Krude Anmaßung
Das weltgeschichtliche Ziel, dem Dietmar Dath und Barbara Kirchner mit "Der Implex" zuarbeiten, ist die "Aufhebung" des Kapitalismus – ein bekanntermaßen sperriges Projekt, dem heute viele weniger Erfolgsaussichten einräumen denn je.
Nicht so die seit Schultagen befreundeten Autoren. Sie sondieren in 18 bunt titulierten Kapiteln ("Feminina Moralia", "Effecting all things possible", "Am Jobar-Scharnier rütteln" u. ä.) die Keimzellen möglichen Fortschritts in der Geschichte des modernen Denkens. Wobei Fortschritt kommunistisch-utopisch bewirken soll, "die Menschheit als Gattung überhaupt erst herzustellen." Der Implex, ein von Paul Valéry entlehnter Begriff, ist zu verstehen als "Möglichkeitsgeographie" und "Entscheidungsraum"; er zielt auf die Potentiale des Neuen, die im Alten erkannt und produktiv gemacht werden können.
So weit, so wacker. Tatsächlich ist das 880-Seiten-Buch, vorgestellt als "Roman in Begriffen", zumal stilistisch eine krude Anmaßung. Dath & Kirchner, die selbst offenbar alles gelesen haben, was Bibliothek und Netz vorrätig halten, unterstellen selbiges auch ihren Lesern. Weshalb blank hingeworfene Autorennamen, schwammige Fremdwortkaskaden ("modular-zellular-molekular-monadisches Zugreifen") und blasierte Metatheorie-Orgeleien ("Tauto-Ontologien des Stimmigen") allzu oft saubere Ausführungen ersetzen; halbseitenlange Satzmonster verschlingen notorisch ihren eigenen Sinn. Wer nicht gerade Karl Marx heißt oder wenigstens Wolfgang Pohrt oder Peter Hacks, wird von den Erz-Schlaubergern Dath & Kirchner nicht nur argumentativ gemaßregelt, sondern gern auch in die Dummerchen-Ecke gerückt. Was umso kindischer wirkt, als Dath & Kirchner ja wirklich intelligent, belesen und engagiert sind. Wollen sie denn allein siegen?
Mag sein, dass die stilistische Malaise damit zu tun hat, dass die Autoren den altbösen Feind Kapitalismus irgendwie nicht am Schlafittchen zu packen kriegen, so wild sie auch herumfuchteln. Sie untersuchen die Versprechungen der Aufklärung, retten den Klassen-Begriff, knien nieder vor Lenin, schreiben traurig von der Liebe, kennen sich objektiv gut aus mit Science-Fiction- und Fantasy-Literatur samt deren, sagen wir: implexiven Momenten, fetzen sich mit Carl Schmitt, Friedrich August Hayek und dem kalifornischen Wahrheitszersetzer Richard Rorty, spielen sich in den philosophischen Debatten der letzten Jahrtausende als Richter auf, beklagen auch die soziale Härte und Ungerechtigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, skizzieren die Welt nach dem Kapitalismus, in der die Menschen "mehr Unfug" machen dürfen, aber auch mehr Kunst. Die Verbindung jedoch von Ideen, Theorien und Fantasien zu irgendeiner revolutionären Praxis bleibt vage und unendlich voraussetzungsreich.
Dath & Kirchner verfügen zweifellos über ein herausragendes geistiges Munitionsdepot. In "Der Implex" fliegt es spektakulär in die Luft. Die Autoren verbleiben mit dem frommen Wunsch, dass das Unrecht weg muss, "wo Menschen als Menschen leben wollen". Amen!
Besprochen von Arno Orzessek
Dietmar Dath und Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt. Geschichte und Idee
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
880 Seiten, 29,90 Euro
So weit, so wacker. Tatsächlich ist das 880-Seiten-Buch, vorgestellt als "Roman in Begriffen", zumal stilistisch eine krude Anmaßung. Dath & Kirchner, die selbst offenbar alles gelesen haben, was Bibliothek und Netz vorrätig halten, unterstellen selbiges auch ihren Lesern. Weshalb blank hingeworfene Autorennamen, schwammige Fremdwortkaskaden ("modular-zellular-molekular-monadisches Zugreifen") und blasierte Metatheorie-Orgeleien ("Tauto-Ontologien des Stimmigen") allzu oft saubere Ausführungen ersetzen; halbseitenlange Satzmonster verschlingen notorisch ihren eigenen Sinn. Wer nicht gerade Karl Marx heißt oder wenigstens Wolfgang Pohrt oder Peter Hacks, wird von den Erz-Schlaubergern Dath & Kirchner nicht nur argumentativ gemaßregelt, sondern gern auch in die Dummerchen-Ecke gerückt. Was umso kindischer wirkt, als Dath & Kirchner ja wirklich intelligent, belesen und engagiert sind. Wollen sie denn allein siegen?
Mag sein, dass die stilistische Malaise damit zu tun hat, dass die Autoren den altbösen Feind Kapitalismus irgendwie nicht am Schlafittchen zu packen kriegen, so wild sie auch herumfuchteln. Sie untersuchen die Versprechungen der Aufklärung, retten den Klassen-Begriff, knien nieder vor Lenin, schreiben traurig von der Liebe, kennen sich objektiv gut aus mit Science-Fiction- und Fantasy-Literatur samt deren, sagen wir: implexiven Momenten, fetzen sich mit Carl Schmitt, Friedrich August Hayek und dem kalifornischen Wahrheitszersetzer Richard Rorty, spielen sich in den philosophischen Debatten der letzten Jahrtausende als Richter auf, beklagen auch die soziale Härte und Ungerechtigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, skizzieren die Welt nach dem Kapitalismus, in der die Menschen "mehr Unfug" machen dürfen, aber auch mehr Kunst. Die Verbindung jedoch von Ideen, Theorien und Fantasien zu irgendeiner revolutionären Praxis bleibt vage und unendlich voraussetzungsreich.
Dath & Kirchner verfügen zweifellos über ein herausragendes geistiges Munitionsdepot. In "Der Implex" fliegt es spektakulär in die Luft. Die Autoren verbleiben mit dem frommen Wunsch, dass das Unrecht weg muss, "wo Menschen als Menschen leben wollen". Amen!
Besprochen von Arno Orzessek
Dietmar Dath und Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt. Geschichte und Idee
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
880 Seiten, 29,90 Euro