Kritik am gepredigten "Kuschelgott"
Die Kirchen erleben derzeit eine beispiellose Austrittswelle. Friedrich Wilhelm Graf, protestantischer Theologe, sucht in seinem Buch nach Gründen dafür. So polemisiert er gegen "moralisierende Pathosbotschaften", geißelt Esoterik und liturgische Nächte.
Friedrich Wilhelm Graf hat eine Reihe von Essays und kritischen Diagnosen zu einem Büchlein zusammengestellt. Seine Thesen waren zuvor schon in der Frankfurter Allgemeinen, der Süddeutschen und der Neuen Züricher Zeitung zu lesen. Den Titel "Kirchendämmerung" entlehnte er Nietzsche, um der Frage nachzugehen, "wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen". Man merkt dem Buch die Brüche seiner Bestandteile an. In seinem Fazit lesen wir so erstaunliche Sätze wie
"Besonders gut stehen die beiden großen Kirchen nicht da."
Das hätten wir nicht gedacht!
Es überrascht nicht, wenn Friedrich Wilhelm Graf analysiert, wie große Wohlfahrtseinrichtungen der Kirchen, also Caritas oder Diakonie, mit der ökonomischen Situation in Deutschland zusammenhängen, und dabei deutlich macht, dass sich auch religiös geprägte Pflegeeinrichtungen nicht dem Diktat des Marktes verschließen können. Graf schreibt:
"Nach den soeben, im November 2010 veröffentlichten Berechnungen Carsten Frerks, eines entschiedenen Kirchenkritikers, erhalten die beiden Kirchen sehr viel mehr staatliche Mittel als bisher angenommen: Frerk berechnet die direkten und indirekten Leistungen, [ ... ] auf insgesamt 19 Milliarden Euro [ ... ]. Und Caritas und Diakonie können mit schätzungsweise 45 Milliarden Euro jährlich an sozialstaatlichen Transferleistungen rechnen."
Diese Aufzählung kommentiert Graf mit dem Satz:
"Die damit verbundene große Staatsnähe der Kirchen wird inzwischen vor allem von prominenten katholischen Bischöfen, auch von Papst Benedikt XVI., sehr kritisch gesehen."
Was will Friedrich Wilhelm Graf dem geneigten Leser damit sagen? Später beklagt er, dass eine radikale Umstrukturierung der Kirche solange nicht zu erwarten sei, wie sie über ausreichend Finanzmittel verfügt. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch die aus der Kirche Ausgetretenen zu der Gruppe derjenigen gehören können, die "believing without belonging" - also Glaubende ohne Kirchenmitgliedschaft - sein können, und gegen die großen Geldtransferleistungen der Staates also nichts einzuwenden hätten.
Die Frage, ob eine andere Form der Kirchensteuer die Austrittsbewegung stoppen könnte, kommt Graf nicht in den Sinn - etwa das italienische Beispiel, wo jeder eine Kultursteuer zahlt, aber im Fall der Kirchennähe eben verfügen kann, die Abgabe der Kirche zukommen zu lassen. Er belässt es beim lamentierenden Auflisten, ohne Alternativen anzubieten oder zu empfehlen. Später beschäftigt er sich mit "Religious Economics" und lässt den Leser wissen, dass
"[die Kirchen unter] modernen Bedingungen auf Sinnmärkten agieren und wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure den Kriterien ökonomischer Rationalität [unterliegen]".
Damit hat er sicher Recht, wenngleich seine Ausführungen der zuvor beklagten übergroßen Transfersumme staatlicher Gelder für die Diakonie widersprechen. Er kann sich offenbar nicht entscheiden, ob er nun mehr oder weniger Geld möchte, ob Kirche und Diakonie nun eher professionalisiert oder ehrenamtlich arbeiten sollten.
"In der Diakonie professionell tätige Menschen bedürfen der Wertschätzung ihrer Arbeit, und das heißt auch: Man muss viele von ihnen besser bezahlen als momentan häufig üblich. Leider hat das Diakonische Werk der EKD zu seinem langfristigen Schaden, dies nicht erkannt, sondern seinerseits eine Politik der generellen Gehaltsabsenkung betrieben."
Schließlich steigert sich Graf in einen grandiosen Schluss:
"Der deutsche Protestantismus verfügt über einen reichen Bestand an ethischen Traditionen. Ich bin davon überzeugt, dass er in aktuellen Diskussionen um den Umbau des Sozialstaates mehr zu sagen hat, als [es] in aller Regel geschieht."
Donnerwetter! Darauf hätte man nicht kommen können, denn zuvor polemisiert er gegen "moralisierende Pathosbotschaften" der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland oder der Bischöfe.
Er geißelt Esoterik, liturgische Nächte, wettert gegen die Minderheit der Insider, die er als "Kirchenchristen" verachtet, und macht sich für die Verkündigung des Wortes stark. Dabei kommt er auf die aus seiner Sicht mangelnde Qualität der Predigten zu sprechen, die einen "Kuschelgott" propagierten, ohne ausreichend auf die Vermahnung der Gläubigen zu achten.
Friedrich Wilhelm Graf versucht deshalb, die Lage der Gemeindepfarrer zu beschreiben. Er beklagt, dass diese oftmals Funktionen ausüben müssen, für die sie nicht ausgebildet wurden - in der Administration der Kirche oder als "Baufachleute". Er macht sich lustig über modisch angepasste Amtstrachten:
"in Sachen Amtskleidung [ ... ] herrscht im deutschen Protestantismus bunte, nicht selten peinlich schrille Vielfalt",
beklagt in altväterlicherweise den strukturellen Wandel der Pfarrhäuser durch die zunehmende Zahl an Frauen im Pfarramt, die man doch eigentlich auch als Chance zur Veränderung begreifen könnte. Natürlich wird man Friedrich Wilhelm Graf nicht nur für die Kirchen, sondern auch für andere Religionsgemeinschaften zustimmen, wenn er fordert,
"im Protestantismus geht es in erster Linie darum, das Amt des Pfarrers und vor allem das des Gemeindepfarrers zu stärken",
legt er doch richtigerweise dar,
" ... dass die Kirchenmitglieder die evangelische Kirche in erster Linie über den Pfarrer wahrnehmen."
Als Rabbiner finde ich, dass der Zustand der Glaubensgemeinschaften in unserer Gesellschaft strukturelle Ähnlichkeiten aufweist. Da, wo Geistliche nur noch für Gebiete und nicht mehr für eine Gemeinde zuständig sind, geht es nicht nur mit der Präsenz der Kirche bergab, sondern dort verkommt die Gemeindearbeit.
Es ist die Ausstrahlung des vor Ort tätigen Seelsorgers, des Gelehrten und der anfassbaren Persönlichkeit, die Gemeindeleben ermöglicht - das ist so in protestantischen, in katholischen wie in jüdischen Gemeinden. Aber wird Grafs Argumentation die in der Administration tätigen Überflieger davon überzeugen können, es in Zukunft Basis näher zu machen?
Fast alle von Friedrich Wilhelm Graf als "Untugenden" beschriebenen Phänomene muss man einem kritischen Diskurs über die Position der Religionsgemeinschaften in Deutschland unterwerfen. Aber dazu gehört dann doch weniger Vorurteil und mehr Analyse, wenn´s denn mehr sein soll, als Glosse für die Tageszeitung.
Friedrich Wilhelm Graf: Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen
C.H.Beck Verlag, München 2011.
191 Seiten, 10,95 Euro
"Besonders gut stehen die beiden großen Kirchen nicht da."
Das hätten wir nicht gedacht!
Es überrascht nicht, wenn Friedrich Wilhelm Graf analysiert, wie große Wohlfahrtseinrichtungen der Kirchen, also Caritas oder Diakonie, mit der ökonomischen Situation in Deutschland zusammenhängen, und dabei deutlich macht, dass sich auch religiös geprägte Pflegeeinrichtungen nicht dem Diktat des Marktes verschließen können. Graf schreibt:
"Nach den soeben, im November 2010 veröffentlichten Berechnungen Carsten Frerks, eines entschiedenen Kirchenkritikers, erhalten die beiden Kirchen sehr viel mehr staatliche Mittel als bisher angenommen: Frerk berechnet die direkten und indirekten Leistungen, [ ... ] auf insgesamt 19 Milliarden Euro [ ... ]. Und Caritas und Diakonie können mit schätzungsweise 45 Milliarden Euro jährlich an sozialstaatlichen Transferleistungen rechnen."
Diese Aufzählung kommentiert Graf mit dem Satz:
"Die damit verbundene große Staatsnähe der Kirchen wird inzwischen vor allem von prominenten katholischen Bischöfen, auch von Papst Benedikt XVI., sehr kritisch gesehen."
Was will Friedrich Wilhelm Graf dem geneigten Leser damit sagen? Später beklagt er, dass eine radikale Umstrukturierung der Kirche solange nicht zu erwarten sei, wie sie über ausreichend Finanzmittel verfügt. Gleichzeitig wird deutlich, dass auch die aus der Kirche Ausgetretenen zu der Gruppe derjenigen gehören können, die "believing without belonging" - also Glaubende ohne Kirchenmitgliedschaft - sein können, und gegen die großen Geldtransferleistungen der Staates also nichts einzuwenden hätten.
Die Frage, ob eine andere Form der Kirchensteuer die Austrittsbewegung stoppen könnte, kommt Graf nicht in den Sinn - etwa das italienische Beispiel, wo jeder eine Kultursteuer zahlt, aber im Fall der Kirchennähe eben verfügen kann, die Abgabe der Kirche zukommen zu lassen. Er belässt es beim lamentierenden Auflisten, ohne Alternativen anzubieten oder zu empfehlen. Später beschäftigt er sich mit "Religious Economics" und lässt den Leser wissen, dass
"[die Kirchen unter] modernen Bedingungen auf Sinnmärkten agieren und wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure den Kriterien ökonomischer Rationalität [unterliegen]".
Damit hat er sicher Recht, wenngleich seine Ausführungen der zuvor beklagten übergroßen Transfersumme staatlicher Gelder für die Diakonie widersprechen. Er kann sich offenbar nicht entscheiden, ob er nun mehr oder weniger Geld möchte, ob Kirche und Diakonie nun eher professionalisiert oder ehrenamtlich arbeiten sollten.
"In der Diakonie professionell tätige Menschen bedürfen der Wertschätzung ihrer Arbeit, und das heißt auch: Man muss viele von ihnen besser bezahlen als momentan häufig üblich. Leider hat das Diakonische Werk der EKD zu seinem langfristigen Schaden, dies nicht erkannt, sondern seinerseits eine Politik der generellen Gehaltsabsenkung betrieben."
Schließlich steigert sich Graf in einen grandiosen Schluss:
"Der deutsche Protestantismus verfügt über einen reichen Bestand an ethischen Traditionen. Ich bin davon überzeugt, dass er in aktuellen Diskussionen um den Umbau des Sozialstaates mehr zu sagen hat, als [es] in aller Regel geschieht."
Donnerwetter! Darauf hätte man nicht kommen können, denn zuvor polemisiert er gegen "moralisierende Pathosbotschaften" der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland oder der Bischöfe.
Er geißelt Esoterik, liturgische Nächte, wettert gegen die Minderheit der Insider, die er als "Kirchenchristen" verachtet, und macht sich für die Verkündigung des Wortes stark. Dabei kommt er auf die aus seiner Sicht mangelnde Qualität der Predigten zu sprechen, die einen "Kuschelgott" propagierten, ohne ausreichend auf die Vermahnung der Gläubigen zu achten.
Friedrich Wilhelm Graf versucht deshalb, die Lage der Gemeindepfarrer zu beschreiben. Er beklagt, dass diese oftmals Funktionen ausüben müssen, für die sie nicht ausgebildet wurden - in der Administration der Kirche oder als "Baufachleute". Er macht sich lustig über modisch angepasste Amtstrachten:
"in Sachen Amtskleidung [ ... ] herrscht im deutschen Protestantismus bunte, nicht selten peinlich schrille Vielfalt",
beklagt in altväterlicherweise den strukturellen Wandel der Pfarrhäuser durch die zunehmende Zahl an Frauen im Pfarramt, die man doch eigentlich auch als Chance zur Veränderung begreifen könnte. Natürlich wird man Friedrich Wilhelm Graf nicht nur für die Kirchen, sondern auch für andere Religionsgemeinschaften zustimmen, wenn er fordert,
"im Protestantismus geht es in erster Linie darum, das Amt des Pfarrers und vor allem das des Gemeindepfarrers zu stärken",
legt er doch richtigerweise dar,
" ... dass die Kirchenmitglieder die evangelische Kirche in erster Linie über den Pfarrer wahrnehmen."
Als Rabbiner finde ich, dass der Zustand der Glaubensgemeinschaften in unserer Gesellschaft strukturelle Ähnlichkeiten aufweist. Da, wo Geistliche nur noch für Gebiete und nicht mehr für eine Gemeinde zuständig sind, geht es nicht nur mit der Präsenz der Kirche bergab, sondern dort verkommt die Gemeindearbeit.
Es ist die Ausstrahlung des vor Ort tätigen Seelsorgers, des Gelehrten und der anfassbaren Persönlichkeit, die Gemeindeleben ermöglicht - das ist so in protestantischen, in katholischen wie in jüdischen Gemeinden. Aber wird Grafs Argumentation die in der Administration tätigen Überflieger davon überzeugen können, es in Zukunft Basis näher zu machen?
Fast alle von Friedrich Wilhelm Graf als "Untugenden" beschriebenen Phänomene muss man einem kritischen Diskurs über die Position der Religionsgemeinschaften in Deutschland unterwerfen. Aber dazu gehört dann doch weniger Vorurteil und mehr Analyse, wenn´s denn mehr sein soll, als Glosse für die Tageszeitung.
Friedrich Wilhelm Graf: Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen
C.H.Beck Verlag, München 2011.
191 Seiten, 10,95 Euro