Philosophie

Die mittleren Jahre als Blütezeit des Lebens

Frau mit schicker Sonnenbrille im mittleren Alter überquert eine Straße in einer Stadt, sie wirkt dynamisch und lächelt. (Symbolbild)
Im mittleren Alter greift typischerweise das Realitätsprinzip: Wir müssen akzeptieren, dass wir der Mensch sind, der wir sind. (Symbolbild) © IMAGO / HalfPoint Images
Bei Aristoteles heißt es, die mittleren Jahre zwischen Jugend und Alter seien die Blütezeit des Lebens. Diesen Gedanken hat sich die Philosophin Barbara Bleisch zu eigen gemacht, um mit Klischees über die Midlife-Crisis aufzuräumen.
Wenn Freunde und Familie ab einem bestimmten Zeitpunkt jedes Jahr wieder mit Augenzwinkern zum 30. Geburtstag gratulieren, soll das wohl heißen, dass es irgendwie unangenehm ist, älter zu werden. Die Botschaft: Jung bleiben wäre eigentlich besser. Dabei galt die Mitte des Lebens - angesiedelt zwischen den Extremen der Jugend und des Alters - in der antiken Philosophie als Blütezeit. Dieser Widerspruch hat die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch gereizt, sich mit der Lebensphase der mittleren Jahre genauer auseinanderzusetzen.
Das Besondere an den mittleren Jahren zwischen 40 und 65 ist aus ihrer Sicht die Tatsache, dass wir bereits auf einen Teil unseres Lebens zurückblieben können, und gleichzeitig - hoffentlich - noch viel Zeit vor uns haben.
Damit einher geht auch eine Bilanzierung: Was ist aus uns geworden? Was wollen wir noch erreichen? Existentielle Fragen, die wir oft als Krise wahrnehmen, drängen an die Oberfläche. Philosophisch betrachtet meint Krise aber nicht, dass wir niedergeschlagen sind, sondern dass wir nach Karl Jaspers „Momente der Existenzerhellung“ erfahren können.

Wer hat die Midlife-Crisis erfunden?

Der Begriff Midlife-Crisis geht auf den kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques zurück und stammt aus den 1960er-Jahren. Jaques hat die Erkenntnis, sterblich zu sein, als Auslöser für Krisen in der Mitte des Lebens definiert.
Populär gemacht wurde das Konzept der Midlife-Crisis in den 1970er-Jahren aber von Gail Sheehy, einer Journalistin und Feministin, die herauszufinden wollte, warum sich die mittleren Jahre für Männer und Frauen - damals noch - so unterschiedlich anfühlten.
Männer, die alles auf die Karriere gesetzt hatten, fragten sich: Was kommt jetzt noch? Frauen, die zu Hause geblieben waren und die Care-Arbeit übernommen hatten, bekamen hingegen Lust, auszubrechen und sich neu zu erfinden.
Inzwischen sei das allerdings anders, sagt die Philosophin Barbara Bleisch. Lebensläufe sind im 21. Jahrhundert deutlich weniger stark normiert als noch in den 1970er-Jahren: „Wir sind sehr viel liberaler unterwegs, was unsere Lebensgestaltung anbelangt.“
Eine altersirrevelante Gesellschaft seien wir deshalb aber nicht, auch wenn manche das behaupten, betont die Autorin. Vieles habe eine "Eigenzeit", zum Beispiel, wenn bei Frauen die sogenannte biologische Uhr ticke.
Grundsätzlich bleibe festzuhalten, dass „unser Leben im eminenten Sinn ein zeitliches ist“, erläutert die Philosophin und beruft sich auf die Existenzphilosophie. „Wir sind eingespannt zwischen Geburt und Tod. Deswegen schwingt die Frage immer mit, wie wir mit der begrenzten Zeit, die wir zur Verfügung haben, sinnvoll umgehen.“

Wenn Träume für immer platzen

Wenn wir in der Mitte des Lebens ankommen, haben wir schon einiges an Strecke hinter uns gebracht. Im besten Fall fahren wir jetzt die Ernte dessen ein, was wir gesät haben. Im schlechteren Fall stellen wir fest, dass Träume für immer platzen und dass wir Fehler, die wir gemacht haben, jetzt ausbaden müssen: So beschreibt es Bleisch.
Doch statt unser Augenmerk darauf zu richten, was verloren gegangen ist, könne man auch Entscheidungen treffen und Türen schließen. „Nichts ist schlimmer, als sich durchs Leben schieben zu lassen, weil wir nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen“, sagt Bleisch.
Denn wer sich nicht entscheidet, für den wird entschieden, weil die Zeit unerbittlich weiterläuft. Zurückbleiben kann dann der Eindruck: „Wir haben unser Leben gar nicht wirklich geführt, wir haben gar nicht entschieden, wir waren nicht autonom in dem, was wir wollten.“ Die Folge können Reue und Bedauern sein.

Unterscheiden zwischen Reue und Bedauern

Wer wünscht sich nicht, am Ende seines Lebens - so wie Edith Piaf in ihrem weltberühmten Chanson - „Non, je ne regrette rien“ (Nein, ich bereue nichts) zu singen? Das sei aber nicht die richtige Sichtweise, findet die Philosophin Barbara Bleisch.
Sie unterscheidet zwischen Reue und Bedauern. In der Alltagssprache scheinen die beiden Begriffe austauschbar zu sein, doch philosophisch umfasst Reue nicht nur das schlechte Gefühl, zurückzublicken und zu denken „Ach, das hätte ich gerne gemacht!“, sondern zusätzlich auch noch einen Anlass oder Grund, hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Haben wir tatsächlich jemandem Unrecht getan, sei Reue gerechtfertigt - und dann sollten wir uns auch entschuldigen, sagt Barbara Bleisch. Reue sei auch angebracht, wenn wir uns selbst verraten haben.
Öfters wird es aber wohl so sein, dass wir zurückblicken und denken: „Hätte ich doch Medizin studiert! Wäre es nicht toll gewesen, auszuwandern und meine Zelte woanders aufzuschlagen? Warum habe ich das nicht getan?“ In solchen Fällen sei es zwar richtig, zu bedauern, dass wir Lebens-Optionen aufgegeben haben, so Bleisch. Sich selbst das aber auch noch übelzunehmen, helfe nicht weiter. Bedauern gehöre ein Stück weit dazu: Es sei „die Begleitmelodie eines Lebens, das viel will“, sagt Barbara Bleisch.

Lebenserfahrung und transformative Erfahrungen

Erfahrungen, die wir machen, verändern uns. Wie sie uns verändern werden, wissen wir aber oft nicht, wenn wir eine Entscheidung treffen. Sich im Rückblick zu ärgern, die vermeintlich falsche Wahl getroffen zu haben, sei nicht angebracht, so die Philosophin: „Wir können eigentlich nur feststellen: Wir wussten es vielleicht nicht besser, wir haben die Erfahrung noch nicht gemacht.“
Das ist besonders bei den sogenannten transformativen Erfahrungen der Fall; dazu gehört zum Beispiel die Elternschaft. Wer sich für ein Kind entscheidet, kann nie ganz absehen, „wer man danach noch ist“. Transformative Erfahrungen verändern uns grundlegend. Bleisch ist davon überzeugt, dass wir gut daran tun, bereit dafür zu sein, uns vom Leben auch verändern zu lassen.

Heimweh und Liebeskummer

Lebenserfahrung ist aus Sicht der Philosophin ein hohes Gut – es ist die Fülle, aus der wir in mittleren Jahren schöpfen können. Lebenserfahrung sei oft auch sinnliche und körperliche Erfahrung. Wer Heimweh oder Liebeskummer nie selbst erlebt habe, könne darüber lesen, und werde trotzdem nicht wissen, was Heimweh und Liebeskummer seien.
Folglich lässt sich Lebenserfahrung schlecht weitergeben, sagt Barbara Bleisch. „Das ist auch ein Problem des alten, weißen Mannes, dass er dauernd seine Lebenserfahrung weitergeben will.“ Doch das geht eben nicht. Denn „das Leben ist etwas, das wir selber erfahren müssen und erfahren wollen.“

Alle Ziele erreicht - was nun?

Karriere, Haus, Kind, Ehe – manch eine(r) hat in der Mitte des Lebens alles erreicht, und trotzdem machen sich innerlich Leere und Ernüchterung breit. War es das schon?
Zwar hat die Philosophie im 20. Jahrhundert die Idee eines Lebensplans als große Qualität hervorgehoben. So vertrat der amerikanische Philosoph John Rawls die Ansicht, dass ein rationaler Lebensplan stark mit einem autonomen Leben verbunden sei.
Ein allzu zielorientiertes Leben kann aber auch zu einem Gefühl der Leere führen, sagt die Philosophin Barbara Bleisch: Wenn der Stolz über ein gelungenes Projekt allzu schnell verfliegt und immer wieder ein neues Projekt hermuss, oder wenn es nur darum geht, auf der eigenen Lebens-Liste den nächsten Haken zu machen.
Dagegen helfen sogenannte „atelische Tätigkeiten“, die nicht zielorientiert sind. Mit der Katze spielen oder gärtnern bereitet Freude, lässt sich aber nicht im eigentlichen Sinn erledigen: „Solche Momente werden gerade in der Mitte des Lebens wieder kostbarer, weil wir vielleicht merken, dass ein zielfokussiertes Leben manchmal auch gewisse Schwierigkeiten birgt.“

Wie gestalten wir die zweite Lebenshälfte?

Auch im mittleren Alter haben wir Träume und Sehnsüchte. Zwar können wir in dieser Lebensphase nicht alles noch einmal umdrehen, trotzdem können wir manches neu aufgreifen, glaubt Barbara Bleisch. Wer trotz Kinderwunsch kinderlos geblieben ist, kann feststellen, dass ihm der Kontakt zu Kindern fehlt und auf andere Art und Weise versuchen, der Sehnsucht nachzugehen. Wer sich gegen eine Musiker-Karriere entschieden hat, kann das Spielen eines Instruments wieder anfangen, und sich vielleicht nach einem Laien-Orchester umschauen.
Bleisch blickt auf die Mitte des Lebens nicht nur in zeitlichen Kategorien. Es gehe darum, darüber nachdenken, was das Zentrum des Lebens sei: "Was ist die Fülle? Worum geht es in einem menschlichen Leben?" Gleichzeitig können wir aber auch zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer gewissen Distanz auf unser Leben blicken, ohne uns „tragisch ernst“ zu nehmen, so Bleisch. „Hinreichend ernst“ reicht auch.

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