Hubert Wolf: Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte.
C. H. Beck Verlag, München 2015
232 Seiten, 19,95 Euro, eBook 15,99 Euro
Hinter katholischen Kulissen
Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf taucht tief in die Archive und beschreibt, was er findet, so packend wie kaum ein anderer Autor. In den päpstlichen Geheimarchiven ist er auf unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte gestoßen. Dabei ist ein Buch entstanden, das seine Sprengkraft erst auf den zweiten Blick entfaltet.
Die Krypta ist eine Gruft unterhalb des Altars. Hier liegen Reliquien der Märtyrer und die sterblichen Überreste vieler Kirchenfürsten. Ein geheimnisvoller Ort, der das Fundament des Glaubens bewahrt. Wer sich hier umsieht, landet bei den Wurzeln des Christentums.
Der Religionshistoriker Hubert Wolf sucht in seinem Buch "Krypta" nach den verschütteten Fundamenten des katholischen Glaubens. Dabei fördert er Erstaunliches zu Tage: Er findet Äbtissinnen, die fast die gleichen Rechte wie Bischöfe haben. Auch Laien waren früher keine unmündigen Schafe. Nach der Revolution 1848 gab es in Deutschland selbstbewusste Katholiken, die in hunderten von Vereinen der offiziellen Kirche Paroli boten. Reste dieser Aufmüpfigkeit finden sich bis heute auf Katholikentagen. Es gab Zeiten, da wurden Bischöfe gewählt und nicht ernannt, und es war üblich, dass sie dem Papst widersprachen. Erst im 19. Jahrhundert kam es zu dem römischen Zentralismus, wie wir ihn heute kennen. Das Erste Vatikanische Konzil 1870 hat die Unfehlbarkeit des Pontifex festgeschrieben, die bis heute Dogma ist.
An zehn Beispielen zeigt Hubert Wolf, wie sich die kirchlichen Strukturen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verhärten. Je nach Thema muss der Historiker unterschiedlich tief graben. Mal führt der Weg bis ins erste Jahrhundert, mal ins Mittelalter, und manchmal reicht schon ein Blick in die jüngere Vergangenheit. Hubert Wolf übt Kritik mit Hut. Wenn überhaupt, kritisiert er nur indirekt. Ihn interessiert am Ende nur eine Frage: Wie lässt sich die katholische Kirche reformieren? Denn viele Ortskirchen und Laien seien angesichts des römischen Zentralismus tief enttäuscht.
Zitator: "Die extrem hohen Austrittszahlen sprechen eine eindeutige Sprache. (...) Die Situation der Kirche unserer Tage wurde in der breiten Öffentlichkeit mitunter sogar ausdrücklich mit der Krise der Kirche zur Zeit der Reformation verglichen. Auch heute sind Missstände zu beklagen, die vom sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester und Ordensleute über das undurchsichtige Finanzgebaren der Vatikanbank und die Vatileaks-Affäre bis hin zum Limburger Prunkbau reichen."
Wolf stöbert in den Archiven und findet eine liberalere Kirche, mit weitaus komplexeren Strukturen, als wir sie heute kennen. Die Vergangenheit ist ein riesiges Reservoir für Reformideen der Gegenwart. Scheinbar sakrosankte Traditionen, auf die konservative Kleriker pochen, stammen oft aus dem 19. Jahrhundert, sie sind also relativ gesehen ziemlich jung.
Spuren der absolutistischen Allgewalt
Heute darf ein Bischof in kirchlichen Belangen mehr oder weniger tun und lassen was er will. Keine Instanz – außer dem Papst persönlich – kann ihn zur Rechenschaft ziehen. Wie fatal diese absolutistischen Strukturen sind, zeigt das Kapitel über das Bistum Limburg mit seinem selbstherrlichen Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst. Der unbändige Ästhet steckte Unmengen Geld in den Ausbau seiner Dienst-Residenz. Es gab heftige Kritik bis hin zu Kirchenaustritten. Das ging solange gut, bis Papst Franziskus 2014 die Notbremse zog und den umstrittenen Hirten aus der Schusslinie nahm. Für Franziskus gehört Tebartz-van Elst zu jener Verschwender-Fraktion, der er stets und ständig mit drastischen Worten ins katholische Gewissen redet.
Aber Hubert Wolf interessiert nicht der Skandal. Kein böses Wort über den gestrauchelten Bischof, stattdessen kramt der Historiker in der Kirchengeschichte und findet Strukturen jenseits der absolutistischen Allgewalt. Er diagnostiziert Strukturprobleme und erinnert an eine gut funktionierende Gewaltenteilung, die es im Erzbistum Limburg bei seiner Gründung 1821 gab.
Zitator: "Vielleicht regt der Fall Limburg ja dazu an, solche vergessenen kollegialen Konzepte wiederzuentdecken, die Bischof, Priester und Gläubige angemessen an der Leitung einer Diözese beteiligen. Bischof Cyprian von Karthago stelle dazu bereits in der Mitte des dritten Jahrhunderts einen auch noch heute bemerkenswerten Grundsatz auf: nichts ohne den Bischof, nichts ohne den Rat der Priester, nichts ohne die Zustimmung des Volkes."
In diesem Sinne bringt der Papst frischen Wind in die römische Kurie. Auch seinem Namenspatron Franz von Assisi hat Hubert Wolf ein Kapitel gewidmet. Hier erläutert Wolf, welch subversives Potential in der Wahl dieses Papstnamens liegt. Franz von Assisi war ein unnachgiebiger Querkopf, der im Namen Christi gegen das kirchliche Establishment zu Felde zog.
Ironischerweise kommt Papst Franziskus seine Unantastbarkeit bei der Umsetzung von Reformen zunächst zugute. Aber er will nicht mehr alles allein entscheiden. Ein Team aus neun Kardinälen aus aller Welt hat er sich als Berater gesucht. Auch will der Papst zuhören, wenn Laien etwas zu sagen haben. Das ist mehr als nur ein persönlicher Stil. Hier werden Traditionen wiederbelebt, die lange Zeit verschüttet waren. Ihre Reaktivierung könnte die katholische Kirche zu neuen Ufern führen, denn Reformen finden meist nur dann Akzeptanz in Rom, wenn es für diese Neuerungen historische Vorbilder gibt.
Dabei ist es schon seltsam, dass sich viele progressive Momente für eine Kirchenreform in den vergessenen Dokumenten der Kirchengeschichte finden. Es ist Hubert Wolfs großes Verdienst, dass er uns daran erinnert.