Kritiker widerspricht Faschismus-Vorwurf gegen Krachts Roman

Rainer Moritz im Gespräch mit Joachim Scholl |
Es ist der Feuilleton-Skandal der Woche: Im "Spiegel" wird dem Schriftsteller Christian Kracht attestiert, mit seinem neuen Roman ein "Türsteher der rechten Gedanken" zu sein. Der Literaturkritiker Rainer Moritz hält diesen Vorwurf für unbegründet - er lobt "Imperium" als interessant, komisch und amüsant erzählt.
Joachim Scholl: Der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht, Jahrgang 1966, wurde durch seinen Roman "Faserland" berühmt, seither zählt er zu einer wichtigen, wenngleich stets umstrittenen Stimme deutschsprachiger Literatur. Pop-Ästhetizismus, literarisches Dandytum, Untergangsromantik – an seinen Büchern scheiden sich die Geister. Und jetzt gibt es einen neuen Roman von Christian Kracht, der heute erscheint, "Imperium", und darüber gab es schon vorab mächtig Streit.

Wir klären den Sachverhalt jetzt mit Rainer Moritz, er leitet das Hamburger Literaturhaus, ist unseren Hörern als Kritiker wohlvertraut. Guten Morgen, Herr Moritz!

Rainer Moritz: Einen schönen guten Morgen!

Scholl: Rechtslastig, rassistisch sei das Buch, heißt es im "Spiegel", meisterhaft nennt es dagegen die "Zeit". Bevor wir die Kontroverse um mögliches rechtes Gedankengut beleuchten, wollen wir erst mal den Roman vorstellen, Rainer Moritz. Worum geht es in "Imperium" eigentlich, welche Geschichte wird da erzählt?

Moritz: Es ist eine wahre Geschichte auf den ersten Blick. Man muss vielleicht ein bisschen etwas zum Kontext sagen: Christian Kracht bewegt sich in diesem Roman ganz im Zeitgeist, das heißt, in dieser westeuropäischen Sehnsucht nach dem ursprünglichen, Aussteigerfiguren. Wenn man in Thea Dorn und Richard Wagners Buch "Deutsche Seele", das gerade erschienen ist, den Artikel "Freikörperkultur" beispielsweise sieht, dann sieht man auch hier dieses hohe Interesse für das, was sich um 1900 abgespielt hat, und Christian Kracht hat eine solche real existierende Figur aufgegriffen, einen Apothekengehilfen aus Nürnberg, August Engelhardt.

Er ist damit übrigens keineswegs der Erste, der das getan hat. Vor einem Jahr – das ist ganz interessant, auch für den Literaturbetrieb – hat Marc Buhl einen Roman veröffentlicht, "Das Paradies des August Engelhardt". Den hat damals kaum einer rezensiert, den hat damals kaum einer sich angesehen. Auch Guido Knopp hat fürs Fernsehen die Figur Engelhardts aufgegriffen, und jetzt eben tut Kracht das. Das heißt, er greift diese historische Figur auf.

Engelhardt war Nudist, war Vegetarier, ein Spinner, würde man heute sagen, aber er hat sozusagen seine Ideen, seine Vorstellungen umgesetzt. Er ist ausgewandert – das war ja die Zeit der deutschen Kolonien, und der Roman setzt eben auch im Jahre 1902 ein, als August Engelhardt nach Deutsch-Neuguinea aufbricht, dort von einer reichen Frau eine Insel kauft, Kabakon, wo er eine Kokosnuss-Plantage eröffnet, und er wird dann – deswegen hat man ihn auch immer verspottet als Kokosnuss-Apostel – zu einem, der daran glaubt, dass man sich nur von Kokosnüssen ernähren kann, dass das Heil der Welt in dieser Kokosnuss liegt. Das ging natürlich – wir ahnen es – historisch nicht gut aus. Christian Kracht geht frei um mit dieser Biografie August Engelhardts, das heißt, er erfindet an entscheidenden Stellen Interessantes dazu, aber er folgt erst mal diesem Lebensweg des Mannes, der real 1919 auf dieser Insel Kabakon, als es also mit deutschen Kolonien vorüber war, gestorben ist.

Scholl: Wer erzählt denn diesen Roman?

Moritz: Ja, da hat sich Christian Kracht in der Tat etwas ausgedacht, auch etwas ausgedacht, was von seinen bisherigen Büchern abweicht: Er hat eine Art Thomas-Mann-Verschnitt-Erzähler erfunden, wenn man so sagen möchte. Das heißt, vom ersten Satz an haben wir es mit einem Erzähler zu tun, der auf ironische Distanz zu seinem fränkischen Helden geht, der bewusst altertümlich seine Sprache setzt, der hart mit Konjunktiven arbeitet, der also bewusst altmodisch agiert und immer – an manchen Stellen kann man herauslesen, dass dieser Erzähler durchaus in der Gegenwart, also in unserer heutigen Zeit lebt – aber er tut so, als tauchte er auch sprachlich noch mal in diese Zeit des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts ein. Das heißt, das ist also eine Szenerie, die ganz bewusst sich auch auf Distanz begibt. Das ist ganz wichtig auch für die Interpretation des Romans.

Scholl: Ich lese mal einen Satz vor, den ersten Satz, um das sozusagen zu erhellen, dieser Thomas-Mann-Stil wird hier, glaube ich, sehr schön deutlich. Da heißt es also: "Unter den langen, weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament, da war erst ein lang gedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zu Mittag, und ein malayischer Boy schritt sanftfüßig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamem Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem üppigen Frühstück wieder eingeschlafen waren." Zitat Ende, und dann folgt eine ebenso üppige Schilderung der Frühstücksköstlichkeiten. Da wetterleuchtet natürlich Thomas Mann, da denkt man, man sei im "Tod in Venedig". Das Buch macht durchweg einen sehr literarischen Eindruck, Herr Moritz, also da schneien so viele Anspielungen noch zusätzlich hinein: Hermann Hesse, Joseph Conrad, sogar Charles Dickens, bis hin zu Comicfiguren. Das ist für Christian Kracht aber auch ein neuer Stil, nicht wahr?

Moritz: Es ist stilistisch auf jeden Fall neu, da gebe ich Ihnen recht. Wir haben es ja gerade an dem Beispiel gehört, wie einer da versucht, sozusagen noch mal einen altmodischen auktorialen Erzähler in Szene zu setzen. Es ist, was die Technik angeht – Sie haben die Verweise auf die Weltliteratur angesprochen –, da ist dieser Roman wirklich reich gesegnet, und es macht durchaus auch Freude, da die eine oder andere Spur zu finden. Hermann Hesse kehrt übrigens auch in einer Szene noch mal auf die Bühne zurück. Nein, das ist die eine Sache, das hat aber Christian Kracht immer schon, auch in früheren Büchern, gemacht. Auch Romane wie "1979" waren gespickt von literarischen Anspielungen, das hat ihn ja auch bei Literaturwissenschaftlern und bei manchen Literaturkritikern so populär gemacht, dass das immer schon als Ausweis von Qualität gesehen worden ist, dass da einer sozusagen auf Du und Du mit der Weltliteratur ist, und in einer Art postmodernem Spiel versucht, alles einzubauen – hier jetzt, und das ist in der Tat das Neue eben, durch eine andere Erzählerfigur, die sozusagen versucht, mit diesem August Engelhardt umzugehen, indem er ihn als komischen Helden kennzeichnet.

Scholl: "Imperium" – heute erscheint der neue Roman von Christian Kracht. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Kritiker Rainer Moritz. Kommen wir jetzt mal zum Streit – und da geht es natürlich um das Thema des Buches: Es stecken ja mächtige Komplexe von weißer Herrschaft, Rassismus und Welteroberung von vornherein im Stoff, und wer zu Wochenbeginn den "Spiegel" aufschlug, konnte einen langen vierseitigen Essay des Kritikers und Autors Georg Diez lesen, der mit großem Furor den Roman von Christian Kracht mitsamt dem Autor in die rechte Tonne trat. Diez nennt Kracht den "Céline seiner Generation" in Anspielung auf den beinharten Antisemiten, den französischen Autor Louis-Ferdinand Céline, und einen "Türsteher der rechten Gedanken". Daraufhin erhob sich ein Chor empörter Stimmen. Herr Moritz, zunächst: Wie begründet denn der Kollege Diez seine Attacke? Was ist denn so "rechts" an diesem Roman und an dem Autor?

Moritz: Ja, wenn ich das nur wüsste, Herr Scholl. Nein, Georg Diez gibt sich alle Mühe sozusagen, er schlägt Umwege ein – es ist ja ein sehr langer Artikel und ein Artikel, bei dem man natürlich sofort den Verdacht hat, hier soll bewusst ein Streit inszeniert werden. Das ist ja leider im Literaturbetrieb gang und gäbe geworden, dass man versucht, künstlich hier auch Streite zu entfachen. Ich glaube aber, man muss zwei Dinge unterscheiden, auch in der Argumentation von Georg Diez. Er spricht über den Roman, tut dies ausgesprochen kurz und knapp, zitiert ein paar Stellen süffisant, er umgeht völlig diese ironische Distanz, über die wir gerade gesprochen haben, diesen Thomas-Mann-Duktus, der sich von dieser Figur August Engelhardt distanziert, und geht dann über auf die Figur Christian Kracht, vor allem auf einen E-Mail-Briefwechsel, der im letzten Jahr erschienen ist – also man hätte da vielleicht ein Jahr früher auch schon agieren können –, den Christian Kracht mit dem amerikanischen Dirigenten, Musiker David Woodard geführt hat.

Aus diesem E-Mail-Wechsel zitiert dann Georg Diez Gedanken, die in der Tat teilweise abstrus erscheinen, die merkwürdig sind. Es geht um das Interesse für eine deutsche Kolonie in Paraguay, aber das hat, und das muss man ganz deutlich sagen, mit dem Roman sehr, sehr wenig zu tun, und deswegen hat diese Kritik – und sie ist ja deswegen auch von vielen anderen Kritikern… sozusagen, mit Unverständnis ist darauf reagiert worden –, das hat mit Christian Krachts Roman "Imperium" fast nichts zu tun. Denn dem Roman rechtslastiges Gedankengut anzulasten, das gibt die Geschichte nicht her, und das ist letztlich auch eine literaturkritisch merkwürdige Argumentationsweise, wenn man gar nicht auf die Erzählweise des Romans eingeht.

Scholl: Nun ja, und nun könnte man sagen, es ist ein bisschen biografische Philologie. Das wird ja auch in der Wissenschaft gemacht: Der Autor hat dieses und jenes gesagt, und dann gucken wir mal, was in den Romanen sich finden lässt. Ich meine, dieser E-Mail-Austausch mit jenem Woodard, der ist ja schon ein dubioser Freak mit einem rechten Nazihau, der ist letztes Jahr auf Deutsch veröffentlicht worden – sie sagten es schon, in einem kleinen Verlag, kaum jemand hat das damals registriert. Sie haben sich den Band besorgt, Herr Moritz. Lässt sich denn nicht vielleicht doch sozusagen so ein biografisch-philologisches, ideologisches Unterfutter für den Roman daraus schneidern?

Moritz: Also man kann zumindest die Figur Christian Kracht aus dieser Ecke angreifen, das ist gar keine Frage. Kracht, Sie haben es am Anfang ja erwähnt, ist immer schon eine umstrittene Figur gewesen. Er hat immer diese Dandy-Attitüde vor sich hergetragen, er hat immer etwas getan, und das ist natürlich auch in diesem Roman, in dem neuen Roman wieder der Fall, er hat immer ästhetische Positionen auf historische Positionen übertragen. Das geht in der Literaturgeschichte meistens schief, weil dadurch sozusagen die historische Gegenwart, die Zeitgeschichte in ein merkwürdiges Licht gerät. Das heißt, man hat ihm immer wieder vorgeworfen, dass er – in "1979" war das der Fall als ein Roman, der in Teheran spielt –, der habe mit der historischen Realität herzlich wenig zu tun.

Also das ist durchaus legitim, die Figur Christian Kracht anzugreifen, wobei, ich habe gestern Abend noch in diesem Band längere Passagen gelesen, die Zitate, die Georg Diez anführt, sind alle fast aus dem sehr, sehr frühen Teil dieses E-Mail-Wechsels. Also ich habe das Gefühl, auch da wurde fleißig gesucht, um missliebige Stellen herauszufinden. Dass man über David Woodard – das ist in der Tat eine merkwürdige Figur – viel sagen kann, ist völlig in Ordnung, aber ich halte es nicht für legitim, deswegen "Imperium", diesen neuen Roman, den ich auch nicht für ein Meisterwerk halte, plötzlich in diese Ecke zu stellen und ihm rassistisches Gedankengut vorzuwerfen. Da hat der Verlag Kiepenheuer und Witsch, glaube ich, zu Recht scharf reagiert.

Scholl: Hat scharf reagiert, eine Erklärung veröffentlicht, möchte Wiedergutmachung im "Spiegel", der Autor selbst hat jetzt verärgert seine Buchpremiere abgesagt. Immerhin war das Deutsche Theater in Berlin ausverkauft für die nächste Woche. Christian Kracht möchte jetzt nicht kommen. Sie sagten schon, Herr Moritz, Sie finden es kein Meisterwerk. Ich wollte Ihnen die Gretchenfrage stellen: Ist es jetzt ein gutes, ein wichtiges Buch, das wir unbedingt lesen sollten?

Moritz: Also es ist zumindest ein Buch, das sehr amüsant erzählt. Christian Kracht ist in diesem Buch auch ein komischer Erzähler. Es gibt sehr viele Stellen, die ausgesprochen gelungen sind. Er hat sich auch, wie gesagt – ich habe es am Anfang angesprochen – Interessantes ausgedacht, wie er das Leben von August Engelhardt verlängert. Der stirbt nämlich im Roman erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Amerikaner spüren ihn quasi auf einer anderen Insel auf, und machen ihn mit dem neuen Imperium bekannt, das heißt, er bekommt plötzlich Hot Dogs zu essen und hört amerikanische Musik, da gibt es sehr, sehr viele Stellen. Interessant an diesem Roman – und das macht ihn, glaube ich, dann doch lesenswert, auch wenn er wie gesagt auch viele schwache Stellen hat – ist: Warum erzählt er diese Geschichte von August Engelhardt?

Und da gibt es in der Tat, könnte man ganz anders als Georg Diez im "Spiegel" argumentieren, er tut dies, um August Engelhardt, wie es einmal heißt, dessen Antizivilisationshaltung als Schritt zurück in die exquisiteste Barbarei – heißt es an einer Stelle – zu zeichnen, das heißt, als Vorläufer auf das, was der Nationalsozialismus dann gebracht hat. Das ist eine ganz andere Lesart, als sie Georg Diez vorführt. Die Art und Weise, wie dann Hitler als Nebenfigur auftaucht, als ein Mann mit absurder schwarzer Zahnbürste unter der Nase, das ist nun wenig originell und das sind sicherlich nicht die stärksten Passagen dieses Buches, aber wie gesagt, man kann den Roman ganz anders lesen, als es Georg Diez im "Spiegel" getan hat.

Scholl: Danke Ihnen! Rainer Moritz war das, der Kritiker und Leiter des Literaturhauses Hamburg zu "Imperium", dem neuen Roman von Christian Kracht, und zum Streit darüber. Heute erscheint das Buch im Kiepenheuer und Witsch Verlag mit 256 Seiten zum Preis von 18,99 Euro.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Georg Diez
Georg Diez© dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Mehr zum Thema