Zum Weiterlesen:
Christoph Türcke: "Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns"
C.H. Beck Verlag, München 2021
233 Seiten, 22 Euro
Antje Schrupp: "Schwangerwerdenkönnen"
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach 2019
192 Seiten, 17 Euro
Wie viel Natur steckt im Geschlecht?
47:22 Minuten
Der Konstruktivismus betont die sprachliche Gestaltung unserer sozialen Wirklichkeit – auch der Geschlechterrollen. Der Philosoph Christoph Türcke sieht darin einen gefährlichen "Machbarkeitswahn". Die Politologin Antje Schrupp widerspricht.
"Gender" erhitzt die Gemüter aller Geschlechter, besonders wenn es um trans Personen und das dritte Geschlecht geht. Ist Mannsein oder Frausein naturgegeben, oder sind diese Geschlechter kulturell durch Sprache hervorgebracht worden – und damit veränderbar?
Kritik eines "Machbarkeitswahns"
Diese Annahme einer sprachlich-kulturellen Ausgestaltung von Geschlechterrollen vertritt unter anderem der philosophische Konstruktivismus. Der Philosoph Christoph Türcke erkennt darin einen problematischen "Machbarkeitswahn". In seinem neuen Buch "Natur und Gender" kritisiert er, dass konstruktivistische Denkrichtungen den "Eigensinn der Natur" verleugneten:
"Wahnhaft ist es, wenn man sagt: Die Natur ist nur noch, was wir aus ihr machen. So etwas wie eine Geschlechtsnatur gibt es überhaupt gar nicht. Jeder Mensch erschafft sich – nicht nur in geschlechtlicher, sondern auch in sonstiger Hinsicht – so, wie er will; und ist damit so etwas wie sein eigener Gott", sagt Türcke im Gespräch über den "radikalen Konstruktivismus".
Damit einher gehe die Vorstellung eines Ich, "das in einem Körper nur Wohnung genommen hat: Das Ich hat dann gar keine körperliche, sensorische, motorische, hormonelle Dimension." Darin erkennt Türcke einen alten Dualismus wieder: Die Trennung von Körper und Geist – "und das Verrückte ist, dass die gerade dort auftaucht, wo das Programm ist: Wir müssen vom Binären weg".
Als Beispiele für die von ihm kritisierte Denkrichtung nennt er insbesondere den französischen Philosophen Michel Foucault und Judith Butler, US-amerikanische Ikone der Gender-Theorie. In deren Schriften sieht er eine Reduktion der Natur auf den "Diskurs": "Menschliche Sozialverhältnisse sind im Grunde Niederschläge von Sprechweisen. Da löst sich dann tatsächlich die Natur auf."
Unser Bild von Natur ist veraltet
Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp widerspricht: Im Konstruktivismus gehe es "nicht darum zu sagen, dass die Natur nicht existiert oder dass wir als Menschen nichts vorfinden, sondern die Idee ist, dass wir nichts über die Natur aussagen können, was nicht schon durch unsere eigenen Narrative und Ideen über die Natur geprägt ist."
Schrupp ist überzeugt, dass vielmehr "die traditionelle Geschlechterordnung uns den Blick auf die Natur versperrt." Ein Beispiel dafür sieht sie in der klassischen Darstellung der Fortpflanzung: "Wenn gesagt wird, ‚der Mann zeugt das Kind‘, dann ist das biologisch komplett falsch: Kinder werden gezeugt durch das Zusammenkommen von Eizelle und Sperma. Aber indem wir seit viertausend Jahren diese Geschichte der Reproduktion in einem hierarchischen Verhältnis erzählen, wo das Männliche das Aktive, Schöpferische ist und das Weibliche das Passive, Nährende, haben wir über diese Natur ein Narrativ gelegt, das sachlich falsch ist."
Diese "Erzählungen" von Natur und Biologie hätten dann wiederum handfeste Auswirkungen auf die soziale Wirklichkeit, weil sie "an die Personen, die bestimmte Körper haben, sachlich falsche Anforderungen stellt und ihnen eine soziale Rolle zuweist", so Schrupp. "Und wenn wir sprechen, tragen wir mit unserem Sprechen dazu bei, diese Geschichte zu verändern, und zwar sowohl die Wahrnehmung von Natur, als auch das Hervorbringen von Gesetzen und Institutionen."
Menschen mit und ohne Uterus
Konstruktivismus heißt für sie deshalb vor allem "aktiv" zu sprechen: "Wir überlegen uns, welche Begriffe wir benutzen, welche wir zurückweisen, weil wir sie unpassend finden – und das alles natürlich mit der Absicht, auch andere soziale Verhältnisse hervorzubringen. Aber nicht, um uns von der Natur zu lösen oder ihr irgendwas überzustülpen, sondern um ihr in anderer Weise Realität zu geben."
Ein aktueller Vorschlag, anders über Geschlecht zu sprechen, besteht darin, dessen biologische Grundlage explizit zu machen und von der sozialen Rolle zu trennen – etwa: "Menschen mit Uterus" statt "Frauen". Dadurch zeige sich etwa die Willkür von Ausschlüssen, die mit dem Geschlecht begründet werden: "Wenn ich sage: ‚In der katholischen Kirche können Menschen, die keinen Penis haben, nicht Priester werden‘, dann sieht man sofort, dass es um dieses biologische Kriterium nicht geht bei der Konstruktion von sozialem Geschlecht."
Ist die Zweigeschlechtlichkeit noch zu retten?
Dass die hierarchische Geschlechterordnung überwunden werden muss, steht auch für Christoph Türcke außer Frage, wie er betont. Allerdings sieht er keinen Grund, die Begriffe Mann und Frau selbst über Bord zu werfen: "Die Tatsache, dass die Zweigeschlechtlichkeit jahrtausendelang hierarchisch festgelegt worden ist – der Mann zeugt, die Frau empfängt –, das bedeutet doch nicht, dass man Zweigeschlechtlichkeit nicht auch anders, gleichrangig bestimmen kann. Und von dieser Zweigeschlechtlichkeit kommt die Natur nicht los: Es gäbe keine Artenvielfalt, keine Säugetiere, keine Menschheit, wenn nicht jeweils Samen und Eizellen sich verschmolzen hätten."
Er betont die Bedeutungsoffenheit der klassischen Geschlechterbezeichnungen: "Wenn ich zu Frau Schrupp ‚Frau Schrupp‘ sage, dann denk ich nicht, dass ich sie damit patriarchal reduziert habe, sondern dann habe ich es mit einer Person zu tun, die ihr Frau-Sein antipatriarchal artikuliert; da interessiert mich nicht das Uterale, sondern ich akzentuiere gerade, dass Frausein darauf nicht reduziert ist und dass Geschlechterrollen etwas Gelockertes sind – weil zur menschlichen Spezies eine bestimmte Trieb- und Rollen- und Instinktlockerung gehört, die einerseits zu bestimmten Herrschaftsverhältnissen geführt hat, aber andererseits das Potenzial hat, darüber hinaus zu kommen."
Schrupp allerdings hält die Verknüpfung der traditionellen Geschlechterbezeichnungen mit biologischen Merkmalen und überkommenen sozialen Rollen und Normen für zu tief verankert, als dass man sie als gleichrangig neu bestimmen könne. Vielmehr gehe es darum, zu sagen: "Mit diesem patriarchalen Erbe der binären Hierarchien, die durch Fehlinterpretation der biologischen Prozesse entstanden sind, gehen wir kreativ um und experimentieren mit anderen Formen des geschlechtlichen Ausdrucks."
(ch)
Außerdem in dieser Ausgabe von "Sein und Streit":
Philosophischer Kommentar: Ich will (k)eine Bundeskanzlerin
Wer kann Kanzlerin werden? Der Kreis hat sich erweitert – zum Beispiel um Frauen – aber er ist mit Blick auf die Gesellschaft als Ganze immer noch sehr eng. Daniel Loick denkt darüber nach, warum das so ist, und wie sich das ändern könnte.