellern – damit das Publikum nicht merkt: Ein Koch ist gar nicht mehr da. Und die Kellner von Rotrotgrün tasten sich erst daran, die Küche zu übernehmen.
Ein Mister -14-Prozent-Regierungschef müsste vor allem kommunikativ sein und im Dialog mit der Stadtgesellschaft überzeugende Gerichte servieren zum Beispiel fürs Wohnen in der wachsenden Metropole und nicht am Stadtrand – wo keiner hinwill.
Keiner weiß, wie sich eine neue - sicher auch widersprüchliche - Art der Partizipation entwickeln würde. Doch zu ihr gehörte, dass ein grüner Bausenator die Randbebauung des einstigen Flughafens Tempelhof in 1-A-Wohnlage durchzusetzen hätte, ein Finanzsenator der Linken den Wohnungsbau nicht auf 6 Euro 50 pro Quadratmeter heruntersubventionierte und ein grüner Innensenator abgelehnte Asylbewerber tatsächlich auch mal nach Marokko abschieben müsste.

Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist freischaffender politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "taz" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (produziert von ARTE/MDR) wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet.

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