Kritik an europäischer Flüchtlingspolitik

Frank Otfried July im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 14.06.2011
Europa tue zu wenig angesichts der Flüchtlinge aus Libyen, beklagt der Vizepräsident im Lutherischen Weltbund, Frank Otfried July, zum Abschluss des Treffens seiner Organisation in Genf. Europa sei im Umgang mit Flüchtlingen eher populistisch als christlich.
Jan-Christoph Kitzler: Mehr als 43 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Elend, Bürgerkrieg oder Verfolgung. Und das Flüchtlingsdrama hat eine neue Brisanz bekommen: Seit dem Bürgerkrieg in Libyen spielt sich ein neues Drama ab direkt vor der Haustür Europas, mit vielen, die auf der Strecke bleiben. Schätzungsweise 1400 Menschen sind in den vergangenen Monaten auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen auf der Flucht nach Europa. Mit dem Thema Flüchtlinge hat sich in den vergangenen Tagen auch der Lutherische Weltbund beschäftigt bei seiner Ratssitzung in Genf, die heute zu Ende geht. Mit dabei war Frank Otfried July, der Landesbischof von Württemberg und Vizepräsident des Lutherischen Weltbundes. Und als Erstes habe ich ihn gefragt, wie denn seine Vereinigung mit dem komplexen Flüchtlingsthema umgeht?

Frank Otfried July: Es war eindrücklich und einprägsam, dass gleich am ersten Tag ein Mitarbeiter des Flüchtlingskommissariats der UN gesprochen hat, Herr Türk, und man hat auch gemerkt, dass für viele der Mitgliedskirchen das ja ein ganz existenzielles Thema ist. Vielleicht, was auch sehr eindrücklich war, dass wir leider in diesen Tagen die Nachrichten aus dem Sudan bekommen haben, wie die Übergriffe sind, sodass das Flüchtlingsthema und Vertreibung, Flucht und Gewalt wirklich präsent ist.

Kitzler: Das Thema ist sehr, sehr aktuell, und Flüchtlinge aufnehmen, das müsste ja eigentlich nach christlichem Verständnis ein Akt der Nächstenliebe sein. Aber bei uns in Europa, wo viele Regierungen an der Macht sind, die sich auf die christlichen Werte berufen, da erleben wir zurzeit etwas ganz anderes: Europa schottet sich immer mehr ab. Wie christlich ist denn Europa in Ihren Augen?

July: In dieser Frage jedenfalls mehr populistisch als christlich, weil meiner Meinung nach es ja auch nicht nur darum geht, jetzt einfach so ein bisschen Barmherzigkeit zu zeigen – obwohl es was Wunderbares ist, Barmherzigkeit –, sondern es geht darum, auch Rechtsverpflichtungen zu übernehmen. Das hat übrigens der Vertreter der UN sehr deutlich auch gesagt. Und ich finde es bedauernswert, dass man je nach Stimmungslage oder vermeintlicher Stimmungslage dieses Flüchtlingsproblem oft sehr populistisch behandelt. Und da, finde ich, haben wir eine Verpflichtung, auch als lutherische Kirchen darauf hinzuweisen oder überhaupt als christliche Kirchen, dass hier man sich an das christliche Erbe und an die Rechtsverpflichtung erinnern sollte.

Kitzler: Das sieht man ja auch schon an der Wortwahl zum Teil. Also Sie haben ja gerade auch vom Flüchtlingsproblem geredet ...

July: ... Entschuldigung, ja ...

Kitzler: ... manche sehen sogar von der Flüchtlingswelle.

July: Ja.

Kitzler: Tatsächlich, zum Beispiel im Fall Libyen sind 800.000 Menschen nach Angaben des UNHCR im Bürgerkrieg auf der Flucht, haben das Land verlassen, und gerade mal 8000 von denen sind in Europa angekommen.

July: Genau.

Kitzler: Tut Europa nicht zu wenig?

July: Ich glaube, es tut zu wenig. Wir sind beschämt worden etwa von Berichten von Bischöfen aus Afrika, wo der Bischof aus Namibia daran erinnert hat, wie zu Zeiten der Apartheid etwa viele afrikanische Länder Flüchtlinge in ganz großer Zahl aufgenommen haben, obwohl diese Länder ja alles andere als gut ausgestattet waren. Und es sind dann Zahlen, die in die Hunderttausende bis über eine Millionen gingen. Und deswegen muss man schon aufpassen, wie bei uns die Sprache benutzt wird – vielen Dank für Ihren Hinweis vorher noch mal –, dass bei 8000 Flüchtlingen wir nicht von einer Welle reden dürfen. Ich glaube, keiner wird die Schwierigkeiten, die eventuell auftauchen, oder die Herausforderungen wegreden wollen, das muss man sicher auch tun, was für Herausforderungen und Probleme gibt es – jetzt benutze ich das Wort noch mal –, aber das darf nicht als gleichsam ein Schutzwall benutzt werden.

Kitzler: Wie trennen wir denn eigentlich die Flüchtlinge, die jetzt aus ganz konkreten humanitären Gründen zu uns kommen wollen, von den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen, die einfach nur eine bessere Zukunft in Europa erhoffen? Wo ist da die Grenze?

July: Es ist schwierig. Es läuft manchmal ineinander über, und ich meine, das Wort Wirtschaftsflüchtling ist ja auch schon wieder ein Begriff, der jemandem ein Etikett anklebt und von vornherein sagt, du hast unlautere Motive, weil du jetzt nicht aus dem Gefängnis geflohen bist. Ich finde, auch die, die oftmals sehr schwierige Verhältnisse in ihren Ländern haben, haben auch das Recht auf eine persönlich bessere Zukunft. Freilich ist da nicht die Lösung, dass, sagen wir mal, alle in Europa ihren Platz finden können. Da müssen wir aber noch verstärkt daran appellieren, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Herkunftsländern wirklich beachtet und ausgebaut werden. Sonst wird es schwierig.

Kitzler: Wie steht eigentlich der Lutherische Weltbund zum Militäreinsatz in Libyen? Wird da zurzeit in Ihren Augen zu sehr auf militärische Lösungen fokussiert?

July: Also, der Lutherische Weltbund hat das Thema in seinen bisherigen Beratungen noch nicht groß thematisiert. Wir haben gerade die Berichte aus dem Sudan. Aber ich glaube, es wird allen klar, dass solche militärischen Interventionen in der Regel keine Problemlösungen bringen. Wobei man auf der anderen Seite natürlich verzweifelt sieht, wie dann so jemand wie Gaddafi sein eigenes Volk missbraucht. Aber ich erinnere noch mal daran, dass alle die, die immer schnelle Lösungen von Militäreinsätzen sich erhoffen, in der Regel Lügen gestraft wurden.

Kitzler: Brauchen wir nicht letztendlich eh in der Flüchtlingsfrage viel grundsätzlichere Antworten? Die Weltbevölkerung wächst rasant, der Klimawandel wirkt sich immer stärker aus, die Gewalt in vielen Regionen wird auch nicht weniger. – Nur mit dem Aufnehmen der Flüchtlinge ist es ja nicht getan, oder?

July: Nein, ich sage ja auch noch mal: Die Fragen, die den Lutherischen Weltbund hier bewegen – und weil es aus allen Regionen Delegierte sind, ist es sehr existenziell –, die Fragen nach Gerechtigkeit, nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit, die Fragen des Klimawandels bewegen gerade unsere Geschwister aus dem Süden sehr, die Frage der Geschlechtergerechtigkeit ... Das sind alles Themen, die ja nicht nur abstrakt sich aus den Fingern gesaugt werden, sondern die für die Menschen ganz real täglich auf dem Tisch liegen. Und deswegen ist das nicht nur eine Aussage von Schwärmern oder sogenannten Gutmenschen, wie man immer herabsetzend sagt, sondern auch im Interesse einer zukünftigen Politik, wenn wir uns um wirtschaftliche Gerechtigkeit und Balance, wenn wir das als Ziel sehen und daran arbeiten.

Kitzler: Was für ein Signal wird denn von Ihrem Treffen in Genf ausgehen? Wollen Sie mehr Druck ausüben auf die Regierungen?

July: Ja gut, ich meine, der LWB wird sicherlich noch mal deutlich sagen, welche Ziele er hat, nämlich auch ein gerechteres Zusammenleben auf dieser Welt, das ist ein Visionssatz, aber wir wissen beide, dass so Visionen dann nur in kleinen Schritten erreicht werden können. Und ich glaube, für mich war das jetzt eine Erfahrung, wie afrikanische Christen an uns appellieren in manchen Fragen, dass wir da nicht einfach dann, ich wieder nach Stuttgart zurückkehren kann und mich in meinen Sessel setze, sondern mich dann auch im Rahmen der deutschen Kirchen für die Fragen des LWB weiter einsetzen werde.

Kitzler: Frank Otfried July, der Landesbischof von Württemberg und Vizepräsident des Lutherischen Weltbundes, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

July: Ja, ich danke Ihnen auch, wünsche Ihnen einen guten Tag!


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