Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben. Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Richard Barth
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
277 Seiten, 18 Euro
Systemkritik unter der Bettdecke
08:13 Minuten
Umfragen zufolge finden heute mehr Amerikaner den Sozialismus attraktiv als je zuvor. Eine davon ist die Historikerin Kristen R. Ghodsee, die gegen den Neoliberalismus nicht nur ökonomische Argumente anführt, sondern auch ganz intime.
Der Titel ist vielversprechend. Zumal, wenn seine Verfasserin eine etablierte Historikerin der University of Pennsylvania ist, und Pennsylvania sich in einem Land befindet, dessen nationales Potenzgefühl sich aus einem antisozialistischen Affekt speist. Kurz gesagt, Kristen R. Ghodsees aus einem Artikel in der New York Times hervorgegangenes Buch ist eine Provokation.
Geschrieben hat sie es, wie sie für ihre deutschen Leser entschuldigend einräumt, für ein amerikanisches Publikum. Für jene Menschen nämlich, die nach dem Ende des Kalten Kriegs geboren wurden und sich von den neoliberalen Parolen ihrer Regierung nicht mehr beeindrucken lassen. Immerhin wollen laut einer Studie mehr von ihnen heute in einem sozialistischen als in einem kapitalistischen Land leben. Was hat die amerikanische Osteuropaspezialistin uns dazu zu sagen?
Geschrieben hat sie es, wie sie für ihre deutschen Leser entschuldigend einräumt, für ein amerikanisches Publikum. Für jene Menschen nämlich, die nach dem Ende des Kalten Kriegs geboren wurden und sich von den neoliberalen Parolen ihrer Regierung nicht mehr beeindrucken lassen. Immerhin wollen laut einer Studie mehr von ihnen heute in einem sozialistischen als in einem kapitalistischen Land leben. Was hat die amerikanische Osteuropaspezialistin uns dazu zu sagen?
Vom großen Systemsieg
Ihr Buch beginnt mit einer persönlichen Einbettung ihres Forschungsinteresses. Das Jahr 1990 hat Ghodsee in Osteuropa auf Rucksacktour verbracht. Ihr Weg führte sie auch auf das ehemalige DDR-Gebiet. Sie traf auf euphorische Menschen, die an die Verheißungen des Kapitalismus glaubten. Die Erzählung vom großen Systemsieg entfaltete sich vor allem unter den jüngeren Menschen und walzte auch diejenigen Praktiken aus dem sozialistischen Alltag nieder, an die wir uns dreißig Jahre später wieder erinnern sollten. Denn aus heutiger Sicht wird klar, dass der Kapitalismus von damals nicht der Kapitalismus von heute ist. Und genau dort setzt Ghodsee an.
Einblicke unter die Bettdecke
Gerade in den letzten Jahren hat eine jüngere Forschergeneration ihren Fokus auf das Alltagsleben im Staatssozialismus gerichtet. Es gibt Studien und neu zugängliche Archive aus den ehemaligen Ostblockländern, die Ghodsee Einblicke bis unter die Bettdecke verschaffen. Der Zusammenhang von Sozialismus und Feminismus interessiert sie dabei besonders. Weswegen etwa die Hälfte ihres Buchs den sexpositiven Utopien berühmter Sozialistinnen und Sozialisten gilt. Angefangen bei Lily Braun, der Erfinderin der "Mutterschaftsversicherung" bis hin zu August Bebel, dem Verfasser von "Die Frau im Sozialismus".
In den seltensten Fällen wurden die hehren Ideale dieser Aufklärer im real gelebten Sozialismus aber real. Eher war es im Osten so, dass man auf die Arbeitskraft von Müttern zählte und deswegen staatliche Maßnahmen zu ihrer Entlastung traf, während der Westen seine Trümmerfrauen zurück in die Küche schickte. Trotz geheuchelter Motive führte die Lohngleichheit, glaubt man einschlägigen Umfragen, zu einem erfüllteren Sexualleben. Allerdings nicht überall. In Rumänien herrschte eine patriarchalische Form des Staatssozialismus vor, die das Intimleben einschränkte. Von solchen Fällen abgesehen, ist Ghodsee Anhängerin sexualökonomischer Theorien, die eine verfehlte Sozialpolitik dafür verantwortlich machen, dass Frauen ihren Sex als Ware einsetzen. "Im Jahr 2016 waren die vereinigten Staaten neben Papua-Neuguinea, Surinam und einigen Inseln im Südpazifik das einzige Land der Welt ohne gesetzlich verankerten, bezahlten Elternurlaub", schreibt sie bissig.
Und weil Feminismus, wenn man ihn von seiner ökonomischen Seite betrachtet, nie ohne Kapitalismuskritik auskommt, wandelt sich Ghodsees Buch gegen Ende noch zu einer flammenden Systemkritik: "Die Experimente des 20. Jahrhunderts mit dem Marxismus-Leninismus sind gescheitert, aber aus ihrem Scheitern sollten wir Lehren ziehen, wie wir ihre vielen Fehler vermeiden können, statt dass wir nur rundweg alle Ideen von gemeinschaftlichem Handeln wegwischen. In all dem Badewasser lag ein Kind. Wir sollten uns endlich daranmachen, es zu retten."