Kritische Infrastruktur

Das wirtschaftliche Rückgrat unserer Gesellschaft

30:26 Minuten
Atemmasken der Firma Moldex werden auf einem Band transportiert.
In der Coronakrise wurden Atemmasken kurzfristig knapp: Auch Unternehmen, die sie herstellen, gehören zur kritischen Infrastruktur. © picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow
Von Caspar Dohmen |
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In der Pandemie hat sich die Sicht auf das, was als unentbehrlicher Bestandteil der staatlichen Daseinsvorsorge gilt, geändert. Plötzlich gehören auch Atemmasken oder Penicillin "Made in Europe" dazu. Was muss der Staat vorhalten und was nicht?
"Nach der Blockade des Suezkanals durch ein querstehendes Containerschiff sind Reedereien weltweit alarmiert." – Wie wichtig Infrastrukturen sind, merken wir, wenn sie blockiert sind oder marode und nur noch eingeschränkt genutzt werden können wie die Autobahnbrücke über den Rhein zwischen Leverkusen und Köln: "Seit 2018 wird diese schon parallel zur alten maroden Brücke gebaut."
Oder wenn sie gezielt angegriffen werden, so wie vergangenes Jahr die Uniklinik Düsseldorf. "Seit einer Woche ist das Computersystem dort lahmgelegt, Telefone, Emails, Zugriff auf Patientendaten, es ging fast nichts."
Infrastruktur erscheint in den Nachrichten oft als etwas Abstraktes – wie das BIP oder die Außenhandelsbilanz: etwas, mit dem man nur mittelbar zu tun hat. Tatsächlich ist sie aber das sehr konkrete, fast physische Grundgerüst der Gesellschaft. In welchem Zustand sie ist, ob man ausreichend in sie investiert hat, entscheidet maßgeblich darüber, wie ein Land funktioniert.
In der Coronakrise erleben viele Bürger, was es bedeutet, wenn Infrastrukturen vernachlässigt worden sind, ob Schulen oder der Breitbandausbau. Auch die anfänglichen Mängel bei der Maskenversorgung und das internationale Ringen um die Impfstoffe werfen Fragen auf.

Muss man das, was als kritische, als unverzichtbare und von einer Gesellschaft vorzuhaltende Infrastruktur gilt, nicht weiter fassen, als der Gesetzgeber dies bisher macht? Muss sie auch eine heimische Produktion lebenswichtiger Güter umfassen, Penicillin oder Atemschutzmasken etwa? Braucht man eine nationale Fluggesellschaft, um Bürger in Krisenzeiten aus dem Ausland zurückholen zu können? Wie steht es um Bahnnetze, Stromtrassen oder Häfen? Was ist mit Technologieschmieden? Sollte man sie als eine Art kritische Infrastruktur für unsere Volkswirtschaft ansehen und deswegen schützen, etwa vor dem Verkauf an ausländische Investoren?
Die Kölner Seite der Baustelle der neuen Brücke der Autobahn A1 über den Rhein. Die neue Leverkusener Brücke soll nach Fertigstellung die jetzt bestehende marode Brücke ersetzen. (Luftaufnahme mit Drohne)
Die Rheinbrücke bei Leverkusen ist so marode, dass Lkw sie nicht mehr nutzen durften. Nun wir daneben eine neue gebaut.© picture alliance / dpa / Henning Kaiser

Vernachlässigung der Infrastruktur

Man kann die deutsche Geschichte auch als einen fortwährenden Ausbau der Infrastruktur lesen:
1839 - die erste Fernstraße: zwischen Leipzig und Dresden
1855 – das erste Volksbad: in Hamburg
1891 - die erste Starkstromleitung: zwischen Laufen am Neckar und Frankfurt am Main
1932 – die erste Autobahn: zwischen Köln und Bonn
1992 - das erste Mobilfunknetz.
2011 – der erste Offshore-Windpark vor Borkum
"Ich habe früher in Gerlingen gewohnt, ist bei Stuttgart. Das ist übrigens eine der reichsten Gemeinden Deutschlands gewesen. Dort gab es in der Nähe ein Naturfreibad. Das war ein Freibad, das von einem normalen Bach gespeist worden ist, ganz schön, Krummbachtal oder so hieß das. Plötzlich war in dieser Gemeinde dieses Freibad nicht mehr zu finanzieren. Eine der reichsten Gemeinden konnte dieses Freibad nicht mehr finanzieren. Es wurde in den 80er-Jahren eine Reihe von Bädern, an denen ist mir das damals aufgefallen, geschlossen. Obwohl wir eines der reichsten Länder der Welt sind, konnten wir bestimmte Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten, die für die Versorgung der Bevölkerung irgendwann entstanden sind, gut waren – ob das jetzt ein Hallenbad war, eine Sporthalle, eine öffentliche Einrichtung sonstiger Art. Plötzlich wurde das alles infrage gestellt."
Klaus Ernst, gelernter Elektromechaniker, Gewerkschafter, Mitbegründer der Linken – heute Abgeordneter im Deutschen Bundestag und dort Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses.
Eigentlich sollte man denken, dass eine Gesellschaft alles dafür tut, um notwendige Infrastrukturen aufzubauen und vorhandene zu pflegen. So wie es Deutschland etwa in der Gründerzeit tat oder nach dem Zweiten Weltkrieg – oder nach der Wiedervereinigung beim "Aufbau Ost". Wobei es damals schon parallel dazu einen "Verschleiß West" gab. Denn das neoliberale Paradigma vom schlanken Staat war nun eine dominante Vorstellung. Klaus Ernst war damals Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Schweinfurt und Aufsichtsrat von Porsche.
"Es wurde ja so getan, als wäre es zwangsläufig notwendig, aufgrund internationaler Konkurrenz. Wir wären sonst nicht mehr als bundesrepublikanischer Industriestandort – also Wirtschaftsstandort – in der Lage, uns zu behaupten, wenn wir nicht Kosten dramatisch reduzieren für all die Dinge, die öffentlich waren."

Mantra vom schlanken Staat

Ab Anfang der 2010er-Jahre waren die Folgen davon unübersehbar: Schlaglöcher, undichte Schuldächer, verschlissene Eisenbahnnetze und marode Brücken.
Auch beim Aufbau neuer Infrastrukturen patzte das Land. Ein flächendeckendes schnelles Internet – bis heute Fehlanzeige. Ebenso wie eine umfassende Digitalisierung von Schulen und Verwaltungen.
Das rächt sich in der Pandemie und verschärft die Ungleichheit. Denn gerade Menschen mit geringerem und mittlerem Einkommen sind auf funktionierende Infrastrukturen angewiesen.
"Denn es ist ja so, ich bleibe beim Freibad, da muss man halt mal gucken: Der sein Swimmingpool vorm Haus hat, der braucht kein öffentliches Freibad, der will vielleicht auch nicht dafür zahlen. Das ist der Grund, warum sich das dramatisch verschlechtert", sagt Klaus Ernst.

Aber selbst Reiche können sich kein privates Mobilfunknetz bauen oder ein schnelles Eisenbahnnetz. Doch die Verfechter des schlanken Staates sahen sich insofern bestätigt, als deutsche Unternehmen ja auf den Weltmärkten erfolgreich blieben.
Doch dafür gibt es auch andere Gründe: So profitieren deutsche Unternehmen beispielsweise von dem niedrigen Eurokurs. Vor allem aber fertigen sie Produkte, die weltweit wegen ihrer Qualität gefragt sind und bei denen der Preis deswegen nur eine geringe Rolle spielt.
Im Bild ist Klaus Ernst DIE LINKE während der Sitzung des deutschen Bundestags zu sehen.
In die Infrastruktur in Deutschland wurden nicht ausreichend investiert, kritisiert der Linken-Parlamentarier Klaus Ernst.© Imago / Christian Spicker

Verschleiß von Infrastruktur belastet Wirtschaft

Allerdings ist der Verschleiß der Infrastruktur längst auch eine Belastung für die hiesige Wirtschaft. Zwei von drei Unternehmen sahen 2018 laut Institut der Deutschen Wirtschaft ihre betrieblichen Geschäftsabläufe dadurch beeinträchtigt. Der Zustand stört auch ausländische Investoren. So kritisierten 2021 US-Konzerne die mangelhafte Versorgung mit schnellem Internet in Deutschland.
Das Problem ist akut und der Nachholbedarf immens. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft und das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie schlugen 2019 sogar gemeinsam ein großes Investitionsprogramm vor.
Zehn Jahre lang solle – so ihr Ratschlag – der deutsche Staat jedes Jahr zusätzlich 46 Milliarden Euro investieren. Für kommunale Infrastruktur, Bildung, Wohnungsbau, Breitband und Verkehr und die Dekarbonisierung der Wirtschaft.
Geld alleine reiche nicht, um die Infrastrukturen am Laufen zu halten, schrieb die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in ihrem Memorandum 2020.
"Ein leistungsfähiger Staat braucht Investitionen und Personal. Wenn Investitionen der erste Pfeiler für ein leistungsfähiges Gemeinwesen sind, dann ist das Personal der zweite Pfeiler. Es fängt an bei den Planungskapazitäten, die bei den Kommunen eingespart wurden und heute fehlen. Beim Personal für Bildung und Forschung geht es weiter. Auch in der Gesundheitsversorgung und der Pflege nutzen reine Investitionsmittel gar nichts."
Laut Deutschem Beamtenbund fehlen mehr als 300.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst.

Den Kommunen fehlte das Geld

Deutschland ist kein Einzelfall. Andere knauserten ebenfalls bei öffentlichen Investitionen. Hatten die Industrieländer in den 1990er-Jahren laut dem Internationalen Währungsfonds dafür noch 2,4 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts ausgegeben, waren es 2010 nur noch zwei Prozent – ein historisches Tief.
"In Deutschland war dieser Trend noch einmal besonders extrem. Obwohl Deutschland eigentlich wirtschaftlich in den letzten Jahrzehnten sehr gut dastand, ist hier die Infrastruktur besonders vernachlässigt worden."
Leon Wansleben leitet die Arbeitsgruppe zu öffentlichen Finanzen und Verschuldung am Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung.
"Das können wir gerade bei den Kommunen sehen. Die Kommunen sind in Deutschland eigentlich traditionell die wesentlichen Träger öffentlicher Investitionen – und da kann man wirklich sehen: Seit den 90er-Jahren ein dramatischer Rückgang öffentlicher Investitionen."
Den Kommunen fehlte das Geld. Sie nahmen zu wenig ein und mussten gleichzeitig neue Aufgaben übernehmen. Viele leben seit Jahrzehnten auf Pump – ein Teufelskreis. Denn Schulden senken den Spielraum für Investitionen. Das zeigt ein Vergleich: Bayerische Kommunen standen vor der Pandemie mit einer durchschnittlichen Pro-Kopf-Verschuldung von 867 Euro je Einwohner vergleichsweise gut da und investierten jährlich pro Kopf 812 Euro.
Dagegen standen Kommunen aus dem Saarland mit 3.419 Euro pro Kopf in der Kreide. Sie investierten je Einwohner nur 287 Euro, weniger als die Hälfte der bayerischen Kommunen.
Gleichzeitig steigt der Bedarf weiter. Soziologe Leon Wansleben:
"Es geht sowohl um einen Bedarf, der sich speziell auf Zukunftsthemen bezieht, also digitale Infrastruktur: Wie können persönliche Daten, also von der Krankenakte bis zu den Schulzeugnissen, digital, aber sicher verfügbar gemacht und verwaltet werden? Als auch natürlich traditionelle Infrastrukturthemen: Wenn die Straßeninfrastruktur nicht mehr funktioniert, wenn, wie im Norden Englands, jeder zweite Zug ausfällt, dann wird das irgendwie ein Thema. Da denke ich auf jeden Fall, dass das irgendwie einen Nerv der Zeit trifft."
Auch Schwellenländer haben ihre Ausgaben für Infrastruktur – gemessen am Anteil am Bruttoinlandsprodukt – gesenkt. Außer China: Der rasante Ausbau der Infrastruktur ist eine Ursache für die zunehmende wirtschaftliche Stärke des Landes.

Ein neuer Blick auf Infrastruktur

Eine kleine Fabrikhalle in einem Gewerbehof in Berlin Reinickendorf. In Halle 7 läuft von großen Rollen Vlies in Maschinen. Sie stanzen automatisch jede Maske aus, formen sie, versehen sie mit Tragegummis und stempeln den Firmennamen "Your Mask" auf. Mehr als 100.000 Mal am Tag.
Geschäftsführer Matay Erdinc hat den Betrieb binnen weniger Monate mit seinen beiden Brüdern aus dem Boden gestampft.
"Die Entscheidung haben wir definitiv letztes Jahr im April gefällt und haben dann bis Anfang Dezember gebraucht, bis dann wirklich die Produktion angelaufen ist. Wir betreiben das ganze Vorhaben. Wir wollen es möglichst automatisiert machen. Das dient dazu, dass wir möglichst konkurrenzfähig bleiben mit China."
Von der globalen Arbeitsteilung profitieren viele Menschen. Die wechselseitige Abhängigkeit der Akteure kann zudem Frieden stiftend wirken – eine wichtige Folge des Freihandels. Aber Abhängigkeiten von anderen können auch gefährlich werden, wie wir in der Pandemie gelernt haben.

Wenn die Lieferketten reißen

Vor der Pandemie importierte Deutschland Atemschutzmasken – fast ausschließlich aus Asien. Das ist billiger. Aber was nutzt das, wenn die Lieferketten reißen, wie im Frühjahr 2020 – und es plötzlich an Desinfektionsmitteln, Penicillin, Bauteilen für die Industrie und eben Masken fehlt.
"Wirtschaftliche Ausfallrisiken gibt es in jedem Lieferantennetzwerk", sagt Gabriel Felbermayr. Er leitet das Kieler Institut für Weltwirtschaft.
"Es kann immer ein wichtiger Lieferant pleitegehen, ob der nun jetzt in China sitzt, in den USA oder in Bayern. Es kann immer auch technische Probleme geben – und wenn man jetzt sozusagen einfach nur die Produktion näher heranholt, heißt das noch nicht, dass damit die Resilienz verbessert ist. Aber es gibt eben auch das Thema politische Risiken, und hier sind die Sorgen in den letzten Jahren deutlich gestiegen, dass sich wichtige Handelspartner, China zum Beispiel oder auch die USA, in einer Krise nicht kooperativ verhalten, dass sie also sagen könnten, bestimmte Wirkstoffe für bestimmte Medikamente behalten wir uns in einer gesundheitlichen Notlage selber. Dann hätten Europa und Deutschland ein Problem. Und es sind eher diese veränderten politischen Risikobewertungen, die dazu führen könnten, dass man sagt, bestimmte Dinge wie Penicillin müssen wir in bestimmtem hinreichend großen Ausmaßen in Europa produzieren können, weil wir uns sonst verletzlich machen."

Zunehmender Protektionismus und Nationalismus

So gibt es in der EU nur noch eine Fabrik, die Antibiotika komplett herstellt, vom Wirkstoff bis zur Tablette. Was würde geschehen, wenn in einem Konfliktfall asiatische Hersteller die Lieferung des Wirkstoffes einstellten? In der Pandemie gibt es ja sogar Zwist zwischen der EU, Großbritannien und den USA wegen des Exportes von Impfstoffen. Künftig sollte und könnte Europa diese medizinische Infrastruktur vorhalten. Linken-Politiker Klaus Ernst:
"Man kann sich die Welt nicht schönreden und einfach so weitermachen wie bisher, sondern man muss daraus den Schluss ziehen zu definieren, welche Dinge wir selber machen wollen, wo wir selber Kompetenzen und auch Zukunftsperspektiven haben wollen. Das muss man definieren. Das macht der Markt aber nicht von selber, sondern da muss man tatsächlich Strategien entwickeln, eingreifen, um da eine bestimmte Entwicklung nicht zu verschlafen und vor allen Dingen die Bevölkerung bei uns in Europa entsprechend darauf vorzubereiten und auch deren ökonomische Überlebensfähigkeit sozusagen zu sichern."

Deutschland tut sich schwer, auf den zunehmenden Nationalismus und Protektionismus der USA und Chinas zu reagieren. Europas größte Volkswirtschaft hat blendend von den liberalisierten Weltmärkten gelebt, trotz der andauernden Kritik an seinen hohen Außenhandelsüberschüssen. Und auch daheim war man dem Freihandel treu, etwa beim Verkauf heimischer Infrastrukturen.
So durften 2010 Unternehmen aus Belgien, den Niederlanden und Finanzinvestoren deutsche Stromnetze kaufen. Die Idee einer Deutschland AG für das Netz wurde nicht umgesetzt.
Man musste dabei allerdings lernen, dass Investoren ihre Beteiligungen auch wieder verkaufen können. So stand 2018 plötzlich ein chinesischer Staatskonzern vor dem Einstieg bei dem ostdeutschem Netzbetreiber 50Hertz.
Ein Arzt zieht in einer Hausarztpraxis eine Spritze mit dem Impfstoff von Pfizer/Biontech auf.
Impfstoff wurde in der Coronakrise zum begehrten Gut. Manche Länder belegten es mit einer Ausfuhrsperre.© picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow

Keine Marktkonkurrenz bei Netzen

Dass ein anderer Staat jetzt den Stromschalter für Deutschland in der Hand halten sollte, war nicht vorgesehen. Das Bundeswirtschaftsministerium zog die Notbremse und machte Sicherheitsbedenken geltend. Der Staat stieg über die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau mit 20 Prozent bei 50Hertz ein.
In vielen Ländern lief es ähnlich. Netze, die früher zur öffentlichen Daseinsvorsorge zählten, wurden privatisiert. Dabei stellen sogenannte Netzwerkökonomien eigentlich natürliche Monopole dar. Der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister schreibt dazu in seinem Buch "Der Weg zur Prosperität":
"Da jeweils nur ein Eisenbahn-, U-Bahn-, Strom-, Gas-, Wasserleitungs- und Kanalisationsnetz existiert, kann es keine Marktkonkurrenz geben. Man kann höchstens Betreiber und Benutzer des Netzes trennen und zwischen Letzterem Marktbedingungen simulieren. Werden Bereiche der Daseinsvorsorge privatisiert, wird der Konflikt zwischen privatem Gewinn und sozialem Gewinn (Gemeinwohl) offensichtlich: Aufgrund des Versorgungsauftrages und der mangelhaften Konkurrenz kann das Unternehmen die Tarife seiner Dienstleistungen oder die Gehälter der Beschäftigten nicht frei gestalten. Die Hauptquelle von zusätzlichem Profit wird daher die Konzentration auf lukrative Strecken und das Sparen an der Infrastruktur (also am Netz selbst)."

Chinas "Neue Seidenstraße"

Zudem fungiert der Besitz oder Bau von Infrastrukturen mittlerweile auch als Hebel für die Durchsetzung nationaler Interessen. Bestes Beispiel ist die Belt and Road Initiative Chinas – bekannt als "Neue Seidenstraße".
Über Tausende Kilometer, über Wasser und über Land werden Handelskorridore nach Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa ausgebaut: Schienenwege, Pipelines, Stromleitungen, Containerterminals und Häfen. China gibt anderen Ländern Kredit für den Aufbau der Infrastrukturen, knüpft dies aber an harte Bedingungen.
Der Containerhafen von Piräus. Wie Bauklötze stapeln sich grüne, graue, blaue und silberne Standardcontainer mit den Schriftzügen der großen Reedereien: Evergreen, Italia, Hapag Lyold, Maersk oder Cosco. Seit 2010 betreibt der chinesische Staatskonzern Cosco den Hafen. Zum Zuge kam er in der Eurokrise.
"Da wurde ja Griechenland gezwungen, Tafelsilber zu verkaufen", sagt Klaus Ernst. Auf Druck der EU verkaufte Griechenland den Hafen in öffentlicher Hand. Für China ist der Hafen ein wichtiger Bauteil in seiner Strategie. Aber die Belt and Road Initiative umfasst sagenhafte 2500 Einzelprojekte. Das bisher teuerste Projekt in Europa: eine 350 Kilometer lange Bahnlinie von Budapest nach Belgrad.

Infrastruktur und politischer Einfluss

Der Chef des Hafens von Piräus ist Captain Fu. Er diente in der Luftwaffe, war Kapitän, arbeitete als Manager in Italien und führt seit 2010 für den chinesischen Staatskonzern den wichtigsten griechischen Hafen.
Sie seien Geschäftsleute und keine Politiker, sagt er, und das sagt auch seine Regierung immer wieder. Aber natürlich ist das ganze Projekt so angelegt, dass der chinesische Staat und die KP mit im Boot sitzen und damit die Lebensadern ganzer Volkswirtschaften kontrollieren.

Der Umschlag der Waren im Hafen von Piräus hat sich seit der Übernahme durch Cosco verdreifacht. Wirtschaftlich ist die Rechnung aufgegangen. Aber Piräus birgt politisches Konfliktpotenzial. So verhinderte Griechenland 2017 eine offizielle Kritik der EU an Chinas Menschenrechtslage vor einer UN-Institution, Ungarn eine kritische EU-Erklärung zum Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer. Experten erklären dies mit dem Engagement Chinas in den Ländern.
Linken-Politiker Ernst hält die Bedeutung der öffentlichen Hand für die europäische Industrie generell für unterschätzt.
"Dabei hätten wir vieles in Europa überhaupt nicht, wenn wir es nicht öffentlich organisieren würden, auch im industriellen Bereich. Wir hätten zum Beispiel keine Luftfahrtindustrie mehr, wenn wir das nicht durch staatlichen Einfluss hätten gewährleisten können, und in vielen anderen Bereichen ist es ähnlich. Und deshalb hoffe ich, dass sich da ein Umdenken breitmacht."
Tatsächlich sind die volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Interessen von Unternehmen und deren Besitzern keinesfalls automatisch deckungsgleich.
Blick auf den Containerhafen in Piräus
Im Zuge der Finanzkrise wurde Griechenland auferlegt, den Containerhafen von Piräus zu privatisieren. Nun betreibt eine chinesische Firma den strategisch günstig gelegenen Hafen.© Imago / NurPhoto / Kostis Ntantamis

Ausverkauf deutscher Zukunftstechnologie

Hannover Messe 2014: Der Hersteller Kuka präsentierte seine neuesten Industrieroboter, wichtig etwa für den Autobau. Als Kuka zwei Jahre später verkauft wurde, interessierte sich dafür kein deutsches Unternehmen. Den Zuschlag bekam der chinesische Midea-Konzern.
"Wenn wir zum Beispiel feststellen, wir haben in Deutschland einen Hersteller von Roboterteilen und der Besitzer dieses Unternehmens will das verkaufen und wir merken, das ist eine wichtige Technik, die wir eigentlich in Europa behalten sollten und keiner will es kaufen, selbst die Bundeskanzlerin hat das Ding angeboten wie Sauerbier, weil es nicht in die privatwirtschaftlichen Renditeüberlegungen passt, dann ist es nach China gegangen", sagt Klaus Ernst. Dabei macht China kein Hehl daraus, dass es in Branchen, die bislang deutsche Domänen sind, die Marktführerschaft übernehmen will.
Die Bosch-Baustelle in Dresden. Zwischen grauen Betonpfeilern stehen Bauarbeiter auf orange farbenen Hebebühnen
Die Produktion nicht mehr ins Ausland verlagern: In Dresden baut der Automobilzulieferer Bosch für rund eine Milliarde Euro eine Chipfabrik.© Imago / Sven Ellger
Der Verkauf von Technologieschmieden wie Kuka könnte Deutschland schwächen, bilden sie nicht so etwas wie eine kritische Infrastruktur für die heimische Wirtschaft? Ökonom Gabriel Felbermayr:
"Auch hier ist die Sorge groß, dass bestimmte wichtige Technologien, die wir brauchen, zum Beispiel beim Ausbau von Elektromobilität, aus dem Ausland kommen – und das Ausland bestimmte Inputs verknappen kann, um damit eigene industriepolitische Ziele zu verfolgen. Wenn man dieses Vertrauen nicht hat, dass für die internationale Arbeitsteilung notwendig ist, dass sich die Partner jederzeit bereithalten zu liefern, wenn das notwendig ist und nicht mit politischen Eingriffen arbeiten, dann muss man fragen: Brauchen wir mehr Produktion in Europa oder im europäischen Freihandelsraum, der über die EU hinausgehen kann oder nicht. Aber das ist eine politische Betrachtungsweise, die hier notwendig ist und die etwas mit politischen Risiken zu tun hat."
Es gibt Anzeichen für ein Umdenken: in Wirtschaft und Politik. So baut der Automobilzulieferer Bosch für rund eine Milliarde Euro eine Chipfabrik in Dresden. Sie soll im Sommer 2021 in Betrieb gehen. VW plant den Bau von sechs Gigafabriken für Batterien, unter anderem in Salzgitter und Schweden. Der Autobauer will bei Batterien unabhängig sein von asiatischen Herstellern. Die EU und auch Deutschland forciert den Aufbau von Infrastrukturen, beispielsweise für Wasserstoff.

Angriffe auf die kritische Infrastruktur

Ein Horror-Szenario: Computerhacker übernehmen die Steuerung eines Wasserwerks. So geschehen im Februar dieses Jahres im US-Bundesstaat Florida, in der Gemeinde Oldsmar. Weil ein Mitarbeiter des Versorgers manuell eingriff, wurde eine Katastrophe verhindert.
Der Angriff zeige, wie verwundbar computergesteuerte Systeme der für den Alltag lebenswichtigen Versorgungsinfrastruktur seien, sagte der für das County zuständige Sheriff beim US-Sender CBS.

Zeche Zollverein Mitte März: Das Kompetenzzentrum Wasserwirtschaft lädt zur Veranstaltung "Hacking kritischer Infrastrukturen: Heute in Florida – morgen bei uns?". Leiterin Ulrike Düwel zum dortigen Hackerangriff:
"Es ist über einen veralteten Zugang von Teamviewer-Software und eine veraltete Microsoft-Version ein krimineller Hacker in das Wasserwerk eingedrungen und hat dort die Natronlaugendosierung verändert. Mit der Folge, wenn es nicht rechtzeitig bemerkt worden wäre, wäre das Wasser aus der Leitung gekommen, aber sehr alkalisches Wasser, was sicherlich jede Menge Gesundheitsgefahren mit sich gebracht hätte."
Das Wasserwerk in Oldsmar, Florida
Wurde Opfer eines Hackerangriffs: das Wasserwerk in Oldsmar, Florida.© Imago / Wire / Chris Urso

IT-Systeme in Gefahr

Mehr als 150 Menschen sind online dabei, viele aus der Wasserwirtschaft. Wie leicht kann man sich von außen Zugang zu einem Wasserwirtschaftsbetrieb verschaffen? Um ihre Schutzvorrichtungen zu testen, beauftragten die Berliner Wasserwerke Hacker damit, Angriffe durchzuführen. 30 Schwachstellen wurden entdeckt und beseitigt.
Es ist eines der Geschäftsfelder krimineller Hacker geworden, in die Computer von Infrastruktureinrichtungen einzudringen und dort Schadsoftware einzuschleusen, die die Systeme lahmlegen kann. Für die Wiederherstellung der IT-Systeme verlangen sie Geld.
"Die organisierte Kriminalität, also wirklich die hoch kriminellen Bandenkriminellen, denen geht es ausschließlich um Geld, und das kann man am besten per Lösegeld raus erpressen, haben die jetzt für sich festgestellt. Das heißt, auch kritische Infrastrukturbetreiber werden durch Erpressungsforderungen bedroht – in unterschiedlichen Sektoren unterschiedlich stark. Krankenhäuser waren öfter mal von Vorfällen betroffen oder zum Beispiel kommunale Systeme von Städten, weil man da recht gut was raus erpressen kann", sagt Manuel Atug. Er arbeitet für die Beratungsfirma HiSolutions, ist Mitglied beim Chaos Computer Club und einer der Initiatoren der Arbeitsgemeinschaft Kritische Infrastruktur.
"Es sind natürlich mehr oder weniger alle betroffen. Es hängt immer davon ab, was die hoch kriminellen Banden als Ziel ausfindig machen, und sagen, da sind wir drin, da kommen wir rein."
Wenn Hacker tatsächlich ein Wasserwerk übernähmen, könnte das dramatische Folgen für das ganze öffentliche Leben haben. Sie könnten Abwasserrohre und Kanäle volllaufen lassen, Abwässer ungeklärt in Flüsse leiten, Toiletten unbenutzbar machen.

Neue Risiken durch Digitalisierung

Aber wieso können Hacker überhaupt in die Netze von wichtigen Infrastruktureinrichtungen eindringen? Matthias Kettemann vom Leibniz-Institut für Medienforschung.
"Man darf kritisch Infrastruktur nicht mit dem allgemeinen Netz verbinden. Alle, die das machen, begehen gröbliche Rechtsverstöße und riskieren den Tod von Menschen. Das hat man gesehen am Beispiel einer Attacke gegen ein Wasserwerk etwa in Florida, wo es den Cyberkriminellen gelungen ist, die chemischen Zusatzstoffe online zu verändern. Was nur geklappt hat, weil dort Einstellungen falsch vorgenommen wurden. Das Problem ist. Wir haben es mit Menschen zu tun, Menschen machen Fehler. Deswegen wird nie ein System absolut sicher sein. Man muss versuchen durch Gesetze – und das gibt es schon, gute Gesetze in diese Richtung – möglichst hohe Anforderungen an diese Systeme zu stellen, etwa vorzuschreiben, dass sämtliche Störfälle gemeldet werden, vorzuschreiben, dass diese Systeme nicht mit dem Internet verbunden werden dürfen."
Die fortschreitende Digitalisierung der Infrastrukturen schafft neue Risiken. Deswegen gibt es beispielsweise Streit darum, ob Mobilfunknetzbetreiber beim Aufbau der neuen ultraschnellen Mobilfunknetze 5G Bauteile des chinesischen Anbieters Huawei verwenden dürfen.
Die USA und Großbritannien haben das verboten. Ihre Geheimdienste warnen vor Gefahren durch Sabotage und Spionage. Die Bundesregierung will vorschreiben, dass Mobilfunkunternehmen bei der Auswahl neben der technischen Verlässlichkeit auch auf die politische Vertrauenswürdigkeit eines Unternehmens schauen müssen.

Cyberspionage Einhalt gebieten

Huawei ist den früher führenden europäischen Netzwerkausrüstern technisch voraus und günstiger. Logischerweise wollen europäische Mobilfunkunternehmen aus betriebswirtschaftlichem Kalkül deswegen die chinesische Technologie einsetzen.
Andererseits wäre es im volkswirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interesse der EU, europäische Technikanbieter zu stärken. Womöglich gibt es sonst keine europäischen Anbieter mehr, wenn die sechste oder siebte Generation der Mobilfunknetze gebaut wird. Allerdings betreiben viele Länder Cyberspionage. IT-Sicherheitsexperte Manuel Atug:
"Man sagt sehr oft, die bösen Chinesen und Russen. Man sagt sehr selten hinter vorgehaltener Hand, na ja unsere Freunde und Partner, die Amerikaner und Israelis, sind auch fleißig dabei. Deutschland möchte auch ganz gerne, darf und kann aber noch nicht so richtig."
Er hält es für notwendig, strikt und umgehend alle entdeckten Schwachstellen in IT-Systemen zu beseitigen und dabei selbst transparent zu sein.
Für den Sicherheitsforscher Matthias Kettemann ist es vor allem notwendig, dass die Staaten erst einmal bei Cyberspionage abrüsten und gemeinsam die Schwachstellen ihrer Systeme schließen. Damit würde man dann auch kriminellen Hackern die Arbeit erschweren.
"Die Neugestaltung der Onlinekooperation ist eines der Zukunftsthemen. Das hat die UNO bisher ziemlich verschlafen. Aber in letzter Zeit sieht man hier einen eindeutigen Aufbau der Cybersicherheitskompetenzen auch im Auswärtigen Amt."

Umlenken im Zuge der Coronakrise

Es bedarf eines Kraftaktes, um die Infrastruktur in Deutschland auf Vordermann zu bringen. Immerhin: Sowohl Deutschland als auch die EU nehmen in Folge der Pandemie eine unglaubliche Menge Geld in die Hand, um die Wirtschaft zu stabilisieren und zu modernisieren.
Finanzminister Olaf Scholz plant von 2021 bis 2024 fast 200 Milliarden Euro für Investitionen ein – über 80 Milliarden Euro mehr als in der letzten Vierjahresperiode.
Es geht dabei in erheblichem Maß um Infrastrukturen für eine wasserstoffbasierte Industrie, um Ladestationen für die E-Mobilität, um schnelles Internet für alle oder um die Digitalisierung der Verwaltung.
Das sind wichtige Schritte. Aber es muss weitergehen. Und bisher ist niemand außer dem Staat in Sicht, der wirklich für den Erhalt kritischer Infrastruktur garantieren kann und sie zur Not auch in Reserve vorhalten kann. Doch die wird gebraucht werden – sei es, um eine Pandemie zu bewältigen, sei es, um auf den Klimawandel zu reagieren.

Technische Realisierung: Martin Eichberg
Regie: Beatrix Ackers
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Sprecher: Mirko Böttcher, Torsten Föste
Redaktion: Martin Hartwig

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