Thomas Kistner, "Schuss – Die geheime Doping-Geschichte des Fußballs"
Droemer Verlag
399 Seiten, 19,99 Euro / E-Book, 17,99 €.
Die gedopten Kicker
Fußball eignet sich nicht für Doping? Von wegen, Thomas Kistner belegt in seinem Buch "Schuss – Die geheime Doping-Geschichte des Fußballs" den Einsatz leistungssteigernder Substanzen. Ganz nebenbei erhebt er auch Vorwürfe gegen Meistercoach Pep Guardiola und Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps.
In jeder Disziplin des modernen Hochleistungssports, wo Athleten unter professionellen Bedingungen nach Rekorden und Prämien jagen, wird höchstwahrscheinlich gedopt. So viel steht fest. Im Radsport oder in der Leichtathletik ist die Beweisführung inzwischen in derartig vielen Einzelfällen zweifelsfrei erbracht, dass sogar längst von einem Systemzwang zum Dopen gesprochen werden muss. Vom Doping im Fußball hört und liest man dagegen so gut wie nichts. Die Bilanzen der WM-Turniere 2010 und 2014 weisen, obwohl die Belastungen im Schnellkraft- und Ausdauerbereich in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen sind, keinen einzigen positiv getesteten Spieler auf. Wie kann das sein?
Thomas Kistner lässt sich von solch makellosen Statistiken, die auf Werten basieren, die von FIFA-Ärzten zugeliefert werden, nicht blenden. In "Schuss – Die geheime Doping-Geschichte des Fußballs" präsentiert er eine penibel recherchierte Fülle von Fakten, Daten und Indizien, die gar keinen anderen Schluss zulassen als diesen: Auch der "systemrelevante Milliardenmarkt" Fußball, weltweit von den Massen oft als Religionsersatz zelebriert und geschützt von willfährigen Medien und einem Schweigekartell vieler krimineller Funktionäre, auch "unser" Fußball ist durch und durch vom Medikamentenmissbrauch verseucht.
"Nerven Sie uns nicht länger mit Ihren Kontrollen"
Kistner widerlegt Advokaten des Systems, wie zum Beispiel den ehemaligen deutschen Nationalspieler und ARD-Experten Mehmet Scholl, die behaupten, Fußball sei wegen seiner komplexen Anforderungen in den verschiedensten Bereichen, von Koordination bis Ausdauer, generell nicht anfällig für Doping, weil die Stärkung des einen Bereichs zulasten der anderen gehe. Aber werfen wir doch mal einen Blick auf die Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich: EPO, jenes gefährliche Mittel, das die Anzahl roter Blutkörperchen erhöht, die Sauerstoff aufnehmen und die Ausdauer steigert, hat Hochkonjunktur. Die Tour de France wird vom EPO-Skandal rund um das französische Festina-Team erschüttert. Didier Deschamps führt die Équipe Tricolore am 12. Juli, einen Tag nach dem Start der Tour, im Stade de France als Kapitän im WM-Endspiel zu einem 3:0 Erfolg gegen Brasilien. Deschamps hat damals, wie Thomas Kistner herausgefunden hat, Hämatokritwerte von bis zu 51,9 Prozent. Im Rad- oder Wintersport hätte der heutige Fußball-Nationaltrainer der Franzosen wegen dringendem EPO-Verdacht mit so einem Wert überhaupt nicht mehr an den Start gehen dürfen.
Aus Angst vor späteren Nachtests mit feineren Analysemethoden ordnet die FIFA nach dem Turnier an, sämtliche Blutproben des Pariser Labors zu vernichten. Frankreichs damalige Sportministerin Marie-George Buffet, die das harte französische Antidopinggesetz durchsetzen will, wird von den Medien und der Politik zurückgepfiffen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde nach Kistners Überzeugung damals eine mögliche Aufklärung unterbunden. Der damalige, inzwischen der Korruption überführte FIFA-Chef Havelange verwahrte sich gegen das Engagement der Ministerin: "Madame, wir haben Ihnen die WM gegeben, also nerven Sie uns nicht länger mit Ihren Kontrollen und Ärzten."
Leistungsdruck erhöht die Gefahr
Für Thomas Kistner zeigen nicht nur die Vorfälle um die WM 98 die Struktur eines Doping-Systems im Fußball. Verletzungen werden nicht mehr vernünftig auskuriert. "Wenn der Arzt sagt, der Spieler ist in acht Wochen fit, will ich ihn in sieben Wochen haben", fordert zum Beispiel Bayerns Meistercoach Pep Guardiola, 2005 als Profi in Brescia mit erhöhten Nandrolon-Werten erwischt. Die Pharmaindustrie sei den Kontrolleuren, so Kistner, immer ein paar Schritte voraus; und durch gezieltes "Herandopen" an Grenzwerte falle inzwischen auch bei Tests, die in der Regel sogar noch vorher angekündigt würden, niemand mehr auf. Außerdem könne in Dopingproben nur gefunden werden, wonach auch gesucht werde. Epo- und Wachstumshormontests seien zudem mit rund 1500 Euro pro Test ziemlich teuer. Deswegen werde in Bundesliga auch nicht auf Wachstumshormone getestet.
Ist Doping im Fußball also, nur weil man nichts mehr findet, abgeschafft? Natürlich nicht. Wer Thomas Kistners Buch gelesen hat, erkennt im Fußball einen weiteren "kranken Hochleistungssport und die Geschichte von kranken Sportlern". Die Dopingmentalität greift schon im Jugendbereich, wo systematisch schmerz- und entzündungshemmende Mittel eingesetzt werden, um den Schutzmechanismus des Körpers auszuschalten, der dringend eine Pause einfordert. Bei der U-17 WM, 2011 in Mexiko, haben nach Kistners Informationen 21 von 23 Spielern eines Teams Entzündungshemmer eingenommen. Wer sein Leistungslimit steigern will, muss also nicht mehr unbedingt in "explizit illegale Bereiche" vorstoßen.
Doping hat also auch den Fußball kaputt gemacht, zu diesem Schluss kommt Thomas Kistner in "Schuss – Die geheime Doping-Geschichte des Fußballs". Hoffnung auf Besserung bestehe kaum, solange sich an den bestehenden Verhältnissen, Abhängigkeiten und Strukturen nichts ändere. Thomas Kistner: "Es braucht eine öffentliche Debatte darüber, wie weit es mit medizinethischen Standards vereinbar ist, dass Sportärzte einen Zirkustross am Laufen halten – als Körpermechaniker beim Boxenstopp, die zumindest all die Werkzeuge und Materialien einsetzen, die nicht explizit verboten sind."
Zum Autor: Thomas Kistner, Jahrgang 1958, ist Redakteur der Süddeutschen Zeitung und gilt international als einer der renommiertesten Sportjournalisten. Sein Spiegel-Bestseller "FIFA-Mafia" wurde als Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet.