Vielleicht war es die beengende Erfahrung des Lockdowns, die Haruki Murakami in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ zurückkehren ließ. Zu Beginn der Pandemie nahm er sich die gleichnamige Kurzgeschichte noch einmal vor, die er bereits 1980 in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht und 1985 in seinem Roman „Hardboiled Wonderland“ erneut aufgegriffen hatte. Denn noch immer erschien sie ihm unfertig. Er überarbeitete diese Geschichte einer abrupt unterbrochenen und in einer Traumwelt weitergelebten Jugendliebe und erweiterte sie auf wuchtige, wenn auch wie immer geradezu strömende 640 Seiten.
Freud für Anfänger
Alles beginnt damit, dass der zunächst 17-jährige Erzähler ein Mädchen liebt, das nach langen Gesprächen und vielversprechenden Küssen plötzlich verschwindet. Erst in einer halbrealen Stadt mit einer ungewissen, weil sich stetig selbst verschiebenden Mauer findet er sie wieder. Den Zugang zu diesem tiefergelegt wirkenden Ort findet der Junge – wie so oft bei Murakami – durch ein Erdloch. Eingelassen wird er von einem gefährlichen Torwächter. Freud für Anfänger, gleich zu Beginn des Romans.
Dann aber eröffnen sich immer wieder neue, seltsam berückende Räume, in die man nicht nur willig, sondern geradezu aufgeregt folgt. Der Junge wird zum Traumleser in der dortigen Bibliothek, die alte Träume in Eiform bewahrt. Seine verschwundene Freundin ist die Bibliothekarin und überreicht ihm die Träume, auch wenn sie ihren Liebsten nicht wiedererkennt. Diesseitig könnte man diese überaus zarte Episode als Versuch lesen, einem Mädchen nahe zu sein, das in einer schweren Depression steckt.
Ungeheuer produktiv und mit weitem Horizont: Haruki Murakami ist im Ausland der wohl bekannteste japanische Gegenwartsautor. Seine Romane und Erzählungen wie „Wilde Schafsjagd“ oder „Mister Aufziehvogel“ wurden in rund 50 Sprachen übersetzt. Sie tauchen ein ins Japan der vergangenen vier Jahrzehnte. Verlust und Tod, Einsamkeit und Gefühlsunsicherheit spielen eine wichtige Rolle im Alltag der Murakami-Helden. Eine Mischung aus mystischen und realistischen Elementen macht den Reiz vieler seiner Geschichten aus. Am 12. Januar wird der Schriftsteller, der immer wieder auch als Nobelpreiskandidat gehandelt wird, 75 Jahre alt.
Fast wäre auch der Erzähler in diesem einerseits bedeutungsschweren, andererseits ereignislosen Jenseits geblieben, denn sein Schatten wurde ihm genommen, separat einquartiert und immer schwächer. Doch dann zieht ihn just dieser Schatten wieder heraus. So scheint es zumindest zunächst.
Lustlos nimmt der junge Mann sein normales Leben wieder auf, studiert in Tokio und arbeitet viele Jahre lang im Buchhandel. Irgendwann wechselt er an eine dezidiert computerlose Bücherei in der Provinz Fukushima.
Dort befreundet er sich mit einem älteren Herrn, der sich als Geist entpuppt, und mit einem Jungen, den man gemeinhin wohl als Autisten bezeichnen würde. Die Provinzbücherei weist vielfältige Parallelen zur Bibliothek in der ummauerten Stadt auf. Auch der autistische Junge kennt sie, kann einen Jenseits-Stadtplan zeichnen und möchte selbst dort leben.
Einsamkeit, gute Gespräche, Kuchen und Jazz
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ ist ein Roman voll altbekannter Murakami-Elemente: viele einsame Figuren, für die aber gute Gespräche, Kuchen und Jazz immer im richtigen Moment kommen. So wird Weltflucht erträglich. Auch hier ist Murakami mehr Kulissenbauer denn erzählender Verdichter. Mit großzügiger Geste lädt er ein in seine traumverschobenen Räume voll blitzartiger Spiegelungen, wechselseitiger Träume und verdrehter Kausalitäten.
Nach dem eher mauen Doppelroman „Die Ermordung des Commendatore“ gelingt dem inzwischen 75-Jährigen jetzt ein Geflecht aus Rätselräumen, die sich wie selbstverständlich öffnen und einander wechselseitig umfangen. So haben selbst Murakamis skandalöse Redundanzen endlich Sinn, denn sie wirken wie ein meditatives Mantra und schaffen eine Textfläche, die Zeit freiräumt, in der wir uns lesend lockern und den eigenen inneren Wächter alle Tore öffnen lassen.
Die einst unfertige Kurzgeschichte hat in diesem bemerkenswerten Roman eine Heimat gefunden.
Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
Übersetzt von Ursula Gräfe
Dumont, 640 Seiten, 34 Euro
Erscheinungsdatum: 12. Januar 2024