Krumm: Putin wird Zugeständnisse machen
Demonstrationen in Russland kommen nicht so häufig vor - umso erstaunlicher ist das Aufbegehren gegen die Duma-Wahl, gegen Ministerpräsident Putin und die Partei "Geeintes Russland". Ob es ein neues Bürgertum in Russland gibt, und wer künftig die Opposition führen wird, ist allerdings noch offen.
Nana Brink: Das hatten viele auch in Russland nicht erwartet: Über 50.000 Menschen, eine der größten Demonstrationen der letzten zehn Jahre, protestierten nach den umstrittenen Duma-Wahlen Anfang Dezember gegen die angeblichen Wahlfälschungen. Die Partei "Geeintes Russland" von Ministerpräsident Putin hat zwar die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament verloren, liegt aber nach wie vor über 50 Prozent. Während die Opposition nun auf Umbruch hofft, reagiert das Regime mit den üblichen Verhaftungen. Für heute ist wieder eine Großdemonstration in Moskau angekündigt, in den letzten Tagen wurden massenhaft Flyer in den Metros verteilt, sie sollen noch mehr Menschen als vor zwei Wochen anziehen. Und am Telefon ist jetzt Reinhard Krumm, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau. Einen schönen guten Morgen, Herr Krumm!
Reinhard Krumm: Schönen guten Morgen!
Brink: Wer demonstriert da heute in Moskau?
Krumm: Na, ich denke, es sind ganz unterschiedliche Gruppen, die sich der Demonstration anschließen werden. Es sind zum einen die sogenannten neuen Bürger, von der ein Politmagazin gesprochen hat, die vom … die nicht mehr Staat, sondern einen besseren Staat fordern. Das sind die einen. Die anderen, das sind Oppositionelle, die mehr wollen, nämlich eine andere Regierung, möglicherweise ein anderes System, das hängt von der Schattierung der Opposition ab. Und die dritte Gruppe, das sind die, die eigentlich einen ganz anderen Kurs haben wollen, nämlich nicht liberal, nicht mehr freiheitlich, sondern mehr national – das eine muss das andere nicht ausschließen, aber es geht eigentlich darum, mehr für den Russen zu bekommen. Sie wissen, es gibt das Russländische, die Rossijskaja Federazija, und es gibt das Russische, und das Russländische wollen eine Menge Bürger auch nicht mehr: Sie wollen Russland für die Russen haben.
Brink: Nun klingt das, als ob die sehr unterschiedlich wären – und trotzdem auf einer Demonstration?
Krumm: Na ja, nun muss man sagen, dass in Russland, wie Sie auch in der Ankündigung gesagt haben, so häufig nicht demonstriert wird. Nun scheint die Regierung, der Staat die Möglichkeit zu geben, und – um es etwas salopp zu formulieren – das muss man jetzt nutzen. Und deshalb werden ganz unterschiedliche Gruppen zusammenkommen vermutlich, die aber in der Folgezeit sicherlich so zusammen nicht mehr agieren werden.
Brink: Das heißt, Sie glauben, das ist eine Eintagsfliege?
Krumm: Ich glaube nicht, dass die Demonstrationen abebben werden, aber ich glaube nicht, dass sie so gemeinsam weiter auftreten werden, weil die Interessen einfach viel zu unterschiedlich sind.
Brink: Gibt es denn eine Avantgarde in der Oppositionsbewegung, also eine Strömung, die Sie uns vielleicht beschreiben können, die das tragen wird?
Krumm: Da bin ich mir unsicher. Wie gesagt, der sogenannte neue Bürger, das sind Menschen der sogenannten Mittelschicht, wobei es da sehr viel Streiterei gibt, was denn nun die Mittelschicht ist, das sind Leute, die vielleicht gar nicht so sehr politisch sind, als viel… also im Sinne von "einer Partei angehören" oder einer Oppositionspartei, sondern vielmehr Unbehagen darüber haben, wie ihre Aussichten in Zukunft aussehen. Und da gibt es aber keinen Kopf, da gibt es keine Person, die das anführt. Und das gilt eigentlich für die anderen Oppositionsparteien auch. Sie kennen die berühmten Namen von Herrn Kasyanov, von Herrn Ryschkow, von Herrn Nemzow, aber ich glaube nicht, dass die im Augenblick nach oben gespült werden als Köpfe der Bewegung. Ich glaube, ich fürchte, es sind ganz unterschiedliche, und es hat sich bisher noch nicht herausgeschält, wer das Ganze führen kann.
Brink: Nun haben Sie von den sogenannten neuen Bürgern gesprochen, man könnte auch sagen, einer neuen bürgerlichen Elite. Gibt es die denn wirklich? Man hört ja hier viele Berichte, dass die eigentlich gut ausgebildeten Russen eher dazu neigen, auszuwandern.
Krumm: Ja, die Umfragen gibt es. Also ich denke schon, dass es eine neue Bürgerlichkeit gibt, gleichwohl ist der Wermutstropfen immer dabei, dass von denen nicht ganz wenige die Bürokraten sind, also die, die in der Bürokratie inzwischen auch gut Geld verdienen, denn Mittelschicht hat ja auch etwas mit Geldverdienen zu tun. Und die sind nun gar nicht daran interessiert, dass sich etwas ändert, weil sie am Status quo halt gut verdienen und beteiligt sind. Das sind die einen. Aber nichts desto trotz gibt es inzwischen eine Mittelschicht, die recht ordentlich verdient, zumindest im Verhältnis zu Russland, und die, wie schon gesagt, nicht mehr, sondern einen besseren Staat haben wollen und die unzufrieden sind. Es gibt natürlich auch die Schicht derjenigen, die sich immer mehr über das Internet informieren und gar nicht mehr auf das Fernsehen angewiesen sind – das ist ja das einzige Medium, was wirklich noch sehr, sehr gesteuert wird vom Kreml, ansonsten hier die Medien sind aus meiner Sicht relativ frei, aber gerade das Internet ist es. Und das sind auch Menschen, gerade die jüngeren, die nicht mehr zufrieden sind mit dem, was Putin in den acht Jahren bis 2008 geleistet hat, Stabilität, Sicherheit und so weiter. Die wollen jetzt mehr, und sie scheinen das zu spüren, dass das möglicherweise in Gefahr ist, weil der Präsident, der ihnen was dazu gesagt hat, Medwedew, "Russland, vorwärts!", nicht mehr antritt.
Brink: Gibt es denn auch so etwas wie zornige junge Russen? Ich denke da zum Beispiel an die Aktionskünstlergruppe Wojna, die hier auch in Teilen im Westen ja sehr bekannt ist.
Krumm: Die gibt es schon. Bisher treten die nicht so in den Vordergrund, weil die Repressionen natürlich nicht gering sind. Aber es gibt ja in der Soziologie, in der Wissenschaft die berühmte Frage: Wann kippt denn so eine relativ ruhige Situation, also was lässt den Bürger aufbegehren? Und ein amerikanischer Soziologe, Barrington Moore, hat einmal gesagt: Es ist die moralische Ungerechtigkeit, die jemanden auf die Straße bringt und dann vielleicht auch zu radikaleren Maßnahmen verleitet. Und möglicherweise erleben wir gerade in Russland so ein gewisses Umschwenken, also dass man tatsächlich sich ungerecht behandelt fühlt und das nicht mehr mittragen möchte.
Brink: Stimmt es dann, wenn die Opposition – so desperat sie vielleicht auch sein mag – sagt, es ist ein Umbruch, den wir sehen? Wie stark ist sie wirklich?
Krumm: Ja, gut, da muss man natürlich ein bisschen auf die Zahlen gucken, also 30.000, 40.000, 50.000 in Moskau, in einer Stadt mit 15 Millionen mit den Zugereisten, das ist nun auch nicht so viel. Aber dass der Staat es zulässt, dass Putin in seiner Rede vor dem Fernsehen mit seinen Bürgern doch einige Zugeständnisse wohl machen wird, das zeigt an, dass diese 50.000 immerhin in der Lage sind, den Staat, die Regierung zum Umdenken zu bewegen, zumindest in einem gewissen Rahmen. Und deshalb glaube ich schon, dass wir in Russland im Augenblick etwas sehen, wo wir im Moment nicht wissen, wo es hinführt.
Brink: Nach den Duma-Wahlen hatte man ja den Eindruck, Putin würde einlenken. Sie haben auf das Fernsehinterview, das berühmte, verwiesen. Wie wird das Regime weiter reagieren?
Krumm: Das ist eine gute Frage. Es scheint ja so – und da will ich dann noch mal auf einen Amerikaner zurückgehen –, dass es mehrere Optionen gibt für die Bürger: Sie können entweder das Land verlassen, davon haben Sie schon gesprochen, oder sie können Unmut anmelden. Und ich glaube, die Regierung begreift, dass Unmut im Augenblick vermutlich doch noch besser ist als der Exit, also die Abwanderung von gut ausgebildeten Bürgern. Um dieses Land zu modernisieren, brauchen sie auch kritische Stimmen, so ganz ohne die geht es nicht, und ich glaube, die Regierung bemüht sich darum, zu überlegen, wie sie die einbinden kann im ersten Schritt, ohne gleich das ganze System so in Schwingung zu bringen, dass es möglicherweise in irgendeiner Art und Weise auseinanderbricht. Aber genau das wird sehr, sehr schwierig sein. Auf der anderen Seite wird es hochspannend sein, zu sehen, wie Russland zum ersten Mal, ich glaube, in der Geschichte, ich glaube, ich begebe mich nicht auf Glatteis, diesen Spagat hinzukriegen versucht.
Brink: Reinhard Krumm, der Leiter der Friedrich Ebert Stiftung in Moskau. Schönen Dank, Herr Krumm, für das Gespräch!
Krumm: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Reinhard Krumm: Schönen guten Morgen!
Brink: Wer demonstriert da heute in Moskau?
Krumm: Na, ich denke, es sind ganz unterschiedliche Gruppen, die sich der Demonstration anschließen werden. Es sind zum einen die sogenannten neuen Bürger, von der ein Politmagazin gesprochen hat, die vom … die nicht mehr Staat, sondern einen besseren Staat fordern. Das sind die einen. Die anderen, das sind Oppositionelle, die mehr wollen, nämlich eine andere Regierung, möglicherweise ein anderes System, das hängt von der Schattierung der Opposition ab. Und die dritte Gruppe, das sind die, die eigentlich einen ganz anderen Kurs haben wollen, nämlich nicht liberal, nicht mehr freiheitlich, sondern mehr national – das eine muss das andere nicht ausschließen, aber es geht eigentlich darum, mehr für den Russen zu bekommen. Sie wissen, es gibt das Russländische, die Rossijskaja Federazija, und es gibt das Russische, und das Russländische wollen eine Menge Bürger auch nicht mehr: Sie wollen Russland für die Russen haben.
Brink: Nun klingt das, als ob die sehr unterschiedlich wären – und trotzdem auf einer Demonstration?
Krumm: Na ja, nun muss man sagen, dass in Russland, wie Sie auch in der Ankündigung gesagt haben, so häufig nicht demonstriert wird. Nun scheint die Regierung, der Staat die Möglichkeit zu geben, und – um es etwas salopp zu formulieren – das muss man jetzt nutzen. Und deshalb werden ganz unterschiedliche Gruppen zusammenkommen vermutlich, die aber in der Folgezeit sicherlich so zusammen nicht mehr agieren werden.
Brink: Das heißt, Sie glauben, das ist eine Eintagsfliege?
Krumm: Ich glaube nicht, dass die Demonstrationen abebben werden, aber ich glaube nicht, dass sie so gemeinsam weiter auftreten werden, weil die Interessen einfach viel zu unterschiedlich sind.
Brink: Gibt es denn eine Avantgarde in der Oppositionsbewegung, also eine Strömung, die Sie uns vielleicht beschreiben können, die das tragen wird?
Krumm: Da bin ich mir unsicher. Wie gesagt, der sogenannte neue Bürger, das sind Menschen der sogenannten Mittelschicht, wobei es da sehr viel Streiterei gibt, was denn nun die Mittelschicht ist, das sind Leute, die vielleicht gar nicht so sehr politisch sind, als viel… also im Sinne von "einer Partei angehören" oder einer Oppositionspartei, sondern vielmehr Unbehagen darüber haben, wie ihre Aussichten in Zukunft aussehen. Und da gibt es aber keinen Kopf, da gibt es keine Person, die das anführt. Und das gilt eigentlich für die anderen Oppositionsparteien auch. Sie kennen die berühmten Namen von Herrn Kasyanov, von Herrn Ryschkow, von Herrn Nemzow, aber ich glaube nicht, dass die im Augenblick nach oben gespült werden als Köpfe der Bewegung. Ich glaube, ich fürchte, es sind ganz unterschiedliche, und es hat sich bisher noch nicht herausgeschält, wer das Ganze führen kann.
Brink: Nun haben Sie von den sogenannten neuen Bürgern gesprochen, man könnte auch sagen, einer neuen bürgerlichen Elite. Gibt es die denn wirklich? Man hört ja hier viele Berichte, dass die eigentlich gut ausgebildeten Russen eher dazu neigen, auszuwandern.
Krumm: Ja, die Umfragen gibt es. Also ich denke schon, dass es eine neue Bürgerlichkeit gibt, gleichwohl ist der Wermutstropfen immer dabei, dass von denen nicht ganz wenige die Bürokraten sind, also die, die in der Bürokratie inzwischen auch gut Geld verdienen, denn Mittelschicht hat ja auch etwas mit Geldverdienen zu tun. Und die sind nun gar nicht daran interessiert, dass sich etwas ändert, weil sie am Status quo halt gut verdienen und beteiligt sind. Das sind die einen. Aber nichts desto trotz gibt es inzwischen eine Mittelschicht, die recht ordentlich verdient, zumindest im Verhältnis zu Russland, und die, wie schon gesagt, nicht mehr, sondern einen besseren Staat haben wollen und die unzufrieden sind. Es gibt natürlich auch die Schicht derjenigen, die sich immer mehr über das Internet informieren und gar nicht mehr auf das Fernsehen angewiesen sind – das ist ja das einzige Medium, was wirklich noch sehr, sehr gesteuert wird vom Kreml, ansonsten hier die Medien sind aus meiner Sicht relativ frei, aber gerade das Internet ist es. Und das sind auch Menschen, gerade die jüngeren, die nicht mehr zufrieden sind mit dem, was Putin in den acht Jahren bis 2008 geleistet hat, Stabilität, Sicherheit und so weiter. Die wollen jetzt mehr, und sie scheinen das zu spüren, dass das möglicherweise in Gefahr ist, weil der Präsident, der ihnen was dazu gesagt hat, Medwedew, "Russland, vorwärts!", nicht mehr antritt.
Brink: Gibt es denn auch so etwas wie zornige junge Russen? Ich denke da zum Beispiel an die Aktionskünstlergruppe Wojna, die hier auch in Teilen im Westen ja sehr bekannt ist.
Krumm: Die gibt es schon. Bisher treten die nicht so in den Vordergrund, weil die Repressionen natürlich nicht gering sind. Aber es gibt ja in der Soziologie, in der Wissenschaft die berühmte Frage: Wann kippt denn so eine relativ ruhige Situation, also was lässt den Bürger aufbegehren? Und ein amerikanischer Soziologe, Barrington Moore, hat einmal gesagt: Es ist die moralische Ungerechtigkeit, die jemanden auf die Straße bringt und dann vielleicht auch zu radikaleren Maßnahmen verleitet. Und möglicherweise erleben wir gerade in Russland so ein gewisses Umschwenken, also dass man tatsächlich sich ungerecht behandelt fühlt und das nicht mehr mittragen möchte.
Brink: Stimmt es dann, wenn die Opposition – so desperat sie vielleicht auch sein mag – sagt, es ist ein Umbruch, den wir sehen? Wie stark ist sie wirklich?
Krumm: Ja, gut, da muss man natürlich ein bisschen auf die Zahlen gucken, also 30.000, 40.000, 50.000 in Moskau, in einer Stadt mit 15 Millionen mit den Zugereisten, das ist nun auch nicht so viel. Aber dass der Staat es zulässt, dass Putin in seiner Rede vor dem Fernsehen mit seinen Bürgern doch einige Zugeständnisse wohl machen wird, das zeigt an, dass diese 50.000 immerhin in der Lage sind, den Staat, die Regierung zum Umdenken zu bewegen, zumindest in einem gewissen Rahmen. Und deshalb glaube ich schon, dass wir in Russland im Augenblick etwas sehen, wo wir im Moment nicht wissen, wo es hinführt.
Brink: Nach den Duma-Wahlen hatte man ja den Eindruck, Putin würde einlenken. Sie haben auf das Fernsehinterview, das berühmte, verwiesen. Wie wird das Regime weiter reagieren?
Krumm: Das ist eine gute Frage. Es scheint ja so – und da will ich dann noch mal auf einen Amerikaner zurückgehen –, dass es mehrere Optionen gibt für die Bürger: Sie können entweder das Land verlassen, davon haben Sie schon gesprochen, oder sie können Unmut anmelden. Und ich glaube, die Regierung begreift, dass Unmut im Augenblick vermutlich doch noch besser ist als der Exit, also die Abwanderung von gut ausgebildeten Bürgern. Um dieses Land zu modernisieren, brauchen sie auch kritische Stimmen, so ganz ohne die geht es nicht, und ich glaube, die Regierung bemüht sich darum, zu überlegen, wie sie die einbinden kann im ersten Schritt, ohne gleich das ganze System so in Schwingung zu bringen, dass es möglicherweise in irgendeiner Art und Weise auseinanderbricht. Aber genau das wird sehr, sehr schwierig sein. Auf der anderen Seite wird es hochspannend sein, zu sehen, wie Russland zum ersten Mal, ich glaube, in der Geschichte, ich glaube, ich begebe mich nicht auf Glatteis, diesen Spagat hinzukriegen versucht.
Brink: Reinhard Krumm, der Leiter der Friedrich Ebert Stiftung in Moskau. Schönen Dank, Herr Krumm, für das Gespräch!
Krumm: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.