Regie: Cordula Dickmeiss
Ton: Thomas Monnerjahn
Sprecher: Ulrich Noethen, Robert Frank, Bernhard Schütz, Haino Rindler, Oliver Urbanski und Peter B. Schumann
Redakteur: Jörg Plath
Kubanische Dissidentenliteratur
Die Revolution frisst ihre Schriftsteller: Eine rote Leuchtreklame mit dem spanischen Schriftzug Revolucion im Abendlicht in Kuba. © imago/Photocase
Der Genosse, der sich um uns kümmert
53:46 Minuten
Gesellschaftskritik konnten die kubanischen Schriftsteller nach der Revolution fast nur im Rahmen des offiziellen Dogmas üben. Wer sich außerhalb des Spiels bewegte, fiel rasch in Ungnade (Erstsendedatum: 31.3.2019).
Als einen der Ersten traf sie Ende der 1960er-Jahre den Poeten Heberto Padilla: Die Repression gegen unbotmäßige Schriftstellerinnen und Schriftsteller dauert bis heute an, mitunter werden sie gar kriminalisiert wie zuletzt Angel Santiesteban. Er galt in den 1990er-Jahren als große literarische Hoffnung, seine Erzählungen erhielten offizielle Preise.
Als sich Santiesteban aber in Blogs kritisch mit der politischen Situation auseinanderzusetzen begann, wurde er zunehmend schikaniert und schließlich wegen angeblicher häuslicher Gewalt zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach internationalem Druck kam er vorzeitig frei, wollte jedoch unbedingt in Kuba bleiben.
Die Angst ist schlimmer als der Hunger
Andere kritische Autoren seiner Generation wie Amir Valle, Enrique del Risco oder Antonio José Ponte entzogen sich dagegen den staatlichen Repressionen durch die Emigration. Die Dissidentenliteratur Kubas entsteht unter dramatischen Umständen.
"Heute ist mein neunter Tag im Hungerstreik. Sie haben mich nackt in die Zelle geworfen und dann vergessen. Ich bekomme bloß ihre Hände zu sehen. Sobald die Sonne aufgeht, bricht mir vor Hitze der Schweiß aus, und nachts finde ich vor Kälte kaum Schlaf. Das Bett aus Gussbeton verursacht dort, wo der Körper aufliegt, stechende Schmerzen. Früh am Morgen höre ich Rufe aus den benachbarten Zellen.
Als ich in dieses Gefängnis verlegt wurde, wartete der Chef fürs Interne zusammen mit zehn Wärtern auf mich, die Gefangenen hatten allen Grund anzunehmen, das etwas Ungewöhnliches vorging, und die Anspannung war groß. Gerüchte machten die Runde, es werde jemand Gefährliches gebracht, einer vermutete ein Monstrum wie Hannibal Lecter und schürte damit die Furcht unter den Gefängnisbewohnern, bis sie durch meine Weigerung, die Anstaltskluft zu tragen, erfuhren, dass ich ein Politischer war."
Als ich in dieses Gefängnis verlegt wurde, wartete der Chef fürs Interne zusammen mit zehn Wärtern auf mich, die Gefangenen hatten allen Grund anzunehmen, das etwas Ungewöhnliches vorging, und die Anspannung war groß. Gerüchte machten die Runde, es werde jemand Gefährliches gebracht, einer vermutete ein Monstrum wie Hannibal Lecter und schürte damit die Furcht unter den Gefängnisbewohnern, bis sie durch meine Weigerung, die Anstaltskluft zu tragen, erfuhren, dass ich ein Politischer war."
"Mandela, sie kommen dich holen!" – eine Erzählung von Ángel Santiesteban.
"Das Schlimmste ist gar nicht der Hunger, der ist nach dem dritten Tag vorüber, schlimmer ist die Angst, dass man die Zähne verliert, das Augenlicht, dass man Blut spuckt und hinterher nicht mehr derselbe ist, sollte das Schlimmste geschehen, dass man am Leben bleibt. Aber die Quälerei ist es wert, denn auf dem Weg in den Tod erstrahlt etwas im Innern und durchbricht das Dunkel." (Ángel Santiesteban: Wölfe in der Nacht. 16 Geschichten aus Kuba. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017)
Dieser Text ist keine Fiktion, sondern die literarisch gestaltete Erfahrung des Schriftstellers Ángel Santiesteban – eines der jüngsten Beispiele kubanischer Dissidentenliteratur.
Ángel Santiesteban: "Im Gefängnis 15-80 in Havanna habe ich diese Erzählung geschrieben, obwohl ich streng überwacht wurde, denn ich hatte Beschwerden über die schlechten Haftbedingungen nach draußen geschmuggelt. Es war mir nämlich gelungen, heimlich eine Kette von Kontakten aufzubauen, die es mir ermöglichte, diese Anzeigen nach draußen und Papier nach drinnen zu organisieren. Das war zu einem Zeitpunkt, als Kuba in Genf wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt wurde, und da waren solche Informationen sehr delikat."
Der Autor wurde am 28. Februar 2013 wegen angeblicher "häuslicher Gewalt und Hausfriedensbruch" zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt in einem politischen Prozess, dessen Ergebnis von vornherein feststand. Fakten zählten nicht, sie störten. Denn hier sollte auf vermeintlich legale Weise ein unbequemer und noch dazu namhafter Intellektueller aus dem Verkehr gezogen werden. In Beiträgen für die oppositionelle Internet-Zeitschrift "Cuba Encuentro" hatte Ángel Santiesteban die sozialen und politischen Zustände auf der Insel immer wieder heftig kritisiert.
Ángel Santiesteban: "Ich wollte keineswegs ein Oppositioneller werden, sondern ursprünglich nur etwas Kulturelles publizieren und zwar auf der offiziellen Internetplattform 'Cuba Encuentro'. Als ich dem zuständigen Redakteur jedoch sagte, dass ich über das schreiben wolle, was ich denke, da meinte der, diese Bandbreite besitze er nicht. Also habe ich meine Beiträge der 'Cuba Encuentro' in Madrid als Blog angeboten. Das wurde offensichtlich als Verrat betrachtet, denn wenig später haben sich zwei Schriftsteller der älteren Generation ‚um mich gekümmert‘ und mir ‚die Instrumente‘ gezeigt, über die sie verfügten, wenn ich mich nicht von 'Cuba Encuentro'" trennen und den Blog einstellen würde."
Die Hoffnung der jüngeren Generation
Es war nicht das erste Mal, dass Ángel Santiesteban in Konflikt mit den Autoritäten seines Landes geriet. Mitte der Neunzigerjahre galt er als eine der großen Hoffnungen einer neuen, jüngeren Generation der kubanischen Literatur. Und sollte für seinen ersten Band mit Erzählungen "13. Grad südlicher Breite" mit dem Preis des berühmten Kulturinstituts "Casa de las Américas" ausgezeichnet werden.
Ángel Santiesteban: "Aber die Jury musste ihre Entscheidung revidieren, weil ich den Angola-Krieg und die kubanische Beteiligung aus einer zu menschlichen Perspektive beschrieben hatte, die dem Regime nicht gefiel. Es wünschte eine epische, heroische Vision. Ich habe dann den Band in "Ein Sommertraum" umbenannt und für den Nationalpreis des Schriftsteller-Verbands UNEAC eingereicht. Und diese Jury hat mir die Auszeichnung zugesprochen.
Doch plötzlich wurde das Buch wie eine heiße Kartoffel behandelt, denn der Preis war mit der Publikation des Bandes verbunden. Abel Prieto, der damalige Präsident der UNEAC, rief mich zu sich und forderte mich auf, fünf Angola-Erzählungen zu entfernen. Für dieses ‚Entgegenkommen‘ bot er mir ein Auto oder eine Wohnung an. Nun war meine Frau damals schwanger, und wir brauchten eine Wohnung. Da ich die Taktik des Regimes kannte, habe ich die fünf Erzählungen für die Wohnung eingetauscht."
Einer der fünf politisch prekären Angola-Texte ist in dem Band "Wölfe in der Nacht. 16 Geschichten aus Kuba" abgedruckt, der ersten auf Deutsch erschienenen Publikation des Autors. Ihr Titel: "13. Grad südlicher Breite":
"‘Hier gibt es nur eine heilige Parole: überleben‘, sagt einer. ‚Krieg ist Krieg‘, ein anderer. Der Hauptmann spricht von Prinzipien. Niemand hört hin. Wir wissen, dass wir im Kugelhagel manchmal vergessen, warum wir töten: Weil sie eine andere Uniform anhaben oder weil jemand es befiehlt, warum auch immer. Die einen haben es auf eine Feldflasche mit Rum abgesehen, andere suchen nach einem Pornoheft oder irgendwelchen Comics. Der Chef fragt, ob alle einverstanden sind umzukehren. Wir stehen auf, die Kalaschnikow im Anschlag, und warten auf Argüelles, den Geiger, damit er vorangeht, aber er bleibt sitzen. Mit der Spitze seines Gewehrs hat er in den Matsch geschrieben: ‚DU SOLLST NICHT STEHLEN‘. Eladio sagt, der kann uns mal, und wir drehen um. Niemand hört mehr auf Befehle oder auf den Hauptmann. Es gibt keine Marschformation, keinen Trupp und keine Soldaten. Die Schulterklappen und Abzeichen haben wir abgerissen. Wir sind nur noch ein Haufen verzweifelter Männer, die in das Haus eindringen und den Portugiesen überrumpeln und ihm das Gewehr abnehmen. Der Schwarze, der für den Siedler arbeitet, will uns aufhalten, brüllt uns an, die angolanischen Genossen seien es leid, den kubanischen Genossen zu helfen. Und noch ehe ich einen Ton sagen kann, habe ich ihm einen Kolbenhieb verpasst, und er stürzt zu Boden. Und wir gehen in die Küche und in die Vorratskammer und ins Zimmer der Tochter und holen uns die Geige wieder, die wir ihm für ein bisschen Proviant überlassen mussten.
Als wir zurückkommen, zeichnet der Geiger noch immer mit der Spitze seines Gewehres etwas in den Matsch. Und noch immer nimmt er unsere Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Der Hauptmann brüllt ihn an, stillgestanden, stößt ihn und das Gewehr sinkt in den Dreck, dann sagt er, dass er es leid ist, seine Launen zu ertragen, seine mangelnde Sensibilität, seine Trägheit und seinen Groll auf die Kameraden. Dass er ihn bestrafen kann wegen Sabotage, ihn als Deserteur erschießen. Na und, soll er ihn doch fertigmachen, er kriegt sowieso nichts mit, soll er ihm das Gewehr ruhig abnehmen. Ja, dann geht er vor die Hunde, dann muss er mit seiner blöden Geige schießen. Und der Hauptmann wirft sie in den Dreck und spuckt aus und geht. Der Geiger schaut uns ungläubig an. Bückt sich, schaut uns an. Zögert. Hebt sie auf und schaut uns an. Säubert sie mit dem Ärmel seines Hemds. Schaut uns an. Und geht. Lässt uns stehen, mit all unserem Hass auf ihn." (Ángel Santiesteban: Wölfe in der Nacht.)
Ángel Santiesteban war 30 Jahre alt, als er diesen Text über die militärische Intervention von 10.000 kubanischen Soldaten im angolanischen Freiheitskampf gegen die portugiesische Kolonialmacht verfasste. Die ältere Autoren-Generation feierte den Einsatz als Großtat der Revolution, Santiesteban beschreibt ihn als wenig heroische Mischung aus Verzweiflung, Hunger, Brutalität und Orientierungslosigkeit.
Der zentrale Gegenstand ist eine Geige, die einer der darbenden Soldaten bei sich trägt. Sie wird gegen den Willen des Musikers für Lebensmittel eingetauscht und dann mit Gewalt zurückgeholt. Denn ohne den Kunstgegenstand geht es nicht weiter. Vom Kampfauftrag, gar der Revolution ist keine Rede.
Die Erzählung gilt als ein Musterbeispiel für die Literatur der jüngeren Schriftstellergeneration, der "Generation der 90er Jahre", weil darin programmatisch und in schonungsloser Härte die offizielle Heroisierung des Angola-Krieges bloßgestellt wird. Amir Valle, geboren 1967, war einer ihrer wichtigsten Vertreter.
Die Freiheit der Andersdenkenden
Amir Valle: "Wir nahmen als erste eine sehr kritische Position gegenüber der Revolution ein. Zuvor gab es bereits einzelne Autoren, die sich kritisch äußerten wie Eduardo Heras León, Jesús Díaz, Norberto Fuentes oder Heberto Padilla. Unsere Literatur war unbequem, fiel aus dem offiziell gewünschten Diskurs heraus und bekam Probleme mit der Zensur. Aber sie stellte die Revolution nicht infrage. Wir Neunziger waren nur die ersten, die in die sozialen Probleme eindrangen, über den Verlust der ursprünglichen Werte schrieben, über die Mangelwirtschaft, den Betrug in der gesamten Gesellschaft und die Doppelmoral in der Politik. Deshalb wurde unsere Generation auch die respektlose genannt."
Fast alle Schriftsteller dieser "respektlosen Generation" wie Ángel Santiesteban oder Amir Valle sind in den Sechzigerjahren geboren, also nach dem Sieg der Revolution. Sie profitierten von den neuen Errungenschaften, genossen eine solide Ausbildung, begannen Erzählungen zu schreiben und wurden dafür mit Nationalpreisen ausgezeichnet, galten als literarische Hoffnungsträger. Doch dann erreichten die politischen Umwälzungen Ende der Achtzigerjahre in Europa auch die karibische Insel.
Amir Valle: "Der Fall der Mauer, Glasnost in der Sowjetunion, der Zusammenbruch des sozialistischen Systems – diese Ereignisse haben unseren kritischen Geist stark beeinflusst. Hinzu kam der stilistische Bruch mit der Tradition. Die Postmoderne machte sich breit, vor allem in der Poesie. Die Bekanntesten von uns waren Vertreter eines neuen, harten Realismus. Später hat man unsere Generation in zwei Tendenzen geteilt: ‚die Violenten‘, das waren wir, die Realisten, und ‚die Exquisiten‘, das war eine ziemlich große Gruppe, die das Absurde, Kafkaeske pflegte. Aber unter den damaligen Verhältnissen interessierten sich die Leute mehr für uns junge Schriftsteller, die die soziale Wirklichkeit in Literatur verwandelten."
Die Grenzen des Darstellbaren kennengelernt
Amir Valle ist der einzige seiner Generation, der aus einer revolutionären Familie stammt. Sein Vater war einer der Anführer des Widerstands gegen die Batista-Diktatur im Osten Kubas, ein Freund der Castro-Brüder und von der Revolution überzeugt. Der Sohn hingegen, aufgewachsen in privilegierten Verhältnissen, entwickelte schon als Student der Publizistik ein kritisches Sensorium. Als Fernseh- und Radiojournalist lernte er die Grenzen des Darstellbaren kennen.
Amir Valle: "1989 schickte man mich nach Cienfuegos, um eine Reportage über die beiden so genannten Jahrhundert-Bauwerke zu machen: das Atomkraftwerk und die Öl-Raffinerie. Zwei Lieblingsprojekte Fidel Castros von höchster Priorität. Ich wurde Zeuge des Betrugs beim Bau dieser beiden Werke, der schließlich abgebrochen wurde. Die Kubaner wollten sie unbedingt fertigstellen, weil es Projekte Fidels waren, aber die russischen Konstrukteure lehnten das ab, weil die Kubaner das falsche Baumaterial verwendet hatten, was zu größten Sicherheitsproblemen führen konnte. Ich war einer von vier Journalisten, die darüber berichten durften, und bekam deshalb mit, wie der Máximo Líder persönlich diesen Bauskandal zum Staatsgeheimnis erklärte. Das war für mich ein großer Schock, der alles veränderte."
Vor allem sein Schreiben. In Valles Erzählungen, für die er verschiedene kubanische Literaturpreise erhalten hat, tauchten ungewöhnliche Existenzen auf, Existenzen, die er im Viertel Centro Habana kennengelernt hatte, wo er lebte: Jugendliche im Drogenrausch, auf dem Schwarzmarkt, unter Kriminellen. Solche Leuten wollte die Regierung in der schweren Versorgungskrise der Neunzigerjahre nicht in der Literatur dargestellt haben. Sie widersprachen dem offiziellen Propagandabild vom Neuen Menschen und den Neuen Verhältnissen.
Als Amir Valle dann auch noch kritische Artikel über die gesellschaftlichen Verhältnisse in lateinamerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen begann, wurde er zunehmend marginalisiert. Die staatlichen Medien durften auf Anweisung von Kulturminister Abel Prieto keine Artikel mehr von ihm publizieren. Er musste von den bescheidenen Einnahmen seiner im Ausland erschienenen Bücher leben. Und gründete eine Literaturzeitschrift.
Amir Valle: "Ich habe "Letras en Cuba/ Kubanische Texte" herausgegeben, als es bei uns noch nichts Dergleichen gab, und es immerhin auf 30 Ausgaben gebracht. Darin habe ich kulturelle Informationen, Kritiken und literarische Essays veröffentlich und zwar als einziger Autor. Wenn ich 30 Seiten zusammen hatte, wurden sie ordentlich designt und als PDF an 5.000 Abonnenten im Ausland geschickt. Als das Kulturministerium entdeckte, dass die Zeitschrift überhaupt nicht autorisiert war, haben die Funktionäre sie verboten und meinen E-Mail-Zugang gesperrt."
Amir Valle, der Sohn eines Revolutionärs, wollte genauso wenig wie Ángel Santiesteban ein Dissident werden. Er hat nur ernst genommen, was sein Vater sagte, als er in der Schule die ersten Schwierigkeiten bekommen hatte:
Amir Valle: "Ich habe diese Revolution mitgemacht, damit du denken und sagen kannst, was du willst, auch wenn ich damit nicht einverstanden bin."
Wer Kritik äußert, gerät unter Aufsicht
Doch mit der Überzeugung von der Freiheit auch als Freiheit der Andersdenkenden eckte Amir Valle als Student, als Schriftsteller und als Journalist immer wieder an. Denn wer Kritik in Kuba äußert, selbst im Rahmen des sanktionierten Diskurses, sogar als Nationalpreisträger, gerät sehr rasch "unter Aufsicht".
Amir Valle: "Die Politische Polizei ‚kümmerte sich‘ zunächst um uns aus einem sehr merkwürdigen Grund: Sie wollte verhindern, dass wir vom Feind der Revolution manipuliert wurden. Das war ihr oft wiederholtes Motiv. Wir sollten nicht aus politischer Unwissenheit in falsche Hände geraten. Das waren Agenten der Politischen Polizei, die sich als solche zu erkennen gaben. Daneben existierten unzählige Andere, von denen wir nichts wussten. Alle Kulturinstitutionen besaßen solche Typen, von denen einige uns ganz freundlich Ratschläge gaben, wenn wir uns angeblich ‚verirrt‘ hatten. Damit versuchten sie unter anderem neue Informanten zu gewinnen. Einer meiner besten Freunde und Trauzeuge war so ein Agent."
Doch Amir Valle ließ sich davon nicht beeindrucken. Er begann Anfang des letzten Jahrzehnts eine Serie gesellschaftskritischer Kriminalromane zu schreiben, sich also auf ein Genre einzulassen, mit dem bereits der ältere Leonardo Padura Schwierigkeiten bekommen hatte. Die Romane konnten nur im Ausland erscheinen. Eines Tages wurde er auf einer Veranstaltung des Schriftsteller- und Künstlerverbands UNEAC zur Rede gestellt.
Amir Valle: "Einer der Funktionäre sagte mir vor den 400 Teilnehmern dieser Versammlung: Wenn ich derart unzufrieden mit der Lage in Kuba sei, dann könne ich doch gehen. Ich antwortete ihm darauf: Das hätte ich gar nicht vor; wenn hier jemand gehen solle, dann Leute wie er, die das Land zugrunde gerichtet haben. Die einzige Art mich loszuwerden sei es, mich in ein Flugzeug zu stecken und aus Kuba rauszuschmeißen."
Die Reaktion folgte ein Jahr später. Als er 2005 zusammen mit seiner Frau von einer Veranstaltung in Madrid zurückfliegen wollte, wurde ihm dies verweigert. Er war dem Regime in Kuba zu gefährlich geworden und gilt seither als persona non grata. Amir Valle, auf heimliche Art ausgebürgert, lebt seitdem mit seiner Familie in Berlin.
"‘Wir werden über diese minderwertigen Oppositionellen sprechen, die verhaftet wurden, Facundo‘, hatte Fidel ihm ein paar Stunden zuvor gesagt, als sie den Sicherheitsplan für den Tag durchgegangen waren. Das Thema passte ihm nicht. Und es passte ihm noch weniger angesichts der besonderen Zuneigung, die er stets für García Márquez empfunden hatte, einen der wenigen Freunde, die ihm immer noch das sagen konnten, was die Dissidenten ‚unbequeme Wahrheiten für Castro‘ nannten. Er hätte die Freundschaft mit Gabo lieber frei von Politik gehalten, aber die Umstände dieser Zeit machten aus einem Schriftsteller mit dem Ansehen des Kolumbianers auch gegen seinen Willen ein ‚politisches Tier‘."
"Die Wörter und die Toten. Nachruf auf eine Revolution" – so hat Amir Valle seine Abrechnung mit dem Castro-Regime genannt. Er erzählt sie aus der Sicht des Leibwächters Facundo. In dieser Passage geht es um den ‚Schwarzen Frühling 2003‘. Damals wurden in einer Nacht- und Nebelaktion 75 Dissidenten verhaftet, unter ihnen der berühmte Poet Raúl Rivero, und von Schnellgerichten zu drakonischen Strafen verurteilt. Gabriel García Márquez, von seinen Freunden Gabo genannt, warnt Fidel Castro vor den Folgen.
"‘Ich befürchte, dass das wieder so eine Krise ist wie in den Siebzigern, Fidel‘, hörte er Gabo sagen. ‚Du hast die Hälfte der Intellektuellen gegen dich. Diese Leute zu verhaften, hat alles noch komplizierter gemacht.‘
‚Wofür willst du dich denn nun einsetzen, Mensch?‘
‚Mal sehen, ob du das verstehst‘, sagte der Kolumbianer. Er wusste, dass Fidel kein Mann war, der seine Fehler zugab. ‚Diesen sogenannten Dissidenten kann man lediglich vorwerfen, dass sie das Spielchen der Gringos mitgespielt und deren Kohle eingesteckt haben.‘
‚Willst du mir etwa nahe legen, dass ich diese Verräter freilassen soll, Gabo? Wie zum Teufel glaubst du, wird das verstanden werden? Man wird sagen, dass dieser Abschaum von der Europäischen Union, Bush und seine Anhänger mich gezwungen hätten, die Sache zu überdenken.‘
‚Ich bin nicht hier, um mir darüber Gedanken zu machen", antwortete García Márquez. "Man hat mich gebeten, dir das mitzuteilen, und das mache ich um so lieber, weil auch ich davon überzeugt bin. Ich glaube, es wäre ein treffender Schlag gegen deine Kritiker, Rivero freizulassen.‘
Facundo sah, wie der Jefe aufstand, mit über der Brust gefalteten Händen und gesenktem Blick umherging und dann vor einem breiten Fenster stehenblieb, von dem er auf die dicht belaubten Kronen der Bäume rings um den Palast der Revolution sehen konnte.
‚Dieser … Rivero … ist mein Feind‘, sagte er dann. ‚Mein persönlicher Feind, Gabo. Niemand hat mich so sehr angegriffen wie er. Deshalb sag denen, die dich um diesen Gefallen gebeten haben, dass dieser Scheißkerl, solange ich lebe, nicht aus dem Gefängnis kommt, es sei denn, es passt mir.‘ " (Amir Valle: Die Wörter und die Toten. Aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen. Edition Köln. Köln 2007)
‚Wofür willst du dich denn nun einsetzen, Mensch?‘
‚Mal sehen, ob du das verstehst‘, sagte der Kolumbianer. Er wusste, dass Fidel kein Mann war, der seine Fehler zugab. ‚Diesen sogenannten Dissidenten kann man lediglich vorwerfen, dass sie das Spielchen der Gringos mitgespielt und deren Kohle eingesteckt haben.‘
‚Willst du mir etwa nahe legen, dass ich diese Verräter freilassen soll, Gabo? Wie zum Teufel glaubst du, wird das verstanden werden? Man wird sagen, dass dieser Abschaum von der Europäischen Union, Bush und seine Anhänger mich gezwungen hätten, die Sache zu überdenken.‘
‚Ich bin nicht hier, um mir darüber Gedanken zu machen", antwortete García Márquez. "Man hat mich gebeten, dir das mitzuteilen, und das mache ich um so lieber, weil auch ich davon überzeugt bin. Ich glaube, es wäre ein treffender Schlag gegen deine Kritiker, Rivero freizulassen.‘
Facundo sah, wie der Jefe aufstand, mit über der Brust gefalteten Händen und gesenktem Blick umherging und dann vor einem breiten Fenster stehenblieb, von dem er auf die dicht belaubten Kronen der Bäume rings um den Palast der Revolution sehen konnte.
‚Dieser … Rivero … ist mein Feind‘, sagte er dann. ‚Mein persönlicher Feind, Gabo. Niemand hat mich so sehr angegriffen wie er. Deshalb sag denen, die dich um diesen Gefallen gebeten haben, dass dieser Scheißkerl, solange ich lebe, nicht aus dem Gefängnis kommt, es sei denn, es passt mir.‘ " (Amir Valle: Die Wörter und die Toten. Aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen. Edition Köln. Köln 2007)
Schonungslose Demontierungen der Autokraten
Schonungslos demontiert Amir Valle den ‚Máximo Líder‘ als unduldsamen, kleinkarierten Autokraten oder – wie in diesem Auszug – dessen gebrochenes Verhältnis zu den Intellektuellen. Die intime Perspektive des Leibwächters erlaubt ihm eine große Gestaltungsfreiheit. Valle selbst kennt das Regime, ist den Castro-Brüdern und ihrer Entourage oft begegnet und lässt zahlreiche Hauptfiguren aus 50 Revolutionsjahren in seinem Kaleidoskop auftreten.
Amir Valle: "Das ist eine andere Sicht der Geschichte als jene, die man uns erzählt hat. Der Roman besteht aus Anekdoten, die ich auf der Straße gehört habe. Ich teile hier keine Fakten mit, sondern das, was das kubanische Volk von der großen Geschichte denkt. Deshalb habe ich zum Beispiel nicht die offizielle Version von der Erschießung General Ochoas wiedergegeben, der 1989 wegen Drogenhandels zum Tod verurteilt wurde, sondern das, was ich von einem Leibwächter darüber gehört habe, der beim letzten Gespräch zwischen Fidel und Ochoa kurz vor dessen Erschießung dabei war."
"Sie da zu sehen, wie sie einander in die Augen blickten und leise etwas murmelten, das er kaum hören konnte – Fidel mit überkreuzten Beinen auf dem Metallstuhl und Ochoa rittlings mit der Stuhllehne an der Brust –, brachte ihn auf den Gedanken, dass alles von Anfang an ausgehandelt worden war, dass er einer Inszenierung zusah, deren Drehbuch er vielleicht niemals finden würde."
Schauprozess gegen populären General
General Ochoa war der Oberbefehlshaber im Angola-Krieg, als ‚Held der Republik‘ hoch dekoriert und von der Bevölkerung verehrt. In der Wirtschaftskatastrophe Ende der Achtzigerjahre gehörte er zu jenen Devisenbeschaffern, die das Regime mit allen Mitteln vor dem Schlimmsten zu bewahren versuchten. Dass sie auch nicht vor Drogenhandel zurückschreckten, machten die USA publik. Daraufhin statuierte Fidel Castro ein Exempel, um die Revolution vom Makel krimineller Handlungen zu befreien. In einem Schauprozess opferte er als angeblichen Hauptschuldigen den populärsten seiner Generäle.
"‘Glaubst du wirklich, dass es sich lohnt, Jefe?‘, fragte Ochoa.
‚Ich an deiner Stelle würde das Gleiche tun‘, war Fidels Antwort.
‚In diesen Tagen … habe ich … manchmal Angst gehabt.‘
‚Vor dem Tod?‘
‚Sich zu opfern, ist zum Kotzen, Jefe.‘
‚Erinnerst du dich an Martí…?‘, wollte Fidel sagen.
‚Du weißt, dass das etwas anderes ist", unterbrach ihn Ochoa und blickte ihm jetzt in die Augen. ‚Ich gehe als Verräter, als ein Ehrloser.‘
‚Eines Tages wird man es wissen…‘
‚Was wird man wissen?"
"Dass du kein Verräter bist, Arnaldo.‘
Facundo sah Ochoa lächeln, mit gesenktem Kopf, auf die Rücklehne des Stuhls gestützt.
‚Darf ich dich etwas fragen?‘
Facundo sah, wie der Jefe mit vor Aufmerksamkeit angespannten Gesichtszügen nickte.
‚Welche Garantie haben wir dafür, dass …, die Revolution, verstehst du, ewig dauern wird?‘, und wartete auf die Antwort des anderen, der den Kopf mit dieser zweifelnden Miene zur Seite neigte, die Facundo so gut kannte, bevor er eine Gegenfrage stellte.
‚Was soll das jetzt, Arnaldo?‘
‚Ramirito ist zu mir gekommen, geheimnisvoll wie immer, und hat mir vorgeworfen, dass ich für alle ein ewiger Verräter bleibe, wenn die Revolution zum Teufel geht.‘
‚Ein ewiger Verräter…‘
‚Für unsere Leute habe ich mit Drogen gehandelt, geraubt, betrogen", erklärte Ochoa. "Für die Feinde werde ich ein Held sein, wenn das hier zusammenbricht, und das ist das gleiche, als würde ich mich selbst verraten.‘
‚Ein Trost bleibt dir.‘
‚Ein Trost? Was für einer?‘
‚Die Freundschaft, Arnaldo", sagte Fidel. ‚Glaubst du, ich habe vergessen, dass du dich auch aus der Brüderlichkeit opferst, die uns vereint?‘"
‚Ich an deiner Stelle würde das Gleiche tun‘, war Fidels Antwort.
‚In diesen Tagen … habe ich … manchmal Angst gehabt.‘
‚Vor dem Tod?‘
‚Sich zu opfern, ist zum Kotzen, Jefe.‘
‚Erinnerst du dich an Martí…?‘, wollte Fidel sagen.
‚Du weißt, dass das etwas anderes ist", unterbrach ihn Ochoa und blickte ihm jetzt in die Augen. ‚Ich gehe als Verräter, als ein Ehrloser.‘
‚Eines Tages wird man es wissen…‘
‚Was wird man wissen?"
"Dass du kein Verräter bist, Arnaldo.‘
Facundo sah Ochoa lächeln, mit gesenktem Kopf, auf die Rücklehne des Stuhls gestützt.
‚Darf ich dich etwas fragen?‘
Facundo sah, wie der Jefe mit vor Aufmerksamkeit angespannten Gesichtszügen nickte.
‚Welche Garantie haben wir dafür, dass …, die Revolution, verstehst du, ewig dauern wird?‘, und wartete auf die Antwort des anderen, der den Kopf mit dieser zweifelnden Miene zur Seite neigte, die Facundo so gut kannte, bevor er eine Gegenfrage stellte.
‚Was soll das jetzt, Arnaldo?‘
‚Ramirito ist zu mir gekommen, geheimnisvoll wie immer, und hat mir vorgeworfen, dass ich für alle ein ewiger Verräter bleibe, wenn die Revolution zum Teufel geht.‘
‚Ein ewiger Verräter…‘
‚Für unsere Leute habe ich mit Drogen gehandelt, geraubt, betrogen", erklärte Ochoa. "Für die Feinde werde ich ein Held sein, wenn das hier zusammenbricht, und das ist das gleiche, als würde ich mich selbst verraten.‘
‚Ein Trost bleibt dir.‘
‚Ein Trost? Was für einer?‘
‚Die Freundschaft, Arnaldo", sagte Fidel. ‚Glaubst du, ich habe vergessen, dass du dich auch aus der Brüderlichkeit opferst, die uns vereint?‘"
(Amir Valle: Die Wörter und die Toten.)
Als sarkastischen Bruder des Angeklagten lässt der Amir Valle Castro hier auftreten, denn das Urteil lag in seinen Händen. Der Titel des Buches "Die Wörter und die Toten" verweist auf die endlosen Suaden , in denen der ‚Máximo Líder‘ und seine Kader Fehlentwicklungen rituell beschönigt und von der eigenen Verantwortung abgelenkt haben, sowie auf die Toten, die diese Revolution in Jahrzehnten gekostet hat. So unglaublich auch manche Anekdoten klingen mögen – sie dürften doch den Kern der Verhältnisse treffen.
Amir Valle: "Nachdem verschiedene der Protagonisten der Geschichte den Roman gelesen haben, teilten sie mir mit, dass ich der Wahrheit sehr nahe gekommen sei. Das zeigt mir, dass das Volk in seiner Unwissenheit, seinem Mangel an zuverlässiger Information einen untrüglichen Sinn für die wirklichen Verhältnisse besitzt."
"Die Wörter und die Toten", 2006 im Berliner Exil vollendet, wurde von Mario Vargas Llosa und von Herta Müller hoch gelobt. Danach hat Amir Valle eine ganze Reihe weiterer Bücher geschrieben, unter anderem "Habana Babilonia" über die Prostitution in Kuba.
Ángel Santiesteban: "Er war der erste meiner Generation, der den Mund aufmachte, der nicht nur eine kritische Literatur schrieb, sondern sich auch öffentlich kritisch äußerte. Er wurde dafür als Oppositioneller gebrandmarkt und hat alle Konsequenzen zu spüren bekommen. Ich habe einmal Abel Prieto auf der Buchmesse in Havanna erlebt, der war inzwischen Kulturminister geworden und begrüßte alle möglichen Leute, sogar mich, nur Amir hat er demonstrativ übersehen. Ich erinnere mich auch, wie die UNEAC einen anderen bedeutenden Schriftsteller, Antonio José Ponte, aus dem Verband ausgeschlossen hat und wie wir anderen aus Angst dazu schwiegen."
Antonio José Ponte: "Wenn die UNEAC wirklich die Prinzipien einer revolutionären Kultur vertreten würde, hätten sie mich ausgeschlossen. Aber sie nannten das ‚Deaktivierung’: Ich wurde 2003 ‚de-aktiviert’. Und das ist ein Euphemismus. Denn ein solcher Ausschluss bedeutet: Man darf in Cuba nichts mehr veröffentlichen, darf am offiziellen literarischen Leben nicht mehr teilnehmen, darf keine Vorträge halten, darf noch nicht einmal bei der Präsentation des Buchs von einem Freund das Wort ergreifen und darf auch keine Buchmesse mehr besuchen."
Antonio José Ponte, Jahrgang 1964, ein weiterer Vertreter der Neunziger-Generation.
Antonio José Ponte: "Außerdem ließen sie mich lange Zeit keine Einladungen im Ausland annehmen. Sie haben das zwar immer bestritten, mir jedoch nie ein Ausreisvisum erteilt. Und schließlich durfte noch nicht einmal mehr mein Name genannt werden. Viele Freunde, die mir ein Gedicht gewidmet haben, mussten deshalb einen anderen Namen verwenden, weil man das Buch sonst nicht veröffentlicht hätte."
Die Vita von Antonio José Ponte gleicht der seiner Kollegen. Er hat in den Neunzigerjahren Bände mit Gedichten und Essays veröffentlicht, hat dafür zwei wichtige Preise erhalten und durfte auch im Ausland publizieren. Doch anders als Amir Valle und Ángel Santiesteban wollte er sich nicht wissenschaftlich mit Literatur auseinandersetzen.
Antonio José Ponte: "Ich habe Ingenieurwissenschaft studiert, weil ich Leute in den Geisteswissenschaften kannte, die mir von den vielen verbotenen Autoren erzählten. Kafka oder Joyce wurden nur am Rand erwähnt, weil sie eigentlich verbannt waren. Viele Autoren, die mich sehr interessierten, waren gänzlich verboten: Lezama Lima, Piñeira, Paz, Borges, Vargas Llosa, Cabrera Infante, Arenas, Sarduy. Warum sollte ich mir eine Welt erschließen, die völlig leer war? Also habe ich Bauingenieur studiert, die Mathematik faszinierte mich schon immer, und später sogar fünf Jahre lang diesen Beruf ausgeübt."
"Die Mehrheit in Kuba will keine 30 Jahre alt werden"
Wie Amir Valle ist auch Antonio José Ponte in der Provinz in Matanzas geboren. Als 16-jähriger Schüler ging er erstmals auf Distanz zur Revolution. 1980 erlebte er die chaotische Massenflucht von Zehntausenden Kubanern nach Florida.
Antonio José Ponte: "Wer jedoch das Land verlassen wollte, musste zunächst eine Art Kreuzweg passieren, wo die Polizei auf ihn einprügelte. Alle wurden schikaniert, es fehlte nur noch, dass man jemanden gelyncht hätte. Ich habe mich damals gefragt, wenn das hier das Paradies sein soll, warum fliehen die dann alle? Und warum erlauben die Autoritäten diesen Kleinkrieg gegen die eigenen Leute? Damals begann mein Bruch mit dem System, nicht öffentlich, sondern lange Zeit ganz privat."
Während des Studiums geriet Ponte zum ersten Mal in Konflikt mit den Autoritäten. Er wollte nicht hinnehmen, dass nur Professoren über die damals in Kuba seltenen Computer verfügten und Studenten komplexe Berechnungen ohne sie ausführen mussten. Das brachte ihm kurz vor dem Abschluss ein Verfahren wegen Unbotmäßigkeit und eine einjährige Studienunterbrechung als Strafe ein. Später nutzte er seine Bekanntheit als Schriftsteller und verfasste kritische Artikel über die sozialen Verhältnisse im Land. 1999 kam es wegen eines Beitrags, den er für eine Zeitschrift der UNESCO verfasst hatte, zum Eklat.
Antonio José Ponte: "Man hatte mich gebeten, einen Artikel darüber zu schreiben, wie sich ein 20-Jähriger in Kuba fühlt. Ich teilte darin mit, dass es der kubanischen Jugend dieses Alters an Hoffnung fehlt, dass die Mehrheit am liebsten emigrieren würde mit Hilfe eines Freundes oder einer Freundin und sogar auf einem Floß und, dass die Mehrheit von ihnen keinesfalls in Kuba 30 Jahre alt werden wollte. Dieser Artikel hatte zur Folge, dass die Zeitschrift von allen Kiosken entfernt wurde und ich ein Haufen Probleme bekam."
Misstrauen unter den Hardlinern
Außerdem schrieb Antonio José Ponte regelmäßig für die Exilzeitschrift "Encuentro de la cultura cubana". Jesús Díaz, einer der schärfsten Kritiker des Castro-Regimes, hatte sie 1996 in Madrid gegründet. Er wollte damit eine intellektuelle Brücke zwischen der Insel und dem Exil bauen. Das traf bei den Hardlinern auf großes Misstrauen. Sie unterstellten sogar, Encuentro werde vom CIA finanziert: eineunter Umständen lebensgefährliche Diffamierung, die Funktionäre immer dann verwenden, wenn ihnen die Argumente fehlen. Die Mitarbeit an einem solchen Blatt verstärkte die Akte von Antonio José Ponte, die die "Genossen" im Kulturministerium und in der UNEAC führten. 2003 wurde er "deaktiviert" – im selben Jahr wie Amir Valle.
Amir Valle: "Mit Ponte machten sie das gleiche wie mit mir. Auch ihn ließen sie nicht zurückkehren. Mein Fall hing mit meinem Einfluss auf die jüngere Generation und dem neuen Verständnis von Kulturpolitik in Kuba zusammen. Pontes Fall richtete sich auf seine Außenwirkung. Damals wollte das Regime unbedingt eine Verständigung zwischen der Insel und dem Exil verhindern. Pontes Probleme verstärkten sich noch, weil man ihn für einen offiziellen Vertreter der Zeitschrift ‚Encuentro de la cultura cubana‘ in Havanna hielt."
"Immer stand jemand unter Verdacht. Unter Beobachtung. Bespitzelung und Tribunale zeugten von revolutionärer Wachsamkeit. In Versammlungen zur kommunistischen Erziehung wurden Verratsvorwürfe wie Psychodramen eingebunden, und Reden zur Selbstbezichtigung, in einer schlechten Mischung aus Agora und Beichtstuhl, waren obligatorisch." (Antonio José Ponte in La fiesta vigilada/ Der Ruinenwächter von Havanna.)
"Die Polizei filzte umstandslos jedes Gepäckstück, das ihr bei Passanten verdächtig erschien. Die Revolutionsregierung verfügte die Einrichtung von Schul- und Arbeitsakten. Lehrer oder Fabrikverwalter brauchten nur zu drohen, wie endgültig ein Fleck in diesen Akten sein konnte. Schuld wurde unter der Herrschaft der Revolution fortan genetisch vererbt." (Antonio José Ponte: Der Ruinenwächter von Havanna. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Verlag Antje Kunstmann. München 2008. Übersetzung: Sabine Giersberg)
2006 konnte Ponte Kuba verlassen. Er lebt seither in Madrid und arbeitet als stellvertretender Herausgeber der digitalen Exilzeitung "Diario de Cuba". 2007 erschien der "Ruinenwächter", an dem er jahrelang gearbeitet hatte. Darin zeigt er die Revolution auf dem Tiefpunkt und dringt Schicht um Schicht in diese Ruine vor, in den äußerlichen wie in den innerlichen Zerfall. Die Verwahrlosung der Hauptstadt als Metapher eines ruinierten revolutionären Projektes.
Kunstvoll verknüpft Antonio José Ponte seine Darstellungen mit den Irrtümern europäischer Intellektueller wie Jean-Paul Sartre oder Graham Greene. Green entwirft in seinem berühmten Roman "Unser Mann in Havanna" ein wenig realitätshaltiges Bild von der kubanischen Metropole kurz vor der Revolution. Die Vielzahl der Anspielungen und Bezüge in Pontes Buch verlangt eine besondere Form, sie sprengt den traditionellen Roman.
Antonio José Ponte: "Für mich ist das ein hybrides Werk, das romanhafte und essayistische Teile enthält, Fiktives und Autobiografisches. Kein Roman hätte mir erlaubt, das zu erzählen, was mir wichtig war. Und auch kein Essay. Deshalb habe ich die mir nützlich erscheinenden Eigenschaften von beiden Genres verwendet."
Mit Humor gegen das Regime
Als ein für revolutionäre Fehlplanungen besonders typisches Beispiel beschreibt Antonio José Ponte mit der ihm eigenen Ironie den Bau der Escuelas de Arte, der neuen Kunsthochschulen. Sie sollten in einem Gebäudekomplex im havanner Vorort Cubanacán konzentriert werden.
"Eines Abends im Januar 1961 skizzierte der Revolutionsführer auf der Terrasse des Havana Country Club vor seinem Gefolge seinen Plan, dem bürgerlichen Müßiggang eine Lehre zu erteilen. In dem Jahr hatte man noch Zeit zum Golfspielen, es gibt Erinnerungsfotos. Die nationale Alphabetisierungskampagne lief und sollte im Dezember abgeschlossen sein, da war es notwendig über die Ausbildung von Künstlern nachzudenken. Und welcher Ort war besser geeignet als der Golfplatz auf einem der teuersten Gelände der Stadt, um die dem neuen Menschen gewidmeten Kunstschulen zu bauen? (…)
‚Die schönste Kunstakademie der Welt‘, verkündete der Regierungschef, als die Pläne für das Gebäude vorlagen.
Der Unterricht fing noch während der Bauarbeiten an. Um die Basis einer der Kuppeln zu gießen, wurden Lehrer und Studenten zusammengerufen. Die Musiker spielten auf ihren Trommeln, um das Gießen zu beschleunigen. Sartres Prophezeiung einer schönen Revolutionsarchitektur schien sich zu erfüllen.
Doch dann wurden auf Befehl der Regierung die Bauarbeiten an der Kunsthochschule gestoppt. Die Behörden schoben finanzielle Gründe vor: die Kosten der Bauarbeiten, Initiativen, die das Land dringender brauchte. Der, der die schönste Akademie der Welt proklamiert hatte, kritisierte in einer Ansprache vor Architekten und Ingenieuren die Fachleute, die jedes Gebäude, mit dem man sie beauftragte, zu etwas Besonderem machen wollten.
Das war mehr als deutlich. Gebäude, die geplant wurden, um das elitäre Denken des alten Regimes abzustrafen, förderten am Ende das elitäre Denken ihrer Planer. (…)
Die Kunstakademie brachte die Eitelkeit des Havana Country Club nicht zum Verstummen. Vor Rundungen, Kuppeln und labyrinthischen Gängen strotzend, scherten sich diese Gebäude nicht um die Dringlichkeit des rechten Winkels. (…)
Der Komplex wurde dennoch im Juli 1965 eingeweiht. Er war noch nicht fertig und sollte es auch niemals werden. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Begeisterung der Regierung bereits in Missbilligung verwandelt. Die Gebäude wurden eingeweiht und zugleich lahmgelegt. Und so kam der revolutionäre Baueifer zu seinen schönsten Ruinen, die nicht einmal von den verfallenden älteren Bauten übertroffen wurden. (…)
Der Fachbereich Architektur der Universidad de la Habana verbot den Studenten, Cubanacán zu besuchen oder die Kunsthochschulen zu erwähnen. Diese Gebäude sollten niemanden als Beispiel dienen, in der Baugeschichte kamen sie nicht vor. Sie wurden verborgen wie Maya-Ruinen." (Antonio José Ponte: Der Ruinenwächter von Havanna)
‚Die schönste Kunstakademie der Welt‘, verkündete der Regierungschef, als die Pläne für das Gebäude vorlagen.
Der Unterricht fing noch während der Bauarbeiten an. Um die Basis einer der Kuppeln zu gießen, wurden Lehrer und Studenten zusammengerufen. Die Musiker spielten auf ihren Trommeln, um das Gießen zu beschleunigen. Sartres Prophezeiung einer schönen Revolutionsarchitektur schien sich zu erfüllen.
Doch dann wurden auf Befehl der Regierung die Bauarbeiten an der Kunsthochschule gestoppt. Die Behörden schoben finanzielle Gründe vor: die Kosten der Bauarbeiten, Initiativen, die das Land dringender brauchte. Der, der die schönste Akademie der Welt proklamiert hatte, kritisierte in einer Ansprache vor Architekten und Ingenieuren die Fachleute, die jedes Gebäude, mit dem man sie beauftragte, zu etwas Besonderem machen wollten.
Das war mehr als deutlich. Gebäude, die geplant wurden, um das elitäre Denken des alten Regimes abzustrafen, förderten am Ende das elitäre Denken ihrer Planer. (…)
Die Kunstakademie brachte die Eitelkeit des Havana Country Club nicht zum Verstummen. Vor Rundungen, Kuppeln und labyrinthischen Gängen strotzend, scherten sich diese Gebäude nicht um die Dringlichkeit des rechten Winkels. (…)
Der Komplex wurde dennoch im Juli 1965 eingeweiht. Er war noch nicht fertig und sollte es auch niemals werden. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Begeisterung der Regierung bereits in Missbilligung verwandelt. Die Gebäude wurden eingeweiht und zugleich lahmgelegt. Und so kam der revolutionäre Baueifer zu seinen schönsten Ruinen, die nicht einmal von den verfallenden älteren Bauten übertroffen wurden. (…)
Der Fachbereich Architektur der Universidad de la Habana verbot den Studenten, Cubanacán zu besuchen oder die Kunsthochschulen zu erwähnen. Diese Gebäude sollten niemanden als Beispiel dienen, in der Baugeschichte kamen sie nicht vor. Sie wurden verborgen wie Maya-Ruinen." (Antonio José Ponte: Der Ruinenwächter von Havanna)
Amir Valle: "Dieser Roman erzählt auf geniale Weise, was wir und die Generationen nach uns von der Revolution halten sollten. In diesem Geist haben wir in Kuba gelebt. Man wollte uns glauben machen, dass alles ein großes Fest sei. Es war jedoch von allen Seiten umzingelt und Gesetzen unterworfen, gegen die wir nichts ausrichten konnten."
"Ich weiß nicht mehr, ob ich weinen oder mich fallen lassen soll, eine plötzliche Lethargie lähmt mich, raubt mir das Bewusstsein, macht mich hilflos. Jetzt ohrfeigen sie mich wieder, aber es ist mir egal, ob sie mich misshandeln oder nicht, ich bin jedoch inzwischen überzeugt, dass irgendetwas in dem System oder in ihrem Verstand nicht funktioniert.
Dann spricht plötzlich ein Unbekannter aus meinem Mund, ohne meine Zustimmung: Tötet mich, wenn es euch beliebt, sage ich, ich weiß nichts, was euch glücklich machen könnte. Aber der Genosse, der sich um mich kümmert, lächelt: nein, hier tötet und foltert man doch nicht, die Revolution macht so etwas nicht, wir helfen euch nur, der Entfremdung zu entkommen." (Enrique Del Risco (ed.): El compañero que me atiende. Editorial Hypermedia, 2017)
Dann spricht plötzlich ein Unbekannter aus meinem Mund, ohne meine Zustimmung: Tötet mich, wenn es euch beliebt, sage ich, ich weiß nichts, was euch glücklich machen könnte. Aber der Genosse, der sich um mich kümmert, lächelt: nein, hier tötet und foltert man doch nicht, die Revolution macht so etwas nicht, wir helfen euch nur, der Entfremdung zu entkommen." (Enrique Del Risco (ed.): El compañero que me atiende. Editorial Hypermedia, 2017)
Ángel Santiestebans Erzählung "Richelieus Männer" in der Anthologie "El compañero que me atiende". Der in New York lebende, kubanische Autor Enrique Del Risco gab sie 2017 heraus. Er gehört ebenfalls zur Generation der Neunziger, wie Amir Valle und Antonio José Ponte.
Amir Valle: "Enrique Del Risco, Enrisco – wie wir ihn nannten – war in Kuba für seine kritische Haltung bekannt. Er war Teil einer Gruppe von Schriftstellern, die in der Umbruchzeit Ende der Achtzigerjahre, Anfang der Neunzgierjahre verstärkt mit politischem Humor arbeitete. Sie versuchten in kurzen Texten die kubanische Geschichte neu zu interpretieren und zwar aus einer kritisch-humoristischen Sicht … Sie scheuten auch nicht vor José Martí oder Antonio Maceo zurück, eigentlich unberührbaren Mythen der Revolution. Das brachte ihnen sehr viel Kritik ein."
Als der Druck unerträglich wurde, gelang Enrique Del Risco die Emigration in die USA. Er promovierte an der New York University in kubanischer Geschichte und wurde ein angesehener Autor von politischen Kommentaren, Erzählungen, Essays, Romanen und der Herausgeber der in den USA auf Spanisch publizierten Anthologie "El compañero que me atiende".
Enrique Del Risco: "Ich bin immer wieder auf Darstellungen gestoßen, in denen Schriftsteller die Methoden ihrer Verfolgung und Überwachung, aber auch die der gesamten Bevölkerung durch die kubanische Staatssicherheit festgehalten haben und zwar in allen möglichen literarischen Gattungen. Diese Zeugnisse habe ich gesammelt und ein Archiv angelegt. Dann kam ich auf die Idee, daraus eine Anthologie zu machen. Aus urheberrechtlichen Gründen habe ich nur Texte von lebenden Autorinnen und Autoren aufgenommen. Dabei fiel mir auf, dass es in diesem Panorama des totalen Überwachungsstaates eine Konstante gibt: die Angst. Das Regime hat es fertig gebracht, dass wir Kubaner innerhalb und außerhalb der Insel die Stimme senken, wenn wir über die Repression sprechen. Wir haben den ‚Compañero‘ längst verinnerlicht."
Mehr als 50 Texte hat Enrique Del Risco zu einer ungewöhnlichen, rund 470 Seiten starken "Geschichte der Angst" vereint. Sie reicht von den Anfängen der Revolution 1959 bis in unsere Zeit. Und ist doch nur ein winziger Ausschnitt der täglichen Verletzungen von Menschenrechten durch das kubanische Regime.
Enrique Del Risco: "Den Titel des Buches haben ‚sie‘ selbst erfunden. Er ist ein Euphemismus und soll ausdrücken: Ich beobachte, ich verfolge dich, ich kümmere mich um dich. Wir benützen den Ausdruck inzwischen als Witz. Wenn wir jemandem misstrauen, dann sagen wir, das ist ein ‚Genosse, der sich um uns sorgt‘."
Internationale Hilfe für den Dissidenten
Valle Amir und Antonio José Ponte haben Beiträge für die Anthologie von Enrique Del Risco geschrieben, auch Ángel Santiesteban .
Enrique Del Risco: "Sein Fall ist ein Beispiel dafür, wie das System von Raúl Castro funktioniert hat. Er vermied großes Aufsehen, anders als Fidel Castro, der in einem Schauprozess u.a. den Dichter Raúl Rivero zu 25 Jahren Haft wegen angeblicher ‚Feindpropaganda‘ hatte verurteilen lassen. Sein Bruder Raúl hat Ángel nur fünf Jahre wegsperren lassen wegen angeblicher ‚häuslicher Gewalt‘. Wem das jedoch unterstellt wird, der hat schlechtere Karten als ein Täter aus politischer Überzeugung, denn dieser ist leichter mit Argumenten zu verteidigen. Deshalb halte ich das System von Raúl Castro für noch perverser."
Ángel Santiesteban: "Sie haben alles versucht, um nachzuweisen, dass ich in die Wohnung eingedrungen sei und meine Frau attackiert habe. Nur war ich zu dem Zeitpunkt gar nicht in der Nähe, und das konnte ich sogar mit Hilfe von13 Zeugen nachweisen, aber für die interessierte sich das Gericht überhaupt nicht. Man wollte mich hinter Gitter bringen, mich aus dem Verkehr ziehen, weil ich mich nicht von meinen Aktivitäten abhalten ließ und beispielsweise an einer Demonstration gegen die Verhaftung des Dissidenten Antonio Rodiles teilgenommen habe. Dabei wurde ich zusammengeschlagen, und es wurde mir ein Arm gebrochen. Das war 2012, einige Monate bevor man mich einsperrte."
16 Tage im Hungerstreik
Für Santiesteban setzten sich sehr bald internationale Organisationen wie Amnesty International und Reporter ohne Grenzen ein. Selbst der damalige Außenminister Steinmeier nahm sich seiner an. Deshalb musste der Schriftsteller nur die Hälfte seiner Haftzeit absitzen. Er konnte im Gefängnis schreiben und fühlte sich dort drinnen oft freier als unter dem ständigen Druck der Beobachtung draußen. Dennoch verlor er manchmal die Hoffnung.
Ángel Santiesteban: "Ich war 16 Tage im Hungerstreik und wollte eigentlich sterben. Ich war verzweifelt über meine Situation. Ich habe den Wächtern gesagt: Grabt mir ein Loch, und ich lege mich rein. Aber dann haben sie meine jetzige Frau gerufen, eine bekannte kubanische Schauspielerin, und die sagte mir: ‚Spiel nicht den Märtyrer, du musst deine Aufgabe als Dissident erfüllen. Mach‘ ihnen nicht die Freude zu sterben, das hätten sie gern.‘"
Ángel Santiesteban pflegt einen drastischen Neorealismus in den Erzählungen, ob er nun sein eigenes Leiden verarbeitet oder der Flucht der Kubaner ein literarisches Denkmal setzt, den so genannten Balseros, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um dem Elend und der Perspektivlosigkeit auf der Insel zu entkommen und nach Florida in die USA zu fliehen.
"Mit dem Schub des Floßes durchbrechen wir das graue Glas des Abends und flüchten uns in die Nacht. Wir sind losgefahren, als wir sicher sein konnten, dass uns die Sonne nicht mehr die Haut in Fetzen brannte. Um uns herum, die ganze Küste entlang, setzen sich Dutzende von irgendwie schwimmtauglichen Konstruktionen in Bewegung. Unsere ist ein zehn Fuß langes Floß, dem wir unser aller Leben anvertraut haben, und mit ausgestreckten Armen fahren wir auf das Land im Norden zu, auch wenn wir, um dorthin zu gelangen, zwischen Haien hindurchpflügen und den Gefahren im Todestrakt der Floridastraße trotzen müssen. Ich schaue in die Gesichter um mich herum, im Glanz ihrer Augen sehe ich die Hoffnung auf ein neues Leben." (Ángel Santiesteban: Wölfe in der Nacht.)
"Die Kinder, die keiner wollte" heißt diese Erzählung. Der Titel hat eine mehrfache Bedeutung. Er bezieht sich auf die vor der Revolution Flüchtenden. Und auf die eigenen Texte des Autors, die nicht gedruckt werden durften. Sowie auf jene Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die aus Angst verstummten, aber auch auf all die anderen, die das Regime vertrieben hat und die im Ausland eine Literatur der Dissidenz geschaffen haben. Und schließlich auf den Autor selbst, auf Ángel Santiesteban, den das offizielle Kuba ‚nicht will‘ und der dennoch auf der Insel weiterschreibt.
"Ich habe nicht mitbekommen, wann der Sturm vorbei war. Als ich aufwache, ist meine Brust voller Erbrochenem. Rings um uns ist alles bedeckt von leeren Flößen oder Floßteilen, ein wahrer Friedhof. Ich muss mich zwingen, mir die Szenerie anzusehen, man könnte meinen, ein Schlachtfeld. Manolo sagt, so was hätte er nicht einmal in Angola erlebt, und tatsächlich treiben dort so viele Leichen, dass man sie unmöglich zählen kann. […]
Jemand sagt, einer der Körper im Wasser würde sich bewegen. Wir denken, da lebt einer noch, aber dann stürzen sich die Haie auf ihn. Die Panik, die mich überfällt, sprengt alle Grenzen der Verzweiflung. Dinky kann nicht mehr, sein Gesicht verzerrt sich, und dann stößt er einen ohnmächtigen Schrei aus. Ich sage nichts, nehme mir ein Ruder, das im Wasser schwimmt, und rudere los, um von dieser Stelle wegzukommen, die anderen tun dasselbe. Niemand weiß, in welche Richtung es geht. Es interessiert uns auch nicht. Wichtig ist allein, von hier zu fliehen, egal ob wir ankommen oder zurückkehren. Das Einzige, was uns antreibt, ist, uns zu retten." (Ángel Santiesteban: Wölfe in der Nacht)
Jemand sagt, einer der Körper im Wasser würde sich bewegen. Wir denken, da lebt einer noch, aber dann stürzen sich die Haie auf ihn. Die Panik, die mich überfällt, sprengt alle Grenzen der Verzweiflung. Dinky kann nicht mehr, sein Gesicht verzerrt sich, und dann stößt er einen ohnmächtigen Schrei aus. Ich sage nichts, nehme mir ein Ruder, das im Wasser schwimmt, und rudere los, um von dieser Stelle wegzukommen, die anderen tun dasselbe. Niemand weiß, in welche Richtung es geht. Es interessiert uns auch nicht. Wichtig ist allein, von hier zu fliehen, egal ob wir ankommen oder zurückkehren. Das Einzige, was uns antreibt, ist, uns zu retten." (Ángel Santiesteban: Wölfe in der Nacht)