Kriterien einer gerechten Welt

Von Eicke Gebhardt · 11.10.2010
Gerechtigkeit: ein scheinbar jedem verständlicher Begriff. Vor dem Gesetz ist jeder gleich, es verbietet Königen und Bettlern gleichermaßen, unter Brücken zu schlafen, spottete Anatole France. Genügt es wirklich, jedem einfach dasselbe zuzuteilen oder abzunehmen, damit Gerechtigkeit herrscht?
Durchaus nicht, behauptet Amartya Sen: Fast alle großen Ethik-Theorien fordern kaum je einlösbare Ideale und messen an diesen, wie gerecht eine Gesellschaft ist - ohne die konkreten Lebensbedingungen der Menschen zu bedenken. Allein mit korrekt arbeitenden Institutionen und fairen Verfahrensregeln aber schaffen wir keine Gerechtigkeit. Im Alltag wissen wir das.

Sens Beispiel: Es gibt eine Flöte für drei Kinder - wer sollte sie haben? Das musikalische Kind, weil es eine natürliche Nähe dazu hat? Das arme Kind, weil es sonst nie die Chance hätte, ein Instrument zu lernen? Oder das dritte, das die Flöte selber gebaut hat, die man ihm jetzt wegzunehmen droht?

"Die Frage ist, ob sich vielfältige und konkurrierende Begründungen für Gerechtigkeit aufrecht erhalten lassen, die sämtlich Ansprüche auf Unparteilichkeit haben und trotzdem voneinander verschieden sind – und einander widerstreiten!"

Um dieses Manko der Prinzipien-Ethiken zu korrigieren, hat Sen schon vor Jahrzehnten den sogenannten "Befähigungsansatz" entwickelt – auf Englisch genauer und zugleich umfassender: "capabilities approach". Er nimmt die Fähigkeiten und die konkreten Möglichkeiten der Menschen in den Blick, ihr Potential zu verwirklichen und offenbares Unrecht (Sklaverei, Frauenbenachteiligung, Bildungschancen nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht usw.) zu reduzieren. Nicht das Streben nach einem Idealzustand hilft der Gerechtigkeit, sondern die praktische Alltagsarbeit an fairen Lebenschancen.

Und dazu, so Sen, brauchen wir kein Kriterium eines Idealzustands – damit vergeuden wir nur unsere (Urteils-)Kraft. Wir brauchen keine Idee des idealen Kunstwerks (zum Beispiel der Mona Lisa), um Picasso und van Gogh zu vergleichen. Statt starre, kodifizierte Entscheidungskriterien für alle Lebenslagen zu verlangen, müssen wir gewichten – im vernunftgeleiteten demokratischen Diskurs der Güterabwägung. Der löst zwar auch nicht immer die Konflikte, macht aber potentiell jeden zum aktiven Teilnehmer statt zum passiven Empfänger einer Entscheidung.

Die großen Ethiktheorien seien typischerweise blind für die Gerechtigkeitskriterien der jeweils anderen Theorien, und damit auch für ihr Konfliktpotential – so zum Beispiel zwischen (libertärem) Eigentumsrecht, dem (utilitaristischen) Ideal des größten Nutzens für alle (gern von Regierungen gegen Einzelne beschworen) oder dem (egalitären) Recht auf menschenwürdige Lebensbedingungen. Wichtiger als der Streit um die Durchsetzung des Rechts nach der gerade herrschenden Auffassung aber sei die Verringerung des jeweils konkret herrschenden Unrechts – und genau dafür bietet sich Sens "capabilities approach" an.

Besprochen von Eike Gebhardt

Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit
aus dem Englischen von Christa Krüger
C. H. Beck Verlag, München 2010
493 Seiten, 29,95 Euro