Kritik am Wissenschaftsbetrieb

Die Vertreibung der Zauberer aus der Universität

Ein Mann schreibt in ein Buch, er sitzt dabei vor einem Stapel von Büchern.
Geisteswissenschaftler seien heute zu sehr darauf fixiert, möglichst viele Aufsätze zu publizieren, kritisiert Bernhard Pörksen. © imago/ Ikon Images
Von Bernhard Pörksen |
Statt echter Erkenntnis zählen die Summe der Fördergelder und die Menge der Fachaufsätze: So verkommen die Geistes- und Sozialwissenschaften, kritisiert Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft. Das habe erhebliche Folgen für den öffentlichen Diskurs.
Manchmal trifft ein Buch den Nerv der Zeit, auch wenn es von einer längst vergangenen Epoche erzählt. Weil wir im Vergangenen die Defizite der Gegenwart erkennen. Weil erst im Kontrast so richtig spürbar wird, was fehlt.
Der Publizist Wolfram Eilenberger hat ein solches Buch geschrieben, das in diesen Tagen die Bestsellerlisten stürmt. Es heißt "Zeit der Zauberer" und erzählt in funkelnden Anekdoten von den Philosophen Martin Heidegger, Ernst Cassirer, Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein.
Wer es liest, der möchte beständig ausrufen: Was waren das für Typen! Was waren das für Eigenbrötler, selbstsüchtige, getriebene und gepeinigte, vor Intelligenz vibrierende, vom eigenen Werk elektrisierte Größenwahnsinnige und Genies!
Und irgendwann bei der Lektüre dieses Buches bemerkt man: Die Beschwörung des existenziellen Philosophierens ist eine kaum verhüllte Anklage. Es ist eine Anklage, die sich an die gegenwärtige universitäre Philosophie und den akademischen Betrieb der Geistes- und Sozialwissenschaften richtet. Sie handelt vom Ausstrahlungs- und Energieverlust des Denkens in Zeiten der Drittmittelhetze und der Dauer-Begutachtung, letztlich von der allmählichen Vertreibung der Zauberer aus den Räumen der Universität.

Zahl der Publikationen zählt mehr als ihr Inhalt

Und tatsächlich, es stimmt ja: Das Leitbild der Universitäten ist heute nicht mehr die Autorenexistenz in Gestalt des wortmächtigen Individualforschers und des reizbaren Intellektuellen, der auf die Synthese des Denkens zielt, seine Ideen in Bücher packt, ein eigenes Werk entfalten möchte.
Als Ideal dient lange schon die Indikatorenexistenz des Wissenschaftsmanagers, der durch gewaltige Drittmittelsummen und die schiere Zahl seiner Fachaufsätze punktet.
Das durchgeschriebene Buch - das Medium der großen These, der umfassenden Perspektive und der gesellschaftlichen Einmischung - wird heute in vielen Disziplinen schrittweise marginalisiert. Was zählt, ist der begutachtete, oft in englischer Sprache verfasste Zeitschriftenaufsatz, der öffentlich so gut wie nie beachtet wird.

Komplexe Gedanken in kleinste Einheiten zerstückelt

Man muss sich deshalb keineswegs in verquerer Nostalgie die Rückkehr der Meisterdenker wünschen und das Buchzeitalter preisen. Das Problem ist ein anderes. Es besteht darin, dass die inzwischen dominanten Anreizsysteme in den Geistes- und Sozialwissenschaften den öffentlichen Debatten systematisch Energie und Substanz entziehen.
Man weiß: Gut 80 Prozent der geisteswissenschaftlichen Aufsätze werden niemals zitiert. Und von denen, die zitiert werden, werden längst nicht alle gelesen. Und man weiß: Die karrierebestimmende Orientierung an der bloßen Zahl der Aufsätze, die jemand verfasst hat, führt - Stichwort Salamitaktik - zur Zerstückelung von Forschungsergebnissen, um mit der kleinsten, gerade noch publizierbaren Einheit die eigene Publikationsliste zu strecken.

Es fehlt der Mut zur intellektuellen Zuspitzung

Der heimliche Lehrplan, der sich hier offenbart, lautet: Vergiss die Inhalte, investiere in Quantität! Und bediene die offiziellen Indikatoren im Dienste eines Selbstmarketings, das Erkenntnishunger lediglich simuliert.
Wie kommt man da raus? Vielleicht müssen die Geistes- und Sozialwissenschaften auf dem Weg zu mehr Relevanz ihre opportunistische Imitation naturwissenschaftlicher Exaktheitsideale ablegen. Vielleicht müssen sie, wie beispielsweise Thea Dorn, Carolin Emcke, Manfred Geier und Rüdiger Sanfranski - allesamt im Übrigen außerhalb der Universität beheimatet - den Mut des Erzählens und die intellektuellen Produktivkräfte der Zuspitzung erst wieder entdecken.
Denn eines ist sicher: Die gegenwärtige Selbstabschottung der Geistes- und Sozialwissenschaften schadet nicht nur diesen selbst. Sie macht auch die öffentliche Welt blasser und ideenärmer.

Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er studierte Germanistik, Journalistik und Biologie in Hamburg. Neben akademischen Arbeiten veröffentlichte er unter anderem gemeinsam mit Hanne Detel das Buch "Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter" (Herbert von Halem Verlag, 2012), sowie "Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung" (Hanser, 2018).

Bernhard Pörksen
© Bild: Peter-Andreas Hassiepen
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