Kritik im Schnelldurchlauf
Die Kanadierin Lori Waxmann ist Kunstkritikerin und lebt in Chicago. Auf der "documenta" ist sie mit ihrem Projekt "60 wrd/min art critic" (sixty words a minute art critic) vertreten. Dabei macht sie Termine mit Hobbykünstlern und rezensiert innerhalb von 25 Minuten die mitgebrachten Arbeiten.
Die Termine bei Lori Waxman sind zwar bis zum Ende der documenta ausgebucht. Zwei Termine werden aber an jedem ihrer Besuchstage frei gehalten: Wer um 13 Uhr kommt, hat Chancen, das Lori Waxman die mitgebrachte Kunst noch am selben Tag rezensiert.
Hoch über der Karlsaue, in der Straße "Schöne Aussicht" steht ein kleines blaues Holzhäuschen mit einem großen Fenster und zwei Eingängen.
Lori Waxman tritt heraus: 36 Jahre alt, eine zierliche, ungeschminkte Frau mit lockigen Haaren und einem offenen Gesicht.
"Die meisten Leute, die hierher kommen, sind mittleren Alters oder Rentner und allesamt Hobbykünstler. Ich brauche diesen Mix, um geistig in Form zu bleiben und nicht nur im Kreis zu laufen. Ich begebe mich jeden Tag auf neues Terrain."
In New York und Chicago hat Lori Waxman ihr Projekt zuerst ausprobiert, dann aber schnell gemerkt, dass Kunstschaffende nur fernab der Metropolen ein echtes, dringliches Bedürfnis verspüren, dass jemand ihre Kunst professionell beurteilt.
"Die Leute kamen nicht etwa mit drei ausgewählten Werken. Sie haben ihr ganzes Schaffen auf einen Pick-up geladen und sind damit vor die Galerie gefahren, in der ich saß."
Wo immer Lori Waxman in Amerika auftritt, sind Kollegen zur Stelle und beobachten, wie sie innerhalb kurzer Zeit eine Kunstkritik am Laptop schreibt. Auch in Kassel wird der fertige Text ausgedruckt, an die Wand gehängt und einer lokalen Zeitung überlassen. Sie bricht mit der Vorstellung, dass eine gut begründete Kritik nur verfasst werden kann, wenn Raum für Kontemplation gegeben ist man danach reflektierend und zurückgezogen Abstand nehmen kann. Bei ihr geht alles sehr flink.
"Mir geht es um die Anerkennung und die Ermutigung all derer, die Kunst in den Alltag tragen. Natürlich ist die Kunst nicht auf kritische Beurteilungen angewiesen, aber die Kritik macht doch deutlich, dass die künstlerische Praxis für das Leben als Ganzes von Bedeutung ist."
In Knoxville, Tennessee, war eine Besucherin der Aktion "sixty words a minute art critic" in Tränen ausgebrochen. Sie hatte gefällige, figurative Pinseleien mitgebracht, doch ein Bild stach positiv heraus, und nur dieses betrachtete Lori Waxman eingehend.
"Ihr Weinen hat mich sehr verstört. Ich dachte: Oh Gott, ich habe dieser Frau weh getan – und das ist nun wirklich das Allerletzte, was ich möchte. Dabei war sie einfach nur erleichtert, dass sie endlich jemand ernst genommen hatte. Sie spürte, dass meine Kritik ehrlich war, und deshalb musste sie weinen. Diese Erfahrung bleibt für mich ein ganz besonderer Augenblick."
Die Frage, ob sie selber Lieblingskünstler habe, kann und will Lori Waxman nicht beantworten. Es widerspräche schließlich ihrem Prinzip: nämlich alles gleichermaßen offen zu betrachten. Verheiratet ist sie mit Michael Rakowitz. Er hat für die "documenta" Aufsehen erregende Steinplastiken geschaffen, die an die kriegsbedingte Zerstörung von Büchern im Kasseler Fridericianum erinnern wie an die Verwüstung des buddhistischen Kulturerbes im afghanischen Bamyian.
Ihre gemeinsame Tochter ist zweieinhalb Jahre alt. Ein Jahr lang waren die drei unterwegs in London, Istanbul, Jerusalem und Ramallah. Ein nomadisches Künstlerleben, in das Lori Waxman Ruhe bringt, wenn sie zwischendurch Songs von Elvis Costello oder Suzanne Vega singt. Weil Lori Waxman in Chicago arbeitet, stand sie irrtümlicherweise auf der Liste der amerikanischen "documenta"-Teilnehmer. Auf einmal, sagt sie, habe sie begriffen, wie viel ihr ihre kanadische Herkunft bedeute.
"Die bedeutendsten künstlerischen Unternehmungen in Chicago wurden in jüngerer Zeit von Kanadiern gegründet; das 'Shannon Stratton Institute' zum Beispiel, die Galerie 'The three Walls' oder ein Podcast-Projekt mit Hunderten von Künstler-Interviews. Naja, und mich gibt’s schließlich auch noch als Kritikerin der Chicago Tribune. Den Kanadiern geht es um Teilhabe an der Kultur; darum, dass man den Zugang allen offen hält. Das Elitäre liegt unserem künstlerischen Verständnis und unserer Praxis völlig fern."
Mitte September reist Lori Waxman mit ihrer Familie zurück nach Chicago. In die Freude, dann auch wieder eine vertraute Umgebung vorzufinden, mischt sich aber auch Bedauern.
"In den USA ist Kunst etwas für die Oberschicht. In Deutschland ist es das nicht und bei der 'documenta' auf keinen Fall. Eine internationale Ausstellung wie die 'documenta' ist in Amerika nicht möglich. Es gibt dort leider keinen Raum, wo man sich für ein allgemeines Verständnis von Kunst einsetzen könnte. Auch deshalb schreibe ich für eine große Tageszeitung. Dort kann man noch etwas ausprobieren."
Hoch über der Karlsaue, in der Straße "Schöne Aussicht" steht ein kleines blaues Holzhäuschen mit einem großen Fenster und zwei Eingängen.
Lori Waxman tritt heraus: 36 Jahre alt, eine zierliche, ungeschminkte Frau mit lockigen Haaren und einem offenen Gesicht.
"Die meisten Leute, die hierher kommen, sind mittleren Alters oder Rentner und allesamt Hobbykünstler. Ich brauche diesen Mix, um geistig in Form zu bleiben und nicht nur im Kreis zu laufen. Ich begebe mich jeden Tag auf neues Terrain."
In New York und Chicago hat Lori Waxman ihr Projekt zuerst ausprobiert, dann aber schnell gemerkt, dass Kunstschaffende nur fernab der Metropolen ein echtes, dringliches Bedürfnis verspüren, dass jemand ihre Kunst professionell beurteilt.
"Die Leute kamen nicht etwa mit drei ausgewählten Werken. Sie haben ihr ganzes Schaffen auf einen Pick-up geladen und sind damit vor die Galerie gefahren, in der ich saß."
Wo immer Lori Waxman in Amerika auftritt, sind Kollegen zur Stelle und beobachten, wie sie innerhalb kurzer Zeit eine Kunstkritik am Laptop schreibt. Auch in Kassel wird der fertige Text ausgedruckt, an die Wand gehängt und einer lokalen Zeitung überlassen. Sie bricht mit der Vorstellung, dass eine gut begründete Kritik nur verfasst werden kann, wenn Raum für Kontemplation gegeben ist man danach reflektierend und zurückgezogen Abstand nehmen kann. Bei ihr geht alles sehr flink.
"Mir geht es um die Anerkennung und die Ermutigung all derer, die Kunst in den Alltag tragen. Natürlich ist die Kunst nicht auf kritische Beurteilungen angewiesen, aber die Kritik macht doch deutlich, dass die künstlerische Praxis für das Leben als Ganzes von Bedeutung ist."
In Knoxville, Tennessee, war eine Besucherin der Aktion "sixty words a minute art critic" in Tränen ausgebrochen. Sie hatte gefällige, figurative Pinseleien mitgebracht, doch ein Bild stach positiv heraus, und nur dieses betrachtete Lori Waxman eingehend.
"Ihr Weinen hat mich sehr verstört. Ich dachte: Oh Gott, ich habe dieser Frau weh getan – und das ist nun wirklich das Allerletzte, was ich möchte. Dabei war sie einfach nur erleichtert, dass sie endlich jemand ernst genommen hatte. Sie spürte, dass meine Kritik ehrlich war, und deshalb musste sie weinen. Diese Erfahrung bleibt für mich ein ganz besonderer Augenblick."
Die Frage, ob sie selber Lieblingskünstler habe, kann und will Lori Waxman nicht beantworten. Es widerspräche schließlich ihrem Prinzip: nämlich alles gleichermaßen offen zu betrachten. Verheiratet ist sie mit Michael Rakowitz. Er hat für die "documenta" Aufsehen erregende Steinplastiken geschaffen, die an die kriegsbedingte Zerstörung von Büchern im Kasseler Fridericianum erinnern wie an die Verwüstung des buddhistischen Kulturerbes im afghanischen Bamyian.
Ihre gemeinsame Tochter ist zweieinhalb Jahre alt. Ein Jahr lang waren die drei unterwegs in London, Istanbul, Jerusalem und Ramallah. Ein nomadisches Künstlerleben, in das Lori Waxman Ruhe bringt, wenn sie zwischendurch Songs von Elvis Costello oder Suzanne Vega singt. Weil Lori Waxman in Chicago arbeitet, stand sie irrtümlicherweise auf der Liste der amerikanischen "documenta"-Teilnehmer. Auf einmal, sagt sie, habe sie begriffen, wie viel ihr ihre kanadische Herkunft bedeute.
"Die bedeutendsten künstlerischen Unternehmungen in Chicago wurden in jüngerer Zeit von Kanadiern gegründet; das 'Shannon Stratton Institute' zum Beispiel, die Galerie 'The three Walls' oder ein Podcast-Projekt mit Hunderten von Künstler-Interviews. Naja, und mich gibt’s schließlich auch noch als Kritikerin der Chicago Tribune. Den Kanadiern geht es um Teilhabe an der Kultur; darum, dass man den Zugang allen offen hält. Das Elitäre liegt unserem künstlerischen Verständnis und unserer Praxis völlig fern."
Mitte September reist Lori Waxman mit ihrer Familie zurück nach Chicago. In die Freude, dann auch wieder eine vertraute Umgebung vorzufinden, mischt sich aber auch Bedauern.
"In den USA ist Kunst etwas für die Oberschicht. In Deutschland ist es das nicht und bei der 'documenta' auf keinen Fall. Eine internationale Ausstellung wie die 'documenta' ist in Amerika nicht möglich. Es gibt dort leider keinen Raum, wo man sich für ein allgemeines Verständnis von Kunst einsetzen könnte. Auch deshalb schreibe ich für eine große Tageszeitung. Dort kann man noch etwas ausprobieren."