Sehnsucht nach Unabhängigkeit
Kaum Geld, wenig Raum für Kritik: Theater zu machen ist in Kuba noch immer nicht leicht. Regisseurin Nelda Castillo zeigt mit ihrem Ensemble "Der verzauberte Hirsch", wie kreativ und kritisch die Szene trotzdem sein kann.
Eine als ordinäres Sexobjekt aufgemachte Handelsvertreterin versucht Kubanern Reisen auf ihrer Insel schmackhaft zu machen. Sie ist ein Produkt der neuen Ökonomie, der Arbeit auf eigene Rechnung und unternimmt ihre Tätigkeit im Schutz der Brüder Castro, wie einem Plakat zu entnehmen ist, und einer afrikanischen Gottheit. Das Problem ist nur: Die Insel ist geteilt – in eine "sozialistische Republik des kubanischen Peso" und eine "kapitalistische Republik des CUC". So ist auf einer riesigen Landkarte zu lesen. Der CUC ist die dem Dollar entsprechende Touristen-Währung, mit Peso entlohnt der Staat seine Angestellten, wofür diese sich aber eigentlich nichts kaufen können. Also bietet sie alle möglichen Tricks an, damit der Peso-Kubaner sich CUC-Vergnügen leisten kann. Eine Satire auf Schwarzmarkt und Doppelmoral - wie sie selten ist auf der kubanischen Bühne.
Drang nach Unabhängigkeit, Freiheit, Identität
"Cubalandia" heißt die Performance von Nelda Castillo. Die 60-jährige Tänzerin, Theaterregisseurin und -pädagogin hat vor 20 Jahren in Havanna ein eigenes Ensemble gegründet: "El ciervo encantado" ("Der verzauberte Hirsch"). Der seltsame Name bezieht sich auf eine mythische Figur der kubanischen Befreiungskriege des 19. Jahrhunderts und verkörpert den Drang nach Unabhängigkeit, Freiheit und Identität. Und einen eigenen Weg abseits des konventionellen, wortlastigen, realitätsbetonten Theaters in Kuba hat Nelda Castillo von Anfang an gesucht.
"Ich arbeite nicht mit fertigen Theaterstücken, sondern gehe von literarischen Vorlagen aus, einem Gedicht, einer Erzählung, einer Zeitungsnachricht oder auch einem Roman und erforsche das Werk mit dem Schauspieler auf der Bühne. Das setzt ein spezielles Training des Körpers voraus, das ich in vielen Jahren entwickelt habe, um die in ihm steckende Erinnerung, Vergangenheit, Geschichte herauszuholen. So entstehen allmählich meine Werke."
Nelda Castillos performatives Theater ist einzigartig in Kuba: experimentell, expressiv, körperbetont, multimedial, versetzt mit vielen tänzerischen und musikalischen Elementen. Eine politisch engagierte Theater-Avantgarde.
30 Dollar im Monat: ein Spitzengehalt
"Seit einigen Jahren interessiert mich zunehmend die Gegenwart, der wir ständig ausgesetzt sind. Denn wir müssen auch als Theaterleute Antworten finden auf die Veränderungen, auf die neuen Herausforderungen. Ich denke aber, dass die wirkliche Veränderung bereits in den Neunzigerjahren stattgefunden hat, nach dem Fall der Mauer, als die Sowjetunion die Hilfe einstellte und in Kuba der Notstand ausbrach. Damals begann die Dollarisierung der Wirtschaft und die heutige Ungleichheit. Um einigermaßen über die Runde zu kommen, braucht man seither Devisen, aber die Regierung bezahlt uns mit Peso."
Solche Zusammenhänge stellt Nelda Castillo in ihre Inszenierungen her. Sie hat sich im Laufe ihrer Karriere ein eigenes Theater mit 120 Plätzen erobert und muss nicht jedes Mal - wie viele andere Gruppen - mühsam nach einer Spielmöglichkeit suchen. "Der verzauberte Hirsch" wird - wie die gesamte Theaterszene - vom Staat subventioniert. Doch was heißt das, wenn der nur Pesos zahlt?
"Ein Spitzengehalt, wie ich es verdiene, das sind umgerechnet 30 Dollar im Monat. Doch für Peso kann ich weder Schminke noch Stoffe kaufen. Ich kann sehr wohl vom "Nationalrat für die szenischen Künste" Materialien verlangen, wenn ich gewillt bin, dessen gigantische Bürokratie zu durchlaufen und in 90 Prozent aller Fälle zu hören: Die haben wir nicht. Also versuchen wir für die wenigen Dollars, an die wir kommen, Material im Ausland zu beschaffen. Deshalb sehen unsere Produktionen so bescheiden aus."
Kritik beschränkt sich auf Witzeleien und kritische Bemerkungen
Obwohl Nelda Castillos Gruppe zu den engagiertesten Ensembles gehört, hat sie bisher keine Schwierigkeiten mit der Zensur gehabt, denn Kritik gehört heute fast zum guten Ton auf dem kubanischen Theater. Doch sie beschränkt sich meist auf Witzeleien oder auf kritische Bemerkungen, die auch offizielle Medien verbreiten. An die Ursachen wagen sich die Wenigsten, denn sie können leicht abgestraft werden wie der Theaterregisseur Juan Carlos Cremata. Er hat vor einigen Wochen Ionescos alten Hit "Der König stirbt" inszeniert. Zwei Tage durfte das Stück gezeigt werden, dann wurde es verboten.
"Wir haben zuerst in einem kleinen Raum geprobt. Als wir das Ganze dann auf die große Bühne brachten, stellten wir fest, dass wir den Thron auf ein Podest bauen mussten, damit der König und auch sein vorgesehener Sturz besser sichtbar wurden. Bei der Aufführung merkte ich, dass das Publikum darin den Sturz Fidel Castros sah."
Deshalb begnügte sich das Theaterinstitut nicht mit der Absetzung, sondern verordnete die Auflösung des gesamten Ensembles und verhängte außerdem ein Berufsverbot gegen Juan Carlos Cremata wegen "Beleidigung von Autoritäten". Einer der bekanntesten kubanischen Regisseure hatte wohl an ein Tabu gerührt, denn in Kuba gibt es nun mal nur einen König, der sterblich ist.