Kühner als ein Löwe

Von Vanessa Loewel |
Es wird gesagt, dass Anne Boleyn die Königin gewesen sei, die Englands Geschichte am meisten beeinflusst hat. Sie war die zweite der insgesamt sechs Frauen von Heinrich VIII. Für sie hat sich der englische König von der katholischen Kirche getrennt und gründete die Anglikanische Kirche.
Ihr Geist soll noch heute durch den Tower von London spuken. Sie soll sechs Finger gehabt haben und drei Brüste. Unzählige dunkle Legenden ranken sich um Anne Boleyn, die schon zu Lebzeiten ein Mythos war.

Ihr Gefängniswärter Sir William Kingston beschreibt sie kurz vor ihrer Hinrichtung:

Und dann sagte sie: 'Ich habe gehört, dass der Scharfrichter sehr gut sein soll, ich habe einen kleinen Hals', und von Herzen lachend fasste sie mit der Hand daran. Ich habe schon viele Männer und Frauen bei ihrer Hinrichtung erlebt, und alle sind in großer Angst gewesen, aber meines Wissens hat diese Dame viel Freude und Vergnügen am Tod.

Noch auf dem Weg zum Schafott hat Anne Boleyn ihre Schlagfertigkeit behalten. Am 19. Mai 1536 lässt Heinrich VIII. sie enthaupten - die Frau, um deren Gunst er jahrelang gekämpft hat.

Als Heinrich VIII. sich in Anne Boleyn verliebt ist sie Mitte zwanzig. Die Hofdame seiner Frau, Königin Katharina, ist musisch begabt, gebildet und berüchtigt für ihren Witz. Sie kleidet sich auffällig nach der neuesten Mode am französischen Hof, wo sie eine Zeit lang erzogen wurde. Der englische König ist fasziniert von ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Eleganz. Seiner Mätresse, Annes Schwester Mary, ist er überdrüssig. Flehende Liebesbriefe schreibt er an Anne Boleyn:

Ich bitte Euch daher von ganzem Herzen, mir, was die Liebe zwischen uns beiden angeht, Eure ganze Absicht kundzutun. Diese Antwort zu verlangen, zwingt mich die Notwendigkeit, da ich seit über einem Jahr vom Pein der Liebe verwundet bin und nicht weiß, ob ich scheitern oder einen Platz in Eurem Herzen und Eurer Liebe finden werde.
Anders als ihre Schwester weist sie die Avancen des Königs ab - eine unerhörte, mutige Reaktion. Anne Boleyn möchte keine auswechselbare Mätresse werden, sondern Königin. Mit der Begründung, er sei schließlich mit Katharina von Aragon verheiratet, hält sie den König hin und entfacht damit nur noch mehr seine Leidenschaft:

Wenn Ihr mir aber eine wirklich getreue Gebieterin und Freundin sein und Euch mit Leib und Seele mir schenken wolltet, der ich Euer sehr getreuer Diener gewesen bin und sein werde, wenn es Eure Hartherzigkeit nicht verbietet, so verspreche ich Euch, dass Ihr nicht nur dem Namen nach eine Herrin sein sollt, sondern dass ich Euch zu meiner einzigen Herrin nehmen und alle anderen, die Euch diesen Titel streitig machen wollten, aus meinen Gedanken und meiner Zuneigung verbannen werde, um nur Euch allein zu dienen.

Heinrich VIII. versucht, beim Papst seine Ehe mit Katharina annullieren zu lassen - vermutlich nicht nur aus Leidenschaft, sondern auch aus dynastischen Gründen: Katharina hat dem König in 20 Jahren zwar eine Tochter geschenkt, aber immer noch nicht den dringend erwarteten Thronfolger.

Obwohl sich für eine Trennung mit kirchlichem Segen sicherlich eine Begründung gefunden hätte, verweigert der Papst in diesem Fall seine Zustimmung. Er steht unter dem Einfluss von Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Neffe der Königin Katharina. Jahrelang wird zwischen London und Rom verhandelt, ohne Erfolg. Währenddessen verdrängt Anne Katharina immer weiter vom Thron. Ein Zeitzeuge schreibt 1531:

Sie wird mit jedem Tag stolzer und kühner in ihren Worten und ihrer Haltung gegen den König. Die Dame ist kühner als ein Löwe.

Katharina wird schließlich auf entlegene Schlösser abgeschoben. 1532 entscheidet Heinrich VIII. den Streit mit der katholischen Kirche eigenmächtig: Er sagt die englischen Christen vom Papst los, macht sich selbst zum Oberhaupt der englischen Kirche - und heiratet Anne Boleyn.

Am 1. Juni 1533 wird sie, bereits sichtbar schwanger, zur Königin von England gekrönt. Doch statt des erhofften Thronfolgers, bringt Anne Boleyn ein Mädchen zur Welt. Der König verliert nach nur drei Jahren Ehe das Interesse an der mittlerweile 36-Jährigen, die das Opfer einer Intrige wird: Gerüchte werden gestreut, sie sei dem König untreu. In einem Schauprozess wird sie wegen Hochverrats und Ehebruchs mit fünf Männern verurteilt. Kurz nach ihrer Hinrichtung heiratet Heinrich VIII. die Hofdame Jane Seymour: die dritte seiner insgesamt sechs Ehefrauen. Eine Thronfolgerin hat Anne Boleyn allerdings doch geboren: Ihre Tochter Elizabeth wird mehr als 40 Jahre als Königin über England herrschen.